Ein literarisches Mammutwerk
Vor 150 Jahren war Frankreich nach der militärischen Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und der gewaltsamen Niederschlagung der Pariser Kommune bis ins Mark erschüttert. In diesen bewegten Monaten, im Sommer 1871, veröffentlichte der französische Schriftsteller Émile Zola (1840-1902) mit »Das Glück der Familie Rougon« den ersten Band seines monumentalen zwanzigbändigen Zyklus »Die Rougon-Macquart – Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich«. In seinem Vorwort, das mit »Paris, am 1. Juli 1871« datiert ist, erläuterte er sein Vorhaben: »mit den persönlichen Dramen der Familie Rougon-Macquart die Geschichte des Zweiten Kaiserreichs, von der Hinterhältigkeit des Staatsstreichs Napoleon Bonapartes bis zum Verrat von Sedan« zu schildern. Als der Auftaktroman erschien, war das Kaiserreich jedoch schon Geschichte. Bis 1893 ließ der ungeheuer diszipliniert arbeitende Zola im Jahrestakt die weiteren Romane dieses präzisen Sittenbildes der französischen Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts folgen. Nebenher arbeitete der politische Zola auch noch für Tageszeitungen.
Über drei Jahre hatte Zola Dokumente und Material zu dem ehrgeizigen Großprojekt gesammelt. In seinem bereits 1869 aufgestellten Plan, den Zola seinem Verleger Albert Lacroix vorlegte, hatte er den Zyklus zunächst auf zehn Romane konzipiert und bereits den Stammbaum der Familienzweige festgelegt. Auch wenn der Schauplatz der handelnden Personen und ihr Auftreten im Einzelnen noch nicht festgelegt waren, hatte Zola hier bereits ihre Lebensdaten und Charakteristiken fixiert. Zola, medizinisch-naturwissenschaftlich interessiert, war außerdem bestrebt, die Arbeitsmethode des Romanschriftstellers einer naturwissenschaftlichen anzugleichen. »Geleitet von physiologischen Entdeckungen« wollte er »in einer Familie die Fragen der Veranlagung und des Milieus studieren«. Als ein Hauptvertreter des literarischen Naturalismus verfolgte Zola das Ziel, neueste naturwissenschaftliche Erkenntnisse – wie die Vererbungslehre oder die Milieutheorie – in sein Werk einfließen zu lassen. So gibt es trotz aller Anstrengungen für seine Figuren kein Entrinnen aus ihrem sozialen Milieu oder ihrer erblichen Veranlagung. Bei der weiteren Ausführung seines Projektes rückte Zola jedoch immer weiter von den pseudowissenschaftlichen Vorgaben ab, stattdessen traten sozialkritische Aspekte stärker in den Vordergrund. Die Wirklichkeit setzte sich durch, und die späteren Romane – wie »Der Totschläger« (1877), »Germinal« (1885) oder »Die Erde« (1887) – wurden umso realistischer und künstlerisch wirksamer. Die in diesen Romanen dargestellten Verhältnisse entsprechen daher auch mehr den aktuellen Umständen als der Periode Napoleons III., in der die Romane eigentlich angesiedelt sind.
Über mehrere Generationen verfolgte Zola das Schicksal der Familien Rougon und Macquart, was ihm ermöglichte, ein breitgefächertes Panorama der verschiedensten Schichten und Berufsgruppen zu entwerfen. Alle Schichten der Gesellschaft sind vertreten: Napoleonisten und Republikaner, Adel, Bürgertum und Klerus. Kaum ein Beruf oder ein Milieu bleiben unberücksichtigt – vom Minister bis zum Fischhändler, von der Waschfrau bis zur Prostituierten. Zola recherchierte fast journalistisch vor Ort: in den Kohlerevieren und in Lourdes, in den Bordellen und an der Börse, in Mietskasernen oder im Kaufhaus, was ihm den Beinamen »literarischer Ingenieur« einbrachte. Er entführte seine Leserschaft in dröhnende Werkhallen, Bahnhöfe, Dockanlagen,
Theater, Kauf- und Krankenhäuser, in die modernen Zweckbauten aus Stahl und Glas. Dieser dokumentarische Charakter seiner Romane, in die Zola aber auch ohne Bedenken Melodramatisches, Pathos oder Kitsch einbaute, ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Kunst.
Der Auftaktroman »Das Glück der Familie Rougon« basiert zum Teil auf wahren Begebenheiten. Beschrieben werden die Ereignisse um den Staatsstreich Napoleons III., Sohn von Louis Bonaparte und Abgott der kleinen Bürger, im Dezember 1851 in der Kleinstadt Plassans in Südfrankreich. Mit der Auflösung der Nationalversammlung und der Verhaftung politischer Gegner setzt er der Republik ein Ende; die Wiedererrichtung des Kaiserreichs ein Jahr später wird danach nur noch eine Formsache sein. Außerdem gibt Zola hier einen detaillierten Überblick zur Herkunft und Vorgeschichte der Familie Rougon. Der Roman ist gewissermaßen die Keimzelle des Zyklus, denn ein Großteil der Familienmitglieder, die in den späteren Romanen agieren, wird hier vorgestellt. Kunstvoll wie in keinem anderen Roman hat Zola in »Das Glück der Familie Rougon« die menschlichen Schicksale und die historischen Ereignisse miteinander verwoben. Das Provinzstädtchen Plassans wird zu einem Brennspiegel, in dem die Geschicke der Nation und einer Familie verschmelzen.
Die Einzelromane des Zyklus erreichten durchweg Rekordauflagen. Besonders erfolgreich war der 19. Band »Der Zusammenbruch« (1892), in dem sich Zola mit dem Deutsch-Französischen Krieg und dem politischen und militärischen Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs auseinandersetzte.
Mit seinem ehrgeizigen »Rougon-Macquart«-Projekt schaffte es Zola, zum bedeutendsten französischen Schriftsteller seiner Generation und zur zentralen Figur des europäischen Naturalismus zu avancieren. Erfüllt vom Geist eines fortschrittlich-humanitären Sozialreformers beeinflusste er die nachfolgenden Schriftstellergenerationen. Obwohl in seinen letzten Lebensjahren die Literatur des Symbolismus und der Dekadenz mit ihrem »antinaturalistischen« Charakter die Oberhand gewann, traten Henrik Ibsen, August Strindberg, Gerhart Hauptmann oder Maxim Gorki in seine Fußstapfen. Doch Zola hat nicht nur das soziale Gewissen seiner Zeit wachgerufen, auch nach 150 Jahren ist der Ruf nach Gerechtigkeit immer noch untrennbar mit seinem Werk verbunden.
Die erste deutsche Gesamtausgabe von Zolas »Rougon-Macquart«-Romanzyklus wurde von der bekannten Romanistin und Literaturwissenschaftlerin Rita Schober (1918-2012) im Ost-Berliner Verlag Rütten & Loening von 1952 bis 1976 meist in Neuübersetzungen herausgegeben. Jeder Band war zudem mit einem umfangreichen Nachwort der Zola-Spezialistin versehen. Bis heute ist die Ausgabe ein Klassiker.