Homeschooling
Unser Bildungssystem gilt als selektiv und fördert soziale Disparitäten. Die PISA- und IGLU-Studien haben seit den 2000er Jahre die Diskussionen über Chancenungleichheiten im Bildungssystem maßgeblich befördert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus Akademikerfamilien einen hohen Bildungsabschluss erwerben, ist demnach sehr viel höher als bei Kindern aus Nichtakademikerhaushalten. Damit trägt das Schulsystem dazu bei, dass sich soziale Ungleichheiten über Generationen hinweg reproduzieren.
Die Corona-Pandemie verschärft diese Ausprägungen von sozialen Disparitäten und deren Reproduktion. In Zeiten von Homeschooling sind Schulkinder sehr viel stärker noch von der sozialen, kulturellen und ökonomischen Herkunft ihrer Eltern abhängig. So müssen Kinder im Rahmen des »virtuellen Lernens« einen funktionstüchtigen Internetzugang haben, sie benötigen einen Arbeitsplatz zu Hause und, vor allem die jüngeren Kinder, die Unterstützung ihrer Eltern.
Der kleine Luca, der in die zweite Klasse einer Grundschule geht, erlebt mittlerweile bereits zum zweiten Mal einen Lockdown inklusive Video-Konferenzen und Telefonaten mit Lehrkräften und dem Homeschooling-Lern-Programm. Die Eltern von Luca befinden sich im Homeoffice; arbeiten in nicht systemrelevanten Berufen. Luca hat einen kleinen Bruder, der unter normalen Umständen im Kindergarten betreut wird. Auch er muss wie Luca aufgrund der Pandemie zu Hause bleiben. Luca hat noch Glück: Seine Eltern sprechen die geforderte (Bildungs-)Sprache und sind in der Lage, Luca zu unterstützen und zu begleiten. Sie drucken fleißig Arbeitsaufträge aus, die ihnen die Lehrkräfte per E-Mail zusenden, lesen die Aufgaben vor und besprechen sie mit Luca – jeden Tag, an fünf Tagen die Woche.
Lucas Vater arbeitet Vollzeit und seine Mutter halbtags. Gemeinsam müssen sie auf eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 60 Stunden kommen, um ihrem Arbeitskontrakt zu erfüllen. Das bedeutet, dass immer einer der beiden arbeitet, während der andere sich um die Kinder kümmert. Ein paralleles Arbeiten ist mit den kleinen Kindern nicht möglich. Gemeinsam kommen sie so auf eine tägliche Arbeitszeit von zwölf Stunden im Lockdown. Besonders schwierig wird es, wenn Luca Unterstützung bei den Schulaufgaben benötigt – was für einen Zweitklässler natürlich der Fall ist, während sein kleiner Bruder ebenfalls Aufmerksamkeit einfordert. Häufig geht es dann laut zu, wenn sich Luca oder das arbeitende Elternteil auf die Arbeit konzentrieren müssen. Da sind Frustration und Reibereien vorprogrammiert. Spielzeiten, Ausflüge und andere Aktivitäten kommen in diesen Zeiten zu kurz.
Der Lernstoff wird aufgrund des Ausfalls des Präsenzunterrichts jedoch nicht ausgedünnt, wodurch sich der Selektionsdruck und die Partizipationsasymmetrien weiter steigern. Kinder, insbesondere solche, die weniger Unterstützung als Luca erhalten, werden die Lerninhalte, die sie aufgrund der Unterrichtsausfälle versäumen, kaum mehr aufholen. Lucas Eltern denken häufig darüber nach, wie es wohl in anderen Familien aussieht, die vielleicht keine Möglichkeit haben, die Schulaufgaben auszudrucken, die des Deutschen nicht so mächtig sind und also bei den Aufgaben nicht recht helfen, sie nicht vorlesen und erklären können; ganz zu schweigen von den Familien, deren Internet zu langsam für die schulischen Videokonferenzen ist oder die keinen Computer haben.
Chancenungleichheiten und soziale Ungleichheiten haben durch die Corona-Pandemie stark zugenommen, und sie werden schwerlich wieder rückgängig zu machen sein. Dies kann nur gelingen durch kleine heterogene Lerngruppen, eine gezielte, früh einsetzende individuelle Förderung, durch stärkere Binnendifferenzierung im Unterricht und mehr Schulpersonal; dies alles lässt sich aus den Ergebnissen der PISA-Studien ableiten. Außerdem muss das Kerncurriculum den aktuellen Bedingungen angepasst werden.
Nicht zuletzt ist es jetzt an der Zeit, dass sich die Grundeinstellung vieler Pädagogen ändert. Wenn selbst Lehrer/innen – und so ist es leider, wie viele Erfahrungen und Untersuchungen zeigen – aufgrund des sozialen und familiären Hintergrunds eines Schülers nicht an dessen Bildungserfolg glauben, wird es der Schüler selbst erst recht nicht tun. So offenbarte die IGLU-Studie von 2006 eindrucksvoll, dass es für Kinder aus Akademikerfamilien bei gleichem Kompetenzniveau 2,63-fach wahrscheinlicher ist, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als für Kinder aus Nichtakademikerfamilien. Hier muss auch die Aus-, Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals in den Blick genommen und für die »schulgemachten« Disparitäten stärker sensibilisiert werden.