Was ist Deutschland, wie groß ist Deutschland, ist Deutschland das größte Land in Europa, wer ist Deutscher? – Viele Eltern bekommen solche Fragen von ihren Kindern gestellt. Doch was antwortet man darauf? Sachlich betrachtet ist Deutschland ein Nationalstaat, der flächenmäßig drittgrößte in Europa, und Deutscher ist, wer einen deutschen Pass besitzt. So leicht, so gut. Oder nicht?
Nein, weil Deutschland eben nicht eine Staatsbürgernation im Sinne einer Bekenntnisnation ist, wie sie Ernest Renan einst umschrieb, sondern immer noch jene imaginierte, ethnisch geprägte Gemeinschaft, bei der der subjektive Gemeinschaftsglaube Grundlage der empfundenen Zugehörigkeit zur Ethnonation ist. Ein Bekenntnis zur Nation reicht hierzulande nicht, der ethnisch geforderte Hintergrund ist der zentrale Faktor. Bis heute entscheidet die ethnisch gefühlte Verbundenheit allzu häufig über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit.
Parallel zu diesem ethnisch geprägten Nationenkonstrukt und dem damit einhergehenden Abstammungsglauben, der einen homogenen Nationalstaat fantasiert, katalysieren revisionistische, antisemitische und rassistische Einstellungen eine sich fragmentierende Gesellschaft entlang ethnischer Linien: Die einen gehören zur vermeintlichen Abstammungsgemeinschaft und die anderen eben nicht.
Entsprechende Aussagen hören wir immer häufiger im öffentlichen Diskurs; auch von Abgeordneten aus den Parlamenten. Die Grenzen des Sagbaren haben sich dabei deutlich nach rechts verschoben.
Nach Angaben der Bundesregierung haben rechte Gewalt und Straftaten 2020 weiter zugenommen. Nach vorläufigen Polizeiangaben beläuft sich die Zahl der von Rechtsextremisten verübten Straftaten im vergangenen Jahr auf 23.080, darunter 1.054 Gewalttaten. Gegenüber dem Jahr 2019 sind die Straftaten um 700 und die Gewalttaten um 68 angestiegen. 307 Personen wurden dabei verletzt und neun Menschen getötet – es sind die Opfer des Anschlags in Hanau. Wir haben ein zunehmendes Rechtsextremismus-Problem.
Noch 2006 wurde hierzulande mit dem Slogan »Du bist Deutschland« im Vorfeld zur Fußballweltmeisterschaft eine Art »Gute-Laune-Nationalismus« beworben. Kinder sozialisieren sich mit nationalstaatlich geprägten Konstrukten, und auch darüber hinaus sehen wir uns immer wieder mit solchen Denkmustern konfrontiert – ein lebenslanges Lernen in nationalen Kategorien. Auch in der gern so bezeichneten Flüchtlingskrise – die Oskar Negt als Gesellschaftskrise bezeichnet – hat man in nationalstaatlichen Kategorien unterschieden zwischen »gutem« und »schlechtem« Flüchtling. »Gute« Geflüchtete waren meist Menschen aus Syrien oder aus dem Irak – »schlechte« zum Beispiel aus dem von Unruhen geplagten Sudan; jene, ohne Bleibeperspektive.
Unser Alltag ist geprägt von Gegebenheiten, die einen nationalstaatlichen Gemeinschaftsglauben am Leben halten. Dieser verhindert einen längst überfälligen Postnationalismus, in dessen Rahmen wir nicht länger eine Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit von nationalstaatlichen Konstrukten abhängig machen. Solches Denken ist Nährböden für die Abwertung von Menschen oder Personengruppen, die nicht dazugehören. Sozialisations- und Lernprozesse müssen sich verändern. Schule, Aus-, Fort- und Weiterbildung müssen im Rahmen einer historisch-politischen Bildung die subjektiven Konstrukte solcher Sinnbildungen verständlich machen. Unsere Heimat gehört keiner imaginiert homogenen Gemeinschaft. Deutschland, das sind alle, die hier leben – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Aussehen oder Religion, wie es unser höchstes Gesetz, die Verfassung, auch verbindlich vorschreibt.