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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zurückgelassen in Afghanistan

Gut zwei Mona­te nach der Macht­über­nah­me der isla­mi­sti­schen Tali­ban in Afgha­ni­stan und dem Ende der mili­tä­ri­schen Eva­ku­ie­rungs­ak­ti­on der Bun­des­wehr ist die Lage in dem Land desa­strös. Tau­sen­de soge­nann­te Orts­kräf­te der Bun­des­wehr und ande­rer deut­scher Behör­den, Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von in Deutsch­land aner­kann­ten afgha­ni­schen Flücht­lin­gen sowie Jour­na­li­stin­nen, Wis­sen­schaft­ler und ande­re Men­schen, die sich für Demo­kra­tie und Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit ein­ge­setzt haben, sit­zen nach wie vor in Afgha­ni­stan fest. Vie­le von ihnen wer­den von den Tali­ban bedroht und müs­sen sich ver­steckt hal­ten, doch nur ein Bruch­teil hat es auf die Eva­ku­ie­rungs­li­sten des Aus­wär­ti­gen Amts geschafft.

Nach Anga­ben des Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­ri­ums wur­den bis­lang rund 6100 Per­so­nen aus Afgha­ni­stan nach Deutsch­land gebracht. Die gro­ße Mehr­heit von ihnen, 5208, sind afgha­ni­sche Staats­bür­ger. Unter den Eva­ku­ier­ten sind ledig­lich 349 Orts­kräf­te, die für die Bun­des­wehr oder ande­re deut­sche Behör­den gear­bei­tet haben. Nach dem Ende der mili­tä­ri­schen Eva­ku­ie­rungs­ak­ti­on wur­den rund 830 Visa in Nach­bar­staa­ten an schutz­be­dürf­ti­ge Afgha­nen erteilt, die auf dem Land­weg aus­ge­reist seien.

Die Bun­des­re­gie­rung wird nicht müde zu beto­nen, dass sie mit Ver­tre­tern der Tali­ban und mit Nach­bar­staa­ten Afgha­ni­stans Gesprä­che füh­re, um wei­te­re Aus­rei­sen zu ermög­li­chen. Zivil­ge­sell­schaft­li­che Initia­ti­ven wer­fen ihr jedoch vor, dass sie kaum prak­ti­sche Anstren­gun­gen unter­neh­me, um Men­schen tat­säch­lich zu eva­ku­ie­ren. Tat­säch­lich ist die Zahl der Eva­ku­ier­ten äußerst gering, ruft man sich in Erin­ne­rung, dass Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel Ende August noch von 40.000 ehe­ma­li­gen Mit­ar­bei­tern deut­scher Stel­len in Afgha­ni­stan gespro­chen hat­te, die auf ihre Aus­rei­se warteten.

Die pri­va­te Initia­ti­ve »Kabul Luft­brücke« ist daher wei­ter aktiv, um nicht zuzu­las­sen, »dass die Bun­des­re­gie­rung einen Schluss­strich zieht und die Men­schen in Afgha­ni­stan zurück­lässt«. Nach eige­nen Anga­ben konn­ten die Akti­vi­sten seit der Macht­über­nah­me der Tali­ban in Afgha­ni­stan ins­ge­samt 423 Men­schen die Aus­rei­se ermög­li­chen. Bei den mei­sten han­de­le es sich um afgha­ni­sche Staats­bür­ger. Anfang Okto­ber konn­ten mit­hil­fe der Kabul Luft­brücke dar­über hin­aus elf Deut­sche und ein Nie­der­län­der aus Afgha­ni­stan aus­flie­gen, neun von ihnen min­der­jäh­rig. Sie rei­sten zunächst mit einer Lini­en­ma­schi­ne der afgha­ni­schen Flug­ge­sell­schaft Kam Air nach Paki­stan. Die Initia­ti­ve teilt auf ihrer Home­page mit, dass dies nur der Anfang sei. Aus Sicher­heits­grün­den kön­ne aber oft­mals erst im Nach­hin­ein über Eva­ku­ie­rungs­ak­tio­nen berich­tet werden.

