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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zum Heulen

Auf dem Rück­weg sagt mei­ne Tau­be: »Lass uns mal wie­der in Benz hal­ten. Wir waren seit Jah­ren nicht auf dem Fried­hof. Letzt­mals, als alle Hecken an den Grä­bern der Buchs­baum­züns­ler dahin­ge­rafft hat­te.« Ja, ich erin­ner­te mich des kah­len Gestrüpps – und des Züns­lers, ein­ge­wan­dert hier­zu­lan­de vor andert­halb Jahr­zehn­ten wie die Minier­mot­te, die die Blät­ter der Kasta­nie schon im Som­mer braun färbt.

Das Dorf Benz inmit­ten der Use­do­mer Schweiz, ein­ge­bet­tet zwi­schen sanf­ten Höhen, meh­re­ren Seen und dem Ach­ter­was­ser, ver­fügt über mehr Sehens­wür­dig­kei­ten als man­che Stadt. Dar­un­ter eben jener Got­tes­acker, der einen neu­en und einen alten Part auf­weist. Im jün­ge­ren Teil liegt zum Bei­spiel der Maler Otto Nie­mey­er-Hol­stein, der seit den drei­ßi­ger Jah­ren auf der Insel leb­te. Zunächst in einem Ber­li­ner S-Bahn­wa­gen, der sich im Lau­fe der Jahr­zehn­te zu einem hüb­schen Anwe­sen zwi­schen Kose­row und Zem­pin aus­wuchs, Lüt­ten­ort gehei­ßen. 1974 kam die Hol­län­der­wind­müh­le von Benz hin­zu, die er kauf­te, um sie restau­rie­ren zu las­sen. Bei­de Objek­te gehö­ren ganz der Kunst und sind des Sehens wert. Innen und außen.

Sein Grab schmückt nicht nur viel Grün, son­dern auch eine Skulp­tur von Wal­de­mar Grzimek. (Auf des­sen Grab auf dem Wald­fried­hof in Ber­lin-Dah­lem – er starb wie Nie­mey­er-Hol­stein 1984 – steht eine lebens­gro­ße Nack­te. In Benz ist es ein lebens­gro­ßer nack­ter Mann.)

Nur weni­ge Meter von hier liegt Rolf Lud­wig, einer der bekann­te­sten DDR-Schau­spie­ler, der im Ort ein Häus­chen hat­te. Sei­ne Urne befin­det sich seit 1999 in einem Fami­li­en­grab, bedeckt von einer schlich­ten Plat­te. Mit sei­ner Wit­we edier­te ich anläss­lich sei­nes 90. Geburts­ta­ges neu­er­lich sei­ne Erin­ne­run­gen, die selbst­iro­nisch »Nüch­tern betrach­tet« hie­ßen. Wegen des Titels hat­te es Streit mit Harald Juhn­ke gege­ben. Der gleich­falls dem Alko­hol sehr zuge­ta­ne Enter­tai­ner woll­te sei­ne Auto­bio­gra­fie eben­so nen­nen, irgend­wann aber hiss­te er die wei­ße Fah­ne. Inzwi­schen sind alle drei tot. Tem­pi passati.

Ein paar Schrit­te wei­ter, an der Rück­sei­te der Kapel­le, erhebt sich ein efeu­um­schlun­ge­ner Stein, wuch­tig und schwer. Er trägt den Schrift­zug »Caro­la Stern«. Ein Pseud­onym, das sich die in Ahl­beck gebo­re­ne Eri­ka Ass­mus zuleg­te, nach­dem sie – Dozen­tin an der Par­tei­hoch­schu­le »Karl Marx« – in den Westen geflüch­tet war. Die Abwehr­or­ga­ne hat­ten in Erfah­rung gebracht, dass sie für den US-Geheim­dienst CIC tätig war. So kam sie ihrer Ver­haf­tung zuvor. Als Caro­la Stern grün­de­te sie in den sech­zi­ger Jah­ren die BRD-Sek­ti­on von anmesty inter­na­tio­nal. Beim WDR, wo sie als Redak­teu­rin arbei­te­te, lern­te sie auch Heinz Zöger ken­nen, des­sen Asche sich eben­falls unter die­sem Stein befin­det. Unweit von Benz, in Balm, erwarb das Ehe­paar in den Neun­zi­gern ein Feri­en­haus. Sterns Wunsch nach einer Gedenk­stät­te in ihrem Geburts­ort hat­te der Gemein­de­rat von Ahl­beck noch zu ihren Leb­zei­ten abge­lehnt. Er wird wohl sei­ne Grün­de gehabt haben …

