Gut zwei Monate nach der Machtübernahme der islamistischen Taliban in Afghanistan und dem Ende der militärischen Evakuierungsaktion der Bundeswehr ist die Lage in dem Land desaströs. Tausende sogenannte Ortskräfte der Bundeswehr und anderer deutscher Behörden, Familienangehörige von in Deutschland anerkannten afghanischen Flüchtlingen sowie Journalistinnen, Wissenschaftler und andere Menschen, die sich für Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit eingesetzt haben, sitzen nach wie vor in Afghanistan fest. Viele von ihnen werden von den Taliban bedroht und müssen sich versteckt halten, doch nur ein Bruchteil hat es auf die Evakuierungslisten des Auswärtigen Amts geschafft.
Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden bislang rund 6100 Personen aus Afghanistan nach Deutschland gebracht. Die große Mehrheit von ihnen, 5208, sind afghanische Staatsbürger. Unter den Evakuierten sind lediglich 349 Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder andere deutsche Behörden gearbeitet haben. Nach dem Ende der militärischen Evakuierungsaktion wurden rund 830 Visa in Nachbarstaaten an schutzbedürftige Afghanen erteilt, die auf dem Landweg ausgereist seien.
Die Bundesregierung wird nicht müde zu betonen, dass sie mit Vertretern der Taliban und mit Nachbarstaaten Afghanistans Gespräche führe, um weitere Ausreisen zu ermöglichen. Zivilgesellschaftliche Initiativen werfen ihr jedoch vor, dass sie kaum praktische Anstrengungen unternehme, um Menschen tatsächlich zu evakuieren. Tatsächlich ist die Zahl der Evakuierten äußerst gering, ruft man sich in Erinnerung, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende August noch von 40.000 ehemaligen Mitarbeitern deutscher Stellen in Afghanistan gesprochen hatte, die auf ihre Ausreise warteten.
Die private Initiative »Kabul Luftbrücke« ist daher weiter aktiv, um nicht zuzulassen, »dass die Bundesregierung einen Schlussstrich zieht und die Menschen in Afghanistan zurücklässt«. Nach eigenen Angaben konnten die Aktivisten seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan insgesamt 423 Menschen die Ausreise ermöglichen. Bei den meisten handele es sich um afghanische Staatsbürger. Anfang Oktober konnten mithilfe der Kabul Luftbrücke darüber hinaus elf Deutsche und ein Niederländer aus Afghanistan ausfliegen, neun von ihnen minderjährig. Sie reisten zunächst mit einer Linienmaschine der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air nach Pakistan. Die Initiative teilt auf ihrer Homepage mit, dass dies nur der Anfang sei. Aus Sicherheitsgründen könne aber oftmals erst im Nachhinein über Evakuierungsaktionen berichtet werden.
Unterdessen erklären sich immer mehr Kommunen bereit, zusätzliche Kontingente von Geflüchteten aus Afghanistan aufzunehmen. Zuletzt haben die Städte Laatzen, Marburg und Heidelberg entsprechende Beschlüsse gefasst, auch das Land Thüringen hatte ein Aufnahmeprogramm für afghanische Flüchtlinge beschlossen. Doch das Bundesinnenministerium, das zu solchen Initiativen sein Einvernehmen erteilen muss, mauert mal wieder. Nachdem Horst Seehofer bereits Anfang September signalisiert hatte, dem Programm nicht zuzustimmen, hat sein Ministerium das Vorhaben nun auch offiziell abgelehnt.
Auch beim Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Flüchtlingen aus Afghanistan werden die Betroffenen nach wie vor ihrem Schicksal überlassen. Seit die deutsche Botschaft in Kabul infolge eines Anschlags im Mai 2017 geschlossen wurde, müssen die Betreffenden auf eigene Faust nach Islamabad oder Neu-Delhi reisen, um dort ihren Visumsantrag zu stellen. Hinzu kommen horrende Wartezeiten. Aktuell warten in der Visastelle in Islamabad 2373 Personen auf einen Termin zur Visumbeantragung, in Neu-Delhi sind es 1458. Immerhin verzichtet das Auswärtige Amt nun auf die Vorlage eines Nachweises über deutsche Sprachkenntnisse auf A1-Niveau, die normalerweise beim Antrag auf ein Visum zur Familienzusammenführung notwendig ist. In der aktuellen Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag erklärt die Bundesregierung, dass »aufgrund der aktuellen Situation in Afghanistan« das Ablegen einer solchen Prüfung derzeit »weder möglich noch zumutbar« sei.
Da die Nachbarstaaten Afghanistans und auch Indien die Einreise für afghanische Staatsbürger zuletzt erschwert haben, treten aber neue Schwierigkeiten auf. Offenbar sieht die Bundesregierung das Problem, dass Personen, deren Visumsantrag positiv beschieden wurde, womöglich ihr Visum nicht abholen können, weil ihnen die Einreise nach Indien oder Pakistan verweigert wird. In der Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion heißt es: »Sollte ein Visum zur Familienzusammenführung etwa an der Auslandsvertretung Neu-Delhi beantragt worden sein, aber die Abholung mangels Einreisemöglichkeit nach Indien derzeit unmöglich sein, können Antragstellende sich an eine andere Botschaft der Region wenden, um dort ihren Pass visieren zu lassen.« Fragt sich nur, welche anderen Botschaften unter den gegebenen Bedingungen überhaupt für die Betroffenen erreichbar sind.
Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern eine Fortsetzung des Evakuierungsprogramms aus den Nachbarstaaten, eine Öffnung der Evakuierungslisten für weitere gefährdete Personen, eine Beschleunigung des seit Jahren stockenden Familiennachzugs und den Aufbau eines umfassenden Resettlement-Programms für afghanische Schutzsuchende. Doch die Bundesregierung zog es in dieser Woche vor, vor dem Reichstagsgebäude zu Ehren der Bundeswehr ein militaristisches Spektakel abzuhalten. Es steht zu befürchten, dass unter den desaströsen Afghanistan-Einsatz ein Schlussstrich gezogen werden soll und die Menschen in Afghanistan sich selbst überlassen bleiben.