Unter­des­sen erklä­ren sich immer mehr Kom­mu­nen bereit, zusätz­li­che Kon­tin­gen­te von Geflüch­te­ten aus Afgha­ni­stan auf­zu­neh­men. Zuletzt haben die Städ­te Laat­zen, Mar­burg und Hei­del­berg ent­spre­chen­de Beschlüs­se gefasst, auch das Land Thü­rin­gen hat­te ein Auf­nah­me­pro­gramm für afgha­ni­sche Flücht­lin­ge beschlos­sen. Doch das Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­ri­um, das zu sol­chen Initia­ti­ven sein Ein­ver­neh­men ertei­len muss, mau­ert mal wie­der. Nach­dem Horst See­ho­fer bereits Anfang Sep­tem­ber signa­li­siert hat­te, dem Pro­gramm nicht zuzu­stim­men, hat sein Mini­ste­ri­um das Vor­ha­ben nun auch offi­zi­ell abgelehnt.

Auch beim Fami­li­en­nach­zug zu in Deutsch­land leben­den Flücht­lin­gen aus Afgha­ni­stan wer­den die Betrof­fe­nen nach wie vor ihrem Schick­sal über­las­sen. Seit die deut­sche Bot­schaft in Kabul infol­ge eines Anschlags im Mai 2017 geschlos­sen wur­de, müs­sen die Betref­fen­den auf eige­ne Faust nach Islam­abad oder Neu-Delhi rei­sen, um dort ihren Visums­an­trag zu stel­len. Hin­zu kom­men hor­ren­de War­te­zei­ten. Aktu­ell war­ten in der Visa­stel­le in Islam­abad 2373 Per­so­nen auf einen Ter­min zur Visum­be­an­tra­gung, in Neu-Delhi sind es 1458. Immer­hin ver­zich­tet das Aus­wär­ti­ge Amt nun auf die Vor­la­ge eines Nach­wei­ses über deut­sche Sprach­kennt­nis­se auf A1-Niveau, die nor­ma­ler­wei­se beim Antrag auf ein Visum zur Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung not­wen­dig ist. In der aktu­el­len Ant­wort auf eine Anfra­ge der Links­frak­ti­on im Bun­des­tag erklärt die Bun­des­re­gie­rung, dass »auf­grund der aktu­el­len Situa­ti­on in Afgha­ni­stan« das Able­gen einer sol­chen Prü­fung der­zeit »weder mög­lich noch zumut­bar« sei.

Da die Nach­bar­staa­ten Afgha­ni­stans und auch Indi­en die Ein­rei­se für afgha­ni­sche Staats­bür­ger zuletzt erschwert haben, tre­ten aber neue Schwie­rig­kei­ten auf. Offen­bar sieht die Bun­des­re­gie­rung das Pro­blem, dass Per­so­nen, deren Visums­an­trag posi­tiv beschie­den wur­de, womög­lich ihr Visum nicht abho­len kön­nen, weil ihnen die Ein­rei­se nach Indi­en oder Paki­stan ver­wei­gert wird. In der Ant­wort auf die Anfra­ge der Links­frak­ti­on heißt es: »Soll­te ein Visum zur Fami­li­en­zu­sam­men­füh­rung etwa an der Aus­lands­ver­tre­tung Neu-Delhi bean­tragt wor­den sein, aber die Abho­lung man­gels Ein­rei­se­mög­lich­keit nach Indi­en der­zeit unmög­lich sein, kön­nen Antrag­stel­len­de sich an eine ande­re Bot­schaft der Regi­on wen­den, um dort ihren Pass visie­ren zu las­sen.« Fragt sich nur, wel­che ande­ren Bot­schaf­ten unter den gege­be­nen Bedin­gun­gen über­haupt für die Betrof­fe­nen erreich­bar sind.

Zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen for­dern eine Fort­set­zung des Eva­ku­ie­rungs­pro­gramms aus den Nach­bar­staa­ten, eine Öff­nung der Eva­ku­ie­rungs­li­sten für wei­te­re gefähr­de­te Per­so­nen, eine Beschleu­ni­gung des seit Jah­ren stocken­den Fami­li­en­nach­zugs und den Auf­bau eines umfas­sen­den Resett­le­ment-Pro­gramms für afgha­ni­sche Schutz­su­chen­de. Doch die Bun­des­re­gie­rung zog es in die­ser Woche vor, vor dem Reichs­tags­ge­bäu­de zu Ehren der Bun­des­wehr ein mili­ta­ri­sti­sches Spek­ta­kel abzu­hal­ten. Es steht zu befürch­ten, dass unter den desa­strö­sen Afgha­ni­stan-Ein­satz ein Schluss­strich gezo­gen wer­den soll und die Men­schen in Afgha­ni­stan sich selbst über­las­sen bleiben.