Hass und Vorurteil
Wenn diese Ausgabe von Ossietzky erscheint, sind es nur noch drei Tage bis zur Wahl in den USA und damit zur Antwort auf die Frage, ob es Präsident Donald Trump trotz seines »krawalligen Auftretens, seines ständigen Verstoßes gegen Normen und Gepflogenheiten« (stern online am 20. Oktober) oder gerade wegen dieses Auftretens zum zweiten Mal ins Weiße Haus geschafft hat. Wer aber sind die Trump-Wählerinnen und -Wähler, die ihm durch dick und dünn treu zur Seite stehen?
Philip Gorski, Professor für Soziologie an der Yale-University in New Haven, Connecticut, lenkt in seinem vor einem Vierteljahr auf Deutsch erschienenen Buch »Am Scheideweg« das Augenmerk auf eine wichtige Unterstützergruppe: die evangelischen Christen, genauer: die Evangelikalen.
Er schildert, »wie der amerikanische Protestantismus zunehmend in eine autoritäre Richtung gedrängt wurde – mit dem Resultat, dass heute Evangelikalismus mit Konservatismus gleichgesetzt wird und die christliche Rechte mit der Republikanischen Partei«.
Eine der Ursachen: »Evangelikale leben in der Überzeugung, die Kulturkämpfe der letzten Jahrzehnte verloren zu haben. Sie betrachten sich als am stärksten verfolgte Gruppe in den USA.« In Trump erkannten sie ihren Beschützer und damit den Retter der »weißen christlichen Nation«.
Im Vorwort schreibt der Sozialphilosoph und Soziologe Hans Joas, Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin: »Seriöse Schätzungen sprechen von über 80 % der Evangelikalen, die sich für Trump entschieden haben.«
Gorski ist einer der führenden amerikanischen Religionsphilosophen. Im ersten Teil seines Buches stellt er die »komplexe Beziehung« zwischen Christentum und Demokratie allgemein »im Westen« dar und spürt den »Wahlverwandtschaften« zwischen Christentum und – wie er es nennt – den »vier Schichten der westlichen Demokratie« nach: der republikanischen, repräsentativen und liberalen Demokratie sowie der Sozialdemokratie. Und er untersucht die Frage, ob das Christentum überhaupt demokratisch ist. Seine Antwort dürfte auch vor dem Hintergrund der (deutschen) Geschichte nicht überraschen: »Bestimmte Formen des Christentums haben eine ›Wahlverwandtschaft‹ mit bestimmten Bestandteilen der Demokratie, andere aber mit autoritärer Politik.«
Womit wir beim zweiten Teil des Buches und damit in den USA wären. Hier seien »Demokratie und Christentum schon lange Hand in Hand« gegangen. Seit der Wahl Trumps, bei der die weißen Evangelikalen eine wichtige Rolle gespielt haben, stelle sich aber die Frage, »ob sich die Wege des amerikanischen Christentums und der amerikanischen Demokratie nun trennen«. Gorski bejaht die Frage.
Der »harte Kern« der Evangelikalen, »selbsternannte Erben der Puritaner«, interpretieren inzwischen sogar die Covid-19-Pandemie als »Urteil Gottes über Amerika«. Gorski nennt beispielhaft den im März dieses Jahres veröffentlichten »Studienführer« des Pfarrers Ralph Drollinger von Capitol Ministries in Washington, DC: »Medienkommentatoren kamen rasch zu dem Schluss, dass Drollinger die Schuld an der Pandemie auf Säkularisten, Umweltschützer, LGBTQ-Leute und Nichtchristen im Allgemeinen schieben wollte.«
Die Schnittmenge mit Trumps Äußerungen ist offensichtlich.
Fazit: ein aktuelles Buch, das einmal mehr verdeutlicht, dass »Fundamentalismus praktizierte Menschenfeindlichkeit« ist (Heribert Prantl, SZ-Kolumnist, online am 4. Oktober).
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Johann und Paul Simon, Verfasser der am 2. Oktober erschienenen »konkret texte 79«, greifen tief in die Geschichte des US-Konservatismus, um aufzuzeigen, dass Trump »kein Betriebsunfall« war: »Er kam aus der Mitte der amerikanischen Gesellschaft und hat viele gesellschaftliche und weltpolitische Tendenzen lediglich auf die Spitze getrieben.« Und: »Die Irrationalität, die Demagogie und die brutalen gesellschaftlichen Verhältnisse, die dafür einen Nährboden bieten, werden nicht einfach aus der amerikanischen Gesellschaft verschwinden, sollte Trump die Wahl verlieren.«
Die Autoren datieren den Aufstieg des Konservatismus »als Massenbewegung« auf die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Damals, »als die Nachkriegsidylle implodierte«, wurde er zur »Ideologie der weißen, relativ privilegierten Masse, die ihre Lebenswelt zahlreichen Feinden und Bedrohungen ausgesetzt sieht, gegen die sie sich zur Wehr setzen müsse«.
Mit Erfolg hätten sie nach und nach die sozial- und wirtschaftspolitischen Standards weit nach rechts verschoben und die Emanzipation der schwarzen »Unterklasse« eingehegt. Sie scheiterten allerdings im Kampf gegen die Emanzipationsbewegungen und die permissive Massenkultur sowie gegen das Prinzip der Antidiskriminierung. Rechter Populismus, Hass auf Eliten und Irrationalität seien dabei der Antriebsstoff der konservativen Bewegung gewesen, sei aber lange durch eine konservative Politik-Elite kontrolliert worden. Nach der Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten in der Geschichte der USA habe sich Amerikas Rechte radikalisiert und »in der Präsidentschaftswahlkampagne 2015/16 vom Gängelband« der republikanischen Politik-Elite befreit: Trump wurde Präsident. Der »paranoide Basispopulismus« hatte sich einen »soziopathischen Narzisst« (Mary L. Trump, Nichte des Präsidenten, in »Zu viel und nie genug«, einer Abrechnung mit ihrem Onkel) zum Führer und Heilsbringer erkoren.
Fazit: Äußerst lesenswert. Erhellend.
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Nachbemerkung: »It Can’t Happen Here« lautete der Titel eines 1935 im Exilverlag Querido, Amsterdam, veröffentlichten utopischen Romans des US-amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis von der Machtergreifung des Faschismus in den USA. Die deutschsprachige Ausgabe »Das ist bei uns nicht möglich« wurde schon 1936 in Deutschland verboten. Es ist an der Zeit, das Buch mal wieder aus dem Bücherregal zu holen.
Philip Gorski: »Am Scheideweg«, übersetzt von Philip Gorski und Hella Heydorn, Herder, 223 Seiten, 24 €. – Johannes Simon/Paul Simon: »Eine Welt voller Wut«, konkret texte 79, 194 Seiten, 19,50 €