Auf über 300 Buchseiten »Helmut Schmidt am Klavier«. Da denkt man gleich an eine blumig-wortreiche Verklärung eines bedeutenden Politikers. Das ist es auch, was der Erziehungswissenschaftler Reiner Lehberger ein Stück weit biografisch liefert: über die Kindheit mit den Anfängen des Klavierspiels, die Lichtwarkschule in Hamburg, wo er seinen ersten Auftritt am Klavier hatte, die musische Atmosphäre im alles andere als unpolitischen Künstlerdorf Fischerhude, den Orgelunterricht mitten im Krieg am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium bis zu seinen »Hauskonzerten« von 1975 bis 1982 mit namhaften Interpreten und anspruchsvollen Programmen. Dazu kommen seine Freundschaften mit Yehudi Menuhin, Leonard Bernstein, Herbert von Karajan, Christoph Eschenbach und Justus Frantz sowie seine öffentlichen Auftritte als Kanzler in Mozarts Konzert für drei Klaviere und in Bachs Konzert für vier Klaviere, wobei er jeweils den einfachsten Part übernahm. Trotzdem ist es schon bemerkenswert und hoch interessant, welch enge Bindung sowohl er als auch Ehefrau Loki zur Musik hatten.
Der Autor, Jahrgang 1948, ist Professor i. R. an der Universität Hamburg. Er kennt die Eheleute Schmidt als Privatpersonen, seit ihn die Pädagogin Loki Schmidt Ende der 1990er Jahre gebeten hatte, mit ihr zusammen einige erziehungsgeschichtliche Themen zu bearbeiten. Unter beider Autorenschaft entstand 2002 das Buch »Früchte der Reformpädagogik«. Von 2005 bis 2018 erschienen von Lehberger drei Bücher über Loki Schmidt und eins über »die Schmidts«, alles Bestseller, wie es auf dem Klappentext heißt.
Zwischen Reiner Lehberger und dem Ehepaar hatte sich über die Zeit ein freundschaftliches Verhältnis herausgebildet. Alle Bücher waren zum einen unter enger Beteiligung der beiden entstanden, zum anderen mit Hilfe von Helmut Schmidts eigenen Veröffentlichungen in Buch- oder Aufsatzform. 38 Titel davon sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. Das von Schmidt selbst aufgebaute Archiv mit seiner Fotosammlung in 312 Alben stand ihm voll zur Verfügung.
Über einen Politiker zu schreiben oder zu reden, geht nicht ohne Politik. So werden parallel immer wieder die politischen Rahmenbedingungen dargestellt, sei es in der Kindheit und Jugend, als Gershwins »Summertime« und Swing verboten waren, aber »ihm eine neue Welt« eröffneten. Gerade für die Zeit bis zum Kriegsende aber deckt Lehberger Ungereimtheiten in Schmidts Selbstzeugnissen auf. Die betreffen vor allem seine Wahrnehmung der Judenverfolgung. So behauptet er, man habe über die nicht-arische Herkunft von Fräulein Sington, seine Klavierlehrerin, in der Familie nichts gewusst. Als sie jedoch als Jüdin ihren Beruf nicht mehr ausüben durfte, ließen die Schmidts sie weiter bei ihnen zu Hause unterrichten. Selbst seinen 1935 verstorbenen jüdischen Großvater Ludwig Gumpel, einen Bankier, habe er bis in die 70er Jahre verschwiegen. Dabei hat Großmutter Hedwig 1944 auf den Verfolgungsdruck hin den Freitod gewählt, während Sohn Max noch emigrieren konnte. Ähnliche Beispiele finden sich mehrere. Dass der geschichtsbewusste Schmidt davon wirklich nichts gewusst habe, bezweifelt der Autor. Bei einer Lesung in Bad Saarow sagte er, dass der Kanzler dazu keine Erklärung hatte. »Ich will jedoch keine Vorwürfe machen«, so Reiner Lehberger, »es war eine schwierige Zeit. Ich will nur darauf aufmerksam machen.« Loki habe ihm gestanden: »Wir haben uns durch die Nazizeit so durchgewurschtelt.« Das Paar gehörte also so wie der größte Teil der Bevölkerung nicht zu den Helden gegen den Nazistaat, nicht zu den Widerstandskämpfern.
Helmut Schmidt hat sich nach 1945 eindeutig mit Freundschaften, unter anderen zu Yehudin Menuhin, der im KZ Bergen-Belsen interniert war, zu Menschen jüdischer Herkunft bekannt, aber ebenso Herbert von Karajan, der in der NSDAP war, verehrt. Auch eine Ungereimtheit? Das Buch gibt ein authentisches Bild von einem Menschen, der, aus einfachen sozialen Verhältnissen kommend, als Politiker bis an die Spitze eines Staates gelangte und dabei Mensch blieb mit allen Ungereimtheiten zwischen schwarz und weiß.
Reiner Lehberger: Helmut Schmidt am Klavier. Ein Leben mit Musik. Mit vielen bislang unveröffentlichten Fotos und Dokumenten. Hamburg 2021, Hoffmann und Campe, 436 S., 24 €.