Endlich wieder einmal eine gemeinsame Jahrestagung zweier literarischer Gesellschaften! Mit Mühe zum zweiten Mal in die Coronazeit hineinprojektiert mit den damit verbundenen Auflassungen und Beschränkungen. Aber auch getragen von Übereinstimmungen und Unterschiedlichkeiten der beiden Kurts, die bereits für die Schaubühne schrieben und deren Profilierung zur Weltbühne mitbewirkten. Und die, wie aus dem krankheitsbedingt von Bernd Brüntrup verlesenen Referat Ian Kings hervorging, aus persönlichen Erfahrungen und Einsichten »konträr« gegen den Krieg kämpften.
Nach der Begrüßung durch Frank-Burkhard Habel und Dr. Harald Lützenkirchen hangelten sich verschiedene Referenten an historische und aktuelle Definitionen von Begrifflichkeiten wie Nationalismus, Patriotismus, Vaterland, Heimat und Heimatliebe heran – das gab Stoff für Ergänzungen und Widersprüche. Dabei blieb Platz für Fragen nach unterschiedlichen Kategorien und Ebenen wie dem sozialen Gefüge, der Bedeutung von Familie und Freunden, dem Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit, räumlichen und zeitlichen Dimensionen wie auch nach dem Einfluss individueller Lebens- und Erfahrungsphasen. Haben Weltkriege den Heimatgedanken gefördert oder vernichtet? Gibt es ihn, den »heimatlosen Europäer«?
Hans-Jürgen Bollig und Robert Färber von der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft (KTG) gingen in ihren Beiträgen auch dieser Problematik engagiert nach. Ist Heimat wirklich nur dort, wo ich gerne »Du« sage? Hat Tucholsky, der aus seinem gestörten Verhältnis zu seiner Mutter- und Vaterstadt Berlin kein Geheimnis machte, wirklich im Park Monceau seine Genugtuung gefunden, als er »von seinem Vaterlande ausruhte« und einem erfolgreich popelnden Jungen auf der Nachbarbank seinen Erfolg neidete? Denken wir noch ein wenig darüber nach!
Sehr anerkennenswert empfinde ich das von Bernd Brüntrup für die KTG und Harald Lützenkirchen für die Kurt-Hiller-Gesellschaft (KHG) unterzeichnete Einführungsblatt für die Tagung. Es erläutert die historische Geschichte des ND-Gebäudes, würdigt die Namensgeber des »Münzenberg-Saales« und des »Franz-Mehring-Platzes« und verweist darauf, dass die Tagung zum dritten Mal als Kooperationskonferenz gestaltet wird – 2007 waren die »Heinar-Kipphardt-Gesellschaft« und 2011 die »Erich Maria Remarque-Gesellschaft« unsere Tagungspartner.
Den krönenden und traditionsgemäßen Abschluss bildete am Sonntag im »Theater im Palais« die Verleihung des »Kurt-Tucholsky-Preises 2021 für literarische Publizistik«, durch den die 1995 mit Konstantin Wecker eröffnete Preisträgerliste mit der selbstbewusst-charmanten Schriftstellerin Mely Kiyak einen weiteren Glanzpunkt erfuhr. Unser Tucholsky-Verein kann stolz darauf sein, dass dieser Preis nach jahrelangem Anlauf mehr und mehr öffentliche Erwähnung und Anerkennung durch die Medien erfährt, was durch die Mitwirkung von literarischer und kabarettistischer Prominenz und ein vom KTG-Mitglied Franziska Troegner gestaltetes Tucholsky-Programm unterstrichen wurde. Mit der Kolumnistin Mely Kiyak erhält die Liste eine Bereicherung, deren Stimme nach eigenem Bekunden der Autorin »mindestens ebenso gefährlich wie die Zunge meiner Oma« sein kann. Die humorgespickte Laudatio des Satirikers Max Uthoff, der sein Jackett auf der Bühne wie zufällig, aber publikumswirksam abstreifte und es locker über ein in der Bühnenmitte ausgestelltes Großfoto der Geehrten stülpte, verfehlte seine symbolische Wirkung nicht. Irgendwie entstand dadurch der Eindruck einer Schutzfunktion, bei der der Kopf Mely Kiyaks jedoch freiblieb – sie reagierte darauf vor dem Publikum mit einer dankenden, heftigen Umarmung.
Am Abend vorher hatte im Rahmen der Mitgliederversammlung turnusgemäß die Vorstandswahl stattgefunden. Dr. Ian King, der mit 12-jähriger Praxis als 1. Vorsitzender langjährigste Vereinschef der KTG, kandidierte aus Alters- und Gesundheitsgründen nicht mehr und überließ seinen Amtssessel dem bisherigen Stellvertreter Frank-Burkhard Habel, der einstimmig gewählt wurde. Zum Vize wurde Robert Färber bestimmt, für die restlichen Vorstandsämter kandidierten erneut Schatzmeister Bernd Brüntrup und Hans-Jürgen Rausch. Für einen der Beisitzerposten wurde Christiane Ille gewonnen, der andere ist noch vakant.
In der Diskussion wurden die Verdienste Ian Kings, der den Verein 1988 mitbegründete, jahrelang bereits in anderen Vorstandspositionen gearbeitet hatte und dem die Satire auch in misslichen Situationen nie abhandengekommen war, um die Wissenschaftlichkeit und die Kontakte des Vereins besonders hervorgehoben. Der Vorschlag des Vorstandes, ihn mit der Würde und den Arbeitsmöglichkeiten eines Ehrenvorsitzenden auszustatten, fand in der Diskussion nachdrückliche Zustimmung, bedarf jedoch noch einer vereinsadäquaten rechtlichen Konkretisierung.