Offener Brief aus dem Jahr 1870
Wer heute angesichts von Brexit und wachsendem Nationalismus in der EU die »Vereinigten Staaten von Europa« als Ziel proklamiert, gilt als Träumer oder unverbesserlicher Utopist. Wer das 1870 proklamierte, mitten im von Preußen provozierten Krieg gegen den »Erbfeind« Frankreich, galt als Verräter an der nationalen Sache. Auch und gerade wenn er als Franzose auf der Verliererseite stand. Und ganz besonders, wenn er den deutschen Sieg bei Sedan und die Gefangennahme Napoleons III. begrüßt hatte, weil das zur Ausrufung der 3. französischen Republik führte.
Man sieht schon, dass es sich beim Verfasser um jemanden handelte, der nicht vorzugsweise in den Kategorien ethnischer Kollektive dachte wie die meisten Zeitgenossen damals und heute. Aufenthalte in München und Frankfurt hatten ihm Freunde unter seinen deutschen Malerkollegen und Anerkennung beim Publikum gebracht. Er schrieb darüber: »So wie ich fordert Ihr, indem Ihr Freiheit für die Kunst verlangtet, Freiheit auch für die Völker. Mitten unter Euch, glaubte ich mich zu Hause und unter Brüdern; wir tranken auf das Wohl Frankreichs und auf die künftige europäische Republik; noch in München – vergangenes Jahr – schwörtet Ihr mit heiligen Eiden, Euch in keiner Weise an Preußen anzuschließen.« Es kam anders und die heiligen Eide waren schnell vergessen. Gustave Courbet aber – von ihm ist hier die Rede – hielt an seiner Überzeugung fest, dass, wer für seinen jeweiligen »Cäsaren« in den Krieg zieht, nur an den Ketten schmiedet, in die er selbst gelegt wird. So beschwor er die in Frankreich eingefallenen Soldaten von jenseits des Rheins in einem offenen Brief an die deutsche Armee, den er am 29. Oktober 1870 im Pariser Athenäum-Theater verlas, umzukehren, zu ihren Frauen und Kindern zurückzukehren: »Gebt Eurem natürlichen Empfinden nach, denn es ist schwierig, das Böse zu verhindern; Ihr werdet uns nicht vernichten, und Ihr werdet für Eure Taten vor der Menschheit büßen.«
Sein danach von ihm verlesener Brief an die deutschen Künstler hatte es noch mehr in sich. Zunächst kritisierte er sie und ihre Landsleute heftig dafür, nicht mehr, wie ihre Vorväter es taten, ihre Kaiser »manchmal zum Erzittern« zu bringen, sondern sich vor dem Preußenkönig »flach auf den Bauch zu werfen«, wenn der nur den Finger hebe. Spätestens seit der Ausrufung der Republik in Frankreich handele es sich um einen Krieg, der »infamer ist als die schmutzigsten Kriege des Feudalismus«. Dann folgte ein Appell an die Vernunft und an die gemeinsamen Interessen. Nicht umsonst hatte sein Freund Castagnary Courbet – nicht nur wegen Sujets wie den »Steineklopfern«, sondern wegen Courbets politischer Haltung seit der Revolution von 1848 – als »ersten sozialistischen Maler« bezeichnet: »Man nennt Euch bedürftig, umso besser; in Frankreich ist die Armut ein Zeugnis für Redlichkeit; allein die Reichen haben die Mittel zu stehlen; wir können uns also verständigen.« Courbet schlug vor, die Grenzpfähle zwischen Deutschland und Frankreich niederzulegen, die Zitadellen zu schleifen und die Armeen beiderseitig abzuschaffen, denn sie seien überflüssig, wenn es keine Grenzen mehr gebe: »Nur die Mörder werden noch töten, wenigstens ist dies unsere Hoffnung«. Dann werde man sich »abermals die Hand drücken, und wir werden anstoßen: auf die Vereinigten Staaten von Europa«. Am Schluss des offenen Briefes hieß es: »Lasst uns Eure Kanonen von Krupp, und wir werden sie mit den unsrigen zusammen einschmelzen; die letzte Kanone, die Mündung in die Luft, die phrygische Mütze obenauf, das Ganze auf ein Postament gesetzt, das seinerseits auf drei Kanonenkugeln aufliegt, und dieses kolossale Monument, das wir gemeinsam auf der Place Vendôme errichten werden, dies sei Eure Säule, Eure und unsere, die Säule der Völker, die Säule Deutschlands und Frankreichs, die dann auf immer vereint sind.« Auch diese Idee Courbets blieb eine schöne Utopie. Kanonen von Krupp spielten in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts weiter ihre Rolle. Der deutsche und der französische Rüstungsexport in alle Welt ist nach wie vor beträchtlich. Und zur Stärkung der Einheit und Rolle Europas wird heute der Aufbau einer gemeinsamen Militärmacht propagiert.
Im Übrigen stand seinerzeit auf der Place Vendôme bereits eine Säule, die 1806-10 zu Ehren Napoleons aus eingeschmolzenen, in der Schlacht von Austerlitz erbeuteten russischen und österreichischen Kanonen errichtet worden war. Sie wurde während der kurzen Zeit der Pariser Kommune von 1871 zerstört. Courbet wurde als Kunstkommissar der Kommune nach deren Niederschlagung für die Zerstörung verantwortlich gemacht und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. 1873 ging er in die Schweiz ins Exil, nachdem er in einem erneuten Prozess zum Schadensersatz für die Vendôme-Säule verurteilt worden war. Die Säule wurde selbstverständlich wiederhergestellt.