Vor 50 Jahren, Ende April 1972, versuchten CDU/CSU-Politiker den Bundeskanzler Willy Brandt durch ein Misstrauensvotum zu stürzen und damit die Ratifizierung der Ostverträge zu verhindern. Bereits kurz nach dem Amtsantritt der sozial-liberalen Koalition hatten Brandts Staatssekretär Egon Bahr und der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko erste Sondierungsgespräche über ein Gewaltverzichtsabkommen aufgenommen. Für die SPD war diese neue Ostpolitik ein »Wandel durch Annäherung« – während die CDU/CSU-Führung darin einen Verrat an der Westintegration sah. Doch der Versuch, Willy Brandt aus dem Kanzleramt zu verdrängen (und durch Rainer Barzel zu ersetzen), scheiterte – auch wenn nur zwei Stimmen fehlten.
Dabei spielte die Frage, ob es bei diesem knappen Abstimmungsergebnis illegale Hinterzimmeraktivitäten gegeben habe, keine Rolle. Für das öffentliche politische Bewusstsein am wichtigsten war, dass damals mehrere Hunderttausend Bürger für Willy Brandt demonstrierten und streikten. Bernd Rother untersucht und beschreibt diese heute fast vergessenen Aktionen als eine der größten spontanen Protestwellen in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Aktionen entstanden »von unten«, waren weder vom DGB noch von der SPD organisiert
Die größten Proteste ereigneten sich im Ruhrgebiet, aber sie erfassten die ganze Bundesrepublik, von Flensburg bis München – insbesondere die Industriearbeiter. Zusammenhängende oder einzelne historische Gesamtdarstellungen der Protestaktionen von 1972 gibt es nicht. Deshalb erwiesen sich für Rother »regionale und überregionale Zeitungen« und »die Druckerzeugnisse der diversen linksradikalen Gruppen« als die »aussagekräftigsten Quellen«. Doch wichtig sind auch damalige Stellungnahmen einflussreicher Intellektueller. So erklärte der Nobelpreisträger Heinrich Böll im Mai 1972, dass er Willy Brandt »als Wunder« betrachte. Er sei der erste Regierungschef, der kein »Herrenvolkskanzler« sei. Aber die Frage bleibt offen, warum sich die politische Stimmung nach dem Glücksgefühl des Jahres 1972 so schnell wandelte.
Für den Buchautor Bernd Rother spiegelten die April-Proteste »eine Mischung aus Angst und Hoffnung: Angst vor dem Scheitern der Ostverträge, vor einem Rückfall in den Kalten Krieg und mehr noch vor dem Sturz der eigenen Regierung; Hoffnung auf sicheren Frieden und auf weitere gesellschaftliche Veränderungen zugunsten der Arbeitnehmer, auf die Fortsetzung der Ost- und Reformpolitik«. Die Hoffnungen hätten sich mehr auf die Person des Kanzlers gerichtet als auf die Zukunft seiner Partei.
Mit seinem Rücktritt wegen der Spionage-Affäre Guillaume (1974) verschwand auch die populistische Losung »Willy Brandt muss Kanzler bleiben«. Allerdings blieb Brandt Parteivorsitzender und wurde 1976 zum Präsidenten der »Sozialistischen Internationale« ernannt. Kurz vor dem Fall der Mauer lobte er die Reformpolitik Gorbatschows als »eine ganz wichtige Sache, gerade für das friedliche Zusammenleben der Menschheit«. So berufen sich SPD-Politiker/innen auch heute noch mit ihrer »Ukraine-Politik« auf das Vorbild Willy Brandt, ohne auf die Veränderung der Partei einzugehen.
Schon die Politik und Lebensgeschichte seines Nachfolgers Helmut Schmidt offenbaren keine einheitliche sozialdemokratische Tradition. Brandt hatte im Widerstand gegen Hitler gekämpft und Schmidt diente als Offizier der Wehrmacht. »We agree to disagree« nannte Brandt ihre gemeinsame Parteizeit. Und im Winter 1982, nach seiner Abwahl als Bundeskanzler, schrieb Schmidt in einem persönlichen Brief an Brandt: »Wir sind eben tatsächlich seit einem Jahrzehnt verschiedener Meinung über Aufgabe und nötige Gestalt der deutschen Sozialdemokratie«. Und 2014, angesichts der ersten kriegerischen Ukraine-Krise, kritisierte Schmidt den »Größenwahn« der EU-Kommission, die Ukraine »angliedern« zu wollen. Aus seiner Sicht habe die EU in der Region »nichts zu suchen«. Die »Politik des Westens« basiere »auf einem großen Irrtum: dass es ein Volk der Ukraine gäbe«.
So ähnlich sprechen auch heute noch Sozialdemokraten wie Steinmeier oder Gabriel. Eine Sonderrolle nimmt der Ex-Kanzler Schröder ein, der durch seine Putin-Freundschaft ein superreicher Oligarch geworden ist. »Putin-Versteher« waren aber auch ehemalige CDU-Kanzler wie Kohl und vor allem Angela Merkel. Im Zentrum der Kritik des ukrainischen Botschafters Melnyk steht heute offenbar die »träge« militärische Unterstützungspolitik des Bundeskanzlers Olaf Scholz. Dieser mache es wohl »wie Angela Merkel« erklärte er: »Erst mal abwarten, zuschauen und irgendwann später entscheiden – oder auch nicht. Was fehlt sind Fantasie und Mut.«
Und wie äußern sich die deutschen Intellektuellen dazu? Der P.E.N. hat sich nicht auf eine gemeinsame Erklärung einigen können. Eine andere Gruppe, zu der u. a. Alice Schwarzer, Martin Walser, Alexander Kluge oder Juli Zeh gehören, hat in einem »Offenen Brief« an Kanzler Scholz appelliert, seine ursprüngliche Trägheit zu bewahren. Putin dürfe kein Motiv für die Ausweitung des Krieges auf die Nato geliefert werden.
Zu den zahlreichen Gegenstimmen gehört auch ein neuer »offener Brief« in der ZEIT, den unter anderem Daniel Kehlmann, Maxim Biller, Eva Menasse, Antje Rávic Strubel, Ralf Füchs und/oder Deniz Yücel unterzeichnet haben. Sie sprechen sich für eine verstärkte Waffenlieferung an die Ukraine aus. Und es gibt auch Einzelstimmen, die eine Aktualisierung der Brandtschen Ost- und Außenpolitik fordern. »Dazu sollten wir«, so der Politikwissenschaftler Michael Zürn, »ganz im Sinne Willy Brandts Weltordnung und Machtpolitik, werte- und interessengeleitete Außenpolitik nicht als Gegensätze verstehen. Sie gehören zusammen.« Ein ähnlicher Appell kam jüngst auch von dem 92-jährigen Jürgen Habermas: »Eine europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann.« Diese klaren Worte hätten auch von Willy Brandt stammen können, dessen Entspannungspolitik sich durchaus mit Rüstungsausgaben verbinden ließ.
Bernd Rother: Willy Brandt muss Kanzler bleiben. Die Massenproteste gegen das Misstrauensvotum 1972, Campus Verlag Frankfurt/New York 2022, 203 S., 26 €.