Tödliche Medizin
Merck, Sharp & Dohme (MSD) ist ein US-amerikanisches Pharmaunternehmen aus New Jersey, das auf den Darmstädter Pharmakonzern E. Merck (heute Merck KGaA) zurückgeht und weltweit etwa 71.000 Beschäftigte hat. Auf der deutschen Homepage des Unternehmens heißt es: »MSD ist eines der weltweit führenden forschenden Gesundheitsunternehmen. Wir erforschen, entwickeln und produzieren Arzneimittel und Impfstoffe, die Menschen und Tiere gesünder machen und ihnen ein besseres Leben ermöglichen sollen.«
Eine deutsche Niederlassung des Pharmaunternehmens, die Vet Pharma Friesoythe GmbH aus Niedersachsen, steht indes nun im dringenden Verdacht, diese hehren ethischen Werte des Unternehmens mit Füßen getreten zu haben, wie im Sommer 2018 Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung ergeben haben. Demnach werden Monat für Monat über Bremerhaven tonnenweise Tierarzneimittel der Vet Pharma in alle Welt verschifft. Dabei soll es auch zu illegalen Exporten in die USA gekommen sein, was die Staatsanwaltschaft Oldenburg auf den Plan gerufen hat. Sie ermittelt wegen möglicher Verstöße gegen die EU-Folterrichtlinie und das Außenwirtschaftsgesetz. Mitarbeiter der Vet Pharma stehen im Verdacht, mehrere Tonnen des Tierarzneimittels Beuthanasia-D unter Umgehung der strengen Ausfuhrbestimmungen in die USA verschifft zu haben. Beuthanasia-D wird vor allem dazu verwendet, Hunde einzuschläfern. Das Mittel wird Tieren in die Vene gespritzt und soll eine schmerzfreie und schnelle Euthanasie garantieren. Der Haupt-Wirkstoff des Mittels, Pentobarbital, wird in den USA aber auch in Gefängnissen als eines von mehreren tödlichen Giften eingesetzt, um Menschen damit hinzurichten. Bei dem Hersteller und alleinigen Belieferer für US-Justizvollzugsanstalten von Thiopental, dem Unternehmen Hospira, kommt es seit 2010 zu Lieferengpässen, worauf Hinrichtungen mit der Giftspritze in neun Bundesstaaten zeitweise ausgesetzt werden mussten. Und im Dezember 2011 trat eine EU-weite einheitliche Ausfuhrgenehmigungspflicht für Thiopental und alle weiteren kurz- und mittelfristig wirkenden Barbiturate in Kraft, weshalb ein Export aus der EU seitdem nur noch mit einer Sondergenehmigung möglich ist.
Die Staatsanwaltschaft Oldenburg hat deshalb Anklage gegen mehrere Personen aus dem Umfeld der Vet Pharma erhoben, und im vergangenen Mai hat das Oberlandesgericht Oldenburg die Anklage zugelassen (OLG Oldenburg, 1 Ws 71/21), nachdem das zuvor vom Landgericht Oldenburg abgelehnt worden war.
Nach den Veröffentlichungen von NDR und Süddeutscher Zeitung fand im September 2018 vor den Werkstoren der Vet Pharma in Friesoythe eine gewaltfreie Aktion statt, in deren Verlauf Aufrufe zum Whistleblowing an die Beschäftigten des Unternehmens verteilt wurden. In den Flugblättern wurden sie über die vorgenannten Vorwürfe gegen ihren Arbeitgeber informiert und dazu aufgefordert, die Öffentlichkeit über die Hintergründe der in Rede stehenden illegalen Exportpraxis der Vet Pharma zu informieren. In der Folge wurden die Flyer von der Polizei beschlagnahmt, und das Amtsgericht Cloppenburg verurteilte einen Angeklagten zu einer Geldstrafe wegen der Aufforderung zum Verrat von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.
Nur wenige Wochen nach der Verteilung der Flyer kam es per E-Mail zu einer Anfrage des Zollfahndungsamtes Bremerhaven, in der es heißt: »Auf Umwegen haben wir Kenntnis von Ihrem ›Aufruf zum Whistleblowing‹ erfahren. Wir bitten Sie, sich unmittelbar mit uns in Verbindung zu setzen, sobald Ihnen eine Person bekannt ist, die möglicherweise sachdienliche Hinweise als Zeuge im Verfahren geben kann.« Im Mai 2019 hat das Oberlandesgericht Oldenburg das Urteil des Amtsgerichts Cloppenburg aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen. In dem Urteil heißt es unmissverständlich: Der inzwischen in Kraft getretene »§ 23 des Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG) stellt das Verhalten, zu dem der Angeklagte in den von ihm verteilten Flugblatt aufgefordert hat, nicht unter Strafe«, weil eine Offenlegung von Geschäftsgeheimnisse dann geboten sei, wenn sie der »Aufdeckung einer rechtswidrigen Handlung oder eines beruflichen oder sonstigen Fehlverhaltens (diene), sofern die Offenlegung geeignet ist, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen. Dies ist vorliegend der Fall« (OLG Oldenburg, 1 Ss 72/19).
Wegen der Aufrufe zum Whistleblowing sind bei den Verwaltungsgerichten Oldenburg und München indes noch immer drei Klagen anhängig, die wohl in Kürze öffentlich verhandelt werden.
»Wir streben danach, die Menschen gesünder zu machen – und ihnen so zu einem besseren Leben zu verhelfen«, heißt es auf der Homepage der Merck, Sharp & Dohme GMBH (MSD). Den beiden Geschäftsführerinnen, Chantal Friebertshäuser und Jutta König, möchte man da die Worte von Santiago Martinez aus seinem »Brief an die Einsamkeit« zurufen, den er als zum Tode Verurteilter im kalifornischen San Quentin State Prison geschrieben hat: »Also, komm, Einsamkeit, es sind nur ich und du und meine Gedanken! Und hey, wenn noch jemand kommt und sich zu uns gesellt, kann es nur ein Vorteil sein!« Vielleicht besuchen Frau Friebertshäuser und Frau König im übertragenen Sinne Santiago Martinez einmal, indem sie dafür Sorge tragen, dass die strafrechtlichen Vorwürfe gegen ihre Beschäftigten aufgedeckt werden und künftige Verstöße des Unternehmens gegen die EU-Folterrichtlinie für immer ausgeschlossen bleiben.
Friedrich Jacob Merck, der Gründer der Engel-Apotheke im 17. Jahrhundert, die den Grundstein für die pharmazeutischen Unternehmen Merck KGaA und MSD bildet, würde sich ganz bestimmt darüber freuen!