Seit dem Überfall auf die Ukraine fragen sich die Menschen nicht nur, wie die Waffen zum Schweigen gebracht werden können, sondern sie rätseln auch über die Gründe, die den russischen Präsidenten Putin bewogen haben, die Bestie Krieg von der Kette zu lassen. Was wir zu hören bekommen haben, reicht nicht aus, dem Angriff auch nur den Schimmer einer Berechtigung zu geben. Inzwischen hat sich die Situation so zugespitzt, dass die Welt damit rechnen muss, in einem atomaren Inferno unterzugehen.
»Ich glaube, das ist ein Krieg, den man hätte verhindern können«, antwortete der ehemalige Leiter der Abteilung für Russland-Analysen beim amerikanischen Geheimdienst CIA, George Beebe, auf eine entsprechende Frage der Süddeutschen Zeitung vom 12. Oktober 2022. Die USA und die Nato hätten vor dem Ausbruch der Kämpfe die Gelegenheit gehabt, einen Kompromiss zu finden, was die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine oder auch nur eine starke militärische Partnerschaft mit den USA betreffe.
Präsident Kennedy habe es als wichtigste Lehre der Kuba-Krise von 1962 bezeichnet, dass die Führer von Nuklearmächten sich nicht gegenseitig in die Lage bringen dürfen, dass es nur noch die Wahl zwischen Demütigung und Atomkrieg gebe. Kennedy habe damals militärische Stärke mit Diplomatie gepaart. Momentan gebe es auf beiden Seiten keine große Bereitschaft, einen diplomatischen Weg zu finden, fuhr Beebe fort.
Er habe den Eindruck, dass Putin davon überzeugt sei, dass die Vereinigten Staaten nicht nur darauf aus seien, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen, »sondern Russland als Großmachtrivalen ganz zu eliminieren«. Putin glaube, dass die Konsequenzen für Russland im Moment existentiell seien. »Wir im Westen halten das für paranoid, für verrückt, für übertrieben. Aber das ändert nichts daran, dass die Russen das glauben und dementsprechend handeln. Das heißt, dass wir uns in einer sehr, sehr gefährlichen Situation befinden.«
Ganz aus der Luft gegriffen sind die Existenzängste der Russen nicht. Nach Überzeugung des französischen Philosophen Étienne Balibar zielt die durch den Krieg verstärkte Russophobie nicht nur auf Russland als Staat, sondern auch auf die russische Kultur und die Sprache, wie die Verbannung namhafter Künstler aus der internationalen Kulturszene inzwischen gezeigt hat. Das russische Volk sei nicht mit dem Putin-Regime identisch. Deshalb müsse die Russophobie bekämpft werden. Einen Kompromiss mit dem Putin-Regime hält Balibar für unmöglich. Der Internationalismus sei notwendiger denn je, wirke aber alarmierend entwaffnet. »Wir müssen die Kampagne gegen Atomwaffen fortsetzen und jede Gelegenheit nutzen, die Vorstellung einer anderen Weltordnung zu vertreten« (Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2022).
Einen wesentlichen Schritt weiter geht der in der Friedensbewegung angesehene deutsche Politikwissenschaftler und Mitherausgeber der Blätter, Claus Leggewie. In Heft 7/2022 seines Hausorgans fordert er »die Entfernung Wladimir Putins von der Spitze der russischen Atommacht«. Ein Regimewechsel in Moskau sei »unumgänglich, wenn es Frieden in der Ukraine, in Europa und in der Welt geben« solle. Putin gehöre vor den internationalen Strafgerichtshof und als Kriegsverbrecher von der Weltgemeinschaft für alle Zeit geächtet.
Den Einwand, dass eine kriegerische Attacke auf die russische Föderation die Gefahr einer atomaren Eskalation heraufbeschwöre, lässt Leggewie nicht gelten. Niemand sei der Auffassung, man könne oder solle Putin mit direkter militärischer Gewalt aus dem Kreml entfernen. Sein Abgang würde allein durch eine nicht mehr als Sieg zu verkaufende Niederlage der russischen Armee in der Ukraine besiegelt.
In derselben Ausgabe der Blätter hält der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler seinem Kollegen Leggewie entgegen, dass die vollständige militärische Niederringung einer Atommacht zu keiner Zeit im Bereich des Möglichen gelegen habe. Sie könne nicht von außen erzwungen werden, sondern müsse aus dem Inneren heraus erfolgen. Dazu könne es durchaus kommen, etwa wenn russische Soldaten massenhaft die ihnen erteilten Befehle verweigern oder die Spitzen des Sicherheitsapparates nicht länger bereit seien, Putins ruinösem Kurs weiter zu folgen. Auf all das habe der Westen jedoch nur indirekten Einfluss, und dabei sollte er es auch belassen. Mit dem Projekt eines Regimewechsels gehe man ein unkontrollierbares Risiko ein, so wünschenswert es wäre, dass der »notorische Störenfried im Osten Europas« verschwände.
Es bedarf keiner großen Fantasie, um sich vorzustellen, welche Unruhe diese Gedankenspiele in den Köpfen der Berater des Präsidenten der Russischen Föderation hervorrufen, zumal, da sie mit den in der Ukraine verbreiteten Wünschen und Hoffnungen korrespondieren. »Im öffentlichen Diskurs der Ukraine ist die Überzeugung zentral«, schreibt die ukrainische Politikwissenschaftlerin Tatiana Zhurzhenko in Heft 6/2022 der in Berlin erscheinenden Blätter für deutsche und internationale Politik, »dass es sich beim gegenwärtigen Krieg nicht einfach um eine militärische Auseinandersetzung handelt, sondern um einen zivilisatorischen Konflikt um Europa«. Der Sieg der Ukraine setze ein Friedensabkommen voraus, das nicht nur eine Pause vor der nächsten Konfrontation gewähre. Es müsse eine Welt schaffen, in der Russland keine Bedrohung mehr darstelle. Die Lösung laufe auf eine Entmachtung Putins hinaus.
Weiter heißt es in dem Aufsatz: »Für viele ukrainische Kommentatoren ist die wichtigste Voraussetzung für einen stabilen Frieden, dass Russland sich von der Vorstellung eines Imperiums verabschiedet, Nach Auffassung des ukrainischen Historikers Jaroslav Hrytsak sollte in der neuen Ordnung Russland seine Vorstellung aufgeben, eine eigenständige, besondere Zivilisation zu sein, und endlich ein normales Land werden, das als Nuklearmacht unter internationale Kontrolle gestellt wird.«
Die eingangs zitierten Befürchtungen Putins kommen ganz offensichtlich nicht aus dem hohlen Bauch. Ob sie jemals wahr werden, steht auf einem anderen Blatt. Nicht von ungefähr hat sich der amerikanische Präsident Biden in einem programmatischen Artikel für die New York Times vom 31.5.2022 von dem Satz distanziert, den er am 28. März 2022 in Warschau auf Putin bezogen zum Besten gegeben hat: »For God’s sake, this man cannot remain in power.«