Neben dem Neu­en Fried­hof, abge­trennt durch einen Maschen­draht­zaun, dehnt sich auf grü­ner Anhö­he der Alte Fried­hof. Als wir mit eini­ger Ver­wun­de­rung das Pla­stik­schild an der Ein­gangs­pfor­te stu­die­ren, das bei unse­rem letz­ten Besuch noch nicht hing (»Jeder Dieb­stahl von Grab­git­tern wird als Grab­schän­dung ange­zeigt!«), tritt eine älte­re Dame hin­zu. In der Woche nach Toten­sonn­tag wären sie gekom­men, sagt sie. Mit dem Hän­ger auf der Rück­sei­te ran­ge­fah­ren. Sie weist auf das wegen der vie­len hohen Bäu­me kaum sicht­ba­re ande­re Ende des Fried­hofs. Und dann haben sie alle Git­ter mit der Flex abge­trennt und abge­fah­ren. – Sie ist erkenn­bar trau­rig und wütend zugleich.

»Berg­an schließt sich der alte, denk­mal­ge­schütz­te Teil des Ben­zer Fried­hofs an, der mit sei­nen vie­len schmie­de­ei­ser­nen Grab­git­tern und sei­nem wald­ähn­li­chen Cha­rak­ter sehr reiz­voll ist«, steht noch immer in Rei­se­füh­rern im Inter­net. Tat­säch­lich sind nahe­zu alle die­se Git­ter weg – bis auf jene weni­gen Reste, die fest­ge­hal­ten wer­den von Bäu­men, die das Metall in Jahr­zehn­ten umschlos­sen, gleich­sam in sich auf­nah­men und es dar­um auch nicht den Die­ben her­ga­ben. Geblie­ben eben­falls Dut­zen­de braun­ro­sti­ger, guss­ei­ser­ner Grab­kreu­ze aus dem 19. Jahr­hun­dert. Die augen­schein­lich gott­gläu­bi­gen Die­be schreck­ten wohl davor zurück, auch sie von ihren Sockeln zu tren­nen. Fürch­te­ten sie wegen Blas­phe­mie das Jüng­ste Gericht, wenn sie sich an den christ­li­chen Sym­bo­len ver­grif­fen hät­ten? Den Raub der Eisen­git­ter wür­de hie­nie­den nie­mand ahn­den, da konn­ten sie sicher sein. Bis heu­te sei­en die Kul­tur­frev­ler nicht ermit­telt, sagt wie zur Bestä­ti­gung die Grau­haa­ri­ge und fragt sar­ka­stisch, war­um die nicht auch die Mohn­kap­seln mit­ge­nom­men hät­ten. Das waren doch bestimmt Drogenabhängige.

Wir ver­ste­hen nicht.

Ja, haben Sie vorn am Fried­hofs­ein­gang die­se wun­der­ba­ren, zum Teil bereits mit Flech­ten über­zo­ge­nen Git­ter nicht gesehen?

Nein, hat­ten wir nicht.

Wir sehen sie spä­ter beim Hin­aus­ge­hen. Tat­säch­lich, die Spit­zen des Gat­ters zie­ren faust­gro­ße Mohn­kap­seln. Dach­te der Kunst­schmied an Kuchen oder an Opi­um, als er viel­leicht vor hun­dert­fünf­zig Jah­ren am Amboss stand?

Betrübt stei­gen wir ins Auto. Der Alte Fried­hof von Benz ohne sei­ne vie­len Grab­git­ter ist nun nackt und bloß. Beraubt der Acces­soires des Ver­gäng­li­chen, die­ser pro­fa­nen Kunst­wer­ke. Irgend­wo auf einem Schrott­hof lie­gend oder bereits ein­ge­schmol­zen in einem Hoch­ofen. Unwie­der­bring­lich dahin.

Ach, es ist zum Heulen.