Medien im Kampfmodus
Gerade passiert, was seit geraumer Zeit allenfalls Alptraumgespinste waren: Es herrscht Krieg in Europa. Wie konnte es dazu kommen? Wer hat warum welche Fehler gemacht? Glaubt man dem Mainstream der »westlichen« Medien und Politik, gibt es da einen »durchgeknallten« Autokraten mit neuen/alten Weltmacht-Ambitionen, der nun alles auf eine Karte setzt und buchstäblich »russisch Roulette« spielt. Alles oder nichts – was unter den gegebenen Umständen in Wahrheit identisch ist: Am Ende wird alles – die Menschheit, die Erde – ins Nichts gebombt.
Ist das eine zutreffende Beschreibung? Nein! Ist hier und jetzt das »Gute« – Demokratie, Freiheit, Menschenrechte – durch das »Böse« bedroht? Ja und nein! Die Dinge sind, wie so oft, komplexer, als es die Schlagzeilen der Gazetten und die Parolen der Politiker (und Politikerinnen) gern hinausposaunen.
Darüber aufzuklären, ist, in aller Bescheidenheit, auch diese Zeitschrift da. Deshalb hielten und halten wir es für nötig darauf hinzuweisen, dass kein friedensstiftender Segen darauf liegt, Russland immer weiter »an die Wand« zu drücken, dass es ein Irrglaube ist, zu meinen, mehr Waffen würden »unsere« Sicherheit erhöhen. Das nun wieder beschworene »Gleichgewicht des Schreckens« entbehrt jeder humanen und historischen Ratio. Es folgt allerdings einer kapitalistischen Logik, denn ein Waffengang sichert auch Karrieren, Einkommen und Profite; natürlich nur für diejenigen, die nicht selbst daran teilnehmen müssen, sondern ihn organisieren und befehligen. Aber jeder Waffe, so viel sollte klar sein, sind die Anwendungsabsicht und ein Vernichtungswille gewissermaßen eingeschrieben, Herstellung und Proliferation sind bereits Teil des Krieges.
In diesem Sinne sind »wir« längst Kriegspartei – im Ukraine-Krieg wie in vielen anderen Konflikten. Und viele Medien, anstatt differenzierend zu mäßigen, sortieren aktuell, forsch eskalierend, nach Freund und Feind zackig mit. Dabei ist völlig unbestritten, wer in der gegenwärtigen Situation der Aggressor ist. Mit seinem Angriffskrieg überzieht der russische Präsident die Ukraine mit Leid und Vertreibung, Zerstörung und Tod. Dieses Verbrechen ist durch nichts zu rechtfertigen, auch nicht durch den Hinweis, dass die Nato vor nicht allzu langer Zeit im Falle des Kosovo ganz ähnlich agiert hat wie heute Russland. Wenn eine »Untat« jede andere ins Recht setzte, entsteht nahezu zwangsläufig eine Gewaltspirale, die den langerkämpften Frieden in ganz Europa und weltweit bedroht. Dagegen sollten wir, die Medien, anschreiben und unter allen Umständen zu vermeiden suchen, auch noch Öl ins Feuer zu gießen.
Doch die Erregungssehnsucht scheint übermächtig. Ich betreibe seit 30 Jahren politische Publizistik, aber eine Situation wie diese, beginnend mit der »Corona-Debatte« und sich in der Ukraine-Tragödie weiter verschärfend, habe ich noch nie erlebt. Über viele Themen wurde in den vergangenen Jahrzehnten heftig (und zurecht) gestritten: über Wiederbewaffnung, Frauenrechte oder Auslandseinsätze der Bundeswehr, über Fremdenfeindlichkeit, Klimawandel oder Einwanderungspolitik. Dabei ging es längst nicht immer zimperlich zu, aber es war stets ein Ringen um die »richtige« Position, mindestens in Ansätzen. Das ist aktuell anders. Heute, scheint mir, gibt es keine »Grautöne« mehr, es gibt nur noch schwarz oder weiß, Freund oder Feind, »like« oder »dislike«. Auch die Medien leisten nicht mehr in erster Linie Aufklärung, sie liefern auch kaum noch Erklärungen, sondern nehmen lieber gleich Partei.
Das hat irre Folgen. Ich bringe doch kein Verständnis für die russischen Gräuel in der Ukraine auf, wenn ich Dostojewski lese, wenn ich in München oder anderswo als Russe Musik mache, wenn ich russische Behindertensportler an den Paralympics oder russische Kinderbuchverlage an der Buchmesse in Bologna teilnehmen lasse. Wir erleben hier eine moralische Hysterisierung, die jeder friedlichen Lösung geradezu entgegensteht.
Und der Irrsinn setzt sich im Politischen fort, ebenfalls sekundiert, statt kontrolliert durch die »Vierte Gewalt«. Hat der russische Präsident »gelogen« – so das Urteil der deutschen Außenministerin, des französischen Präsidenten und nahezu aller journalistischen Kommentatoren –, wenn er bis kurz vor dem Angriff auf die Ukraine beteuerte, keinen Krieg zu wollen? Vielleicht hat er, vielleicht hat er nicht. Das ist journalistisch von keinerlei Relevanz. Moralisierende Küchenpsychologie. Hat die Nato gelogen, als sie der sich auflösenden Sowjetunion zusicherte, sich nicht weiter nach Osten auszudehnen? Haben Herr Scholz und Frau Baerbock uns wissentlich getäuscht, als sie noch kurz nach dem russischen Einmarsch unmissverständlich erklärten, auch im Falle der Ukraine an dem Grundsatz festzuhalten, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern? Hat Herr Lindner gelogen, als er den Wählern versprach, den Staatshaushalt zu sanieren und die Staatsverschuldung weiter abzubauen, nun aber plötzlich kein Problem damit hat, den Militärhaushalt mit 100 Milliarden Euro zu »boostern«? Belügen uns die Grünen seit Jahren, wenn der Ex-Parteivorsitzende und jetzige Minister Habeck die höheren Militärausgaben rechtfertigt, weil »die Sicherheit im Zweifel wichtiger als die Umwelt« sei – und damit gleich doppelt die Gründungsidee der Friedens- und Umweltpartei konterkariert?
Selbstverständlich kann ich die Fragen nicht mit Bestimmtheit beantworten, möchte aber empfehlen, mit derlei »moralischen« Verdikten etwas umsichtiger umzugehen und zu bedenken geben: Ist es nicht eher so – wie in unser aller Leben –, dass man hin und wieder gezwungen ist, eigene Grundsätze im Lichte veränderter Bedingungen anzupassen? Das nennt man im Allgemeinen »Lernen«.
Nun möchte ich die genannten Beispiele wahrlich nicht als Lernfortschritte werten. Und selbstverständlich ist es nicht dasselbe, wenn unterschiedliche Menschen das Gleiche tun. Es geht mir lediglich darum, dafür zu werben, auch im Zustand – berechtigter – Erregung nicht vollends den Verstand zu verlieren.