Auf dem Rückweg sagt meine Taube: »Lass uns mal wieder in Benz halten. Wir waren seit Jahren nicht auf dem Friedhof. Letztmals, als alle Hecken an den Gräbern der Buchsbaumzünsler dahingerafft hatte.« Ja, ich erinnerte mich des kahlen Gestrüpps – und des Zünslers, eingewandert hierzulande vor anderthalb Jahrzehnten wie die Miniermotte, die die Blätter der Kastanie schon im Sommer braun färbt.
Das Dorf Benz inmitten der Usedomer Schweiz, eingebettet zwischen sanften Höhen, mehreren Seen und dem Achterwasser, verfügt über mehr Sehenswürdigkeiten als manche Stadt. Darunter eben jener Gottesacker, der einen neuen und einen alten Part aufweist. Im jüngeren Teil liegt zum Beispiel der Maler Otto Niemeyer-Holstein, der seit den dreißiger Jahren auf der Insel lebte. Zunächst in einem Berliner S-Bahnwagen, der sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem hübschen Anwesen zwischen Koserow und Zempin auswuchs, Lüttenort geheißen. 1974 kam die Holländerwindmühle von Benz hinzu, die er kaufte, um sie restaurieren zu lassen. Beide Objekte gehören ganz der Kunst und sind des Sehens wert. Innen und außen.
Sein Grab schmückt nicht nur viel Grün, sondern auch eine Skulptur von Waldemar Grzimek. (Auf dessen Grab auf dem Waldfriedhof in Berlin-Dahlem – er starb wie Niemeyer-Holstein 1984 – steht eine lebensgroße Nackte. In Benz ist es ein lebensgroßer nackter Mann.)
Nur wenige Meter von hier liegt Rolf Ludwig, einer der bekanntesten DDR-Schauspieler, der im Ort ein Häuschen hatte. Seine Urne befindet sich seit 1999 in einem Familiengrab, bedeckt von einer schlichten Platte. Mit seiner Witwe edierte ich anlässlich seines 90. Geburtstages neuerlich seine Erinnerungen, die selbstironisch »Nüchtern betrachtet« hießen. Wegen des Titels hatte es Streit mit Harald Juhnke gegeben. Der gleichfalls dem Alkohol sehr zugetane Entertainer wollte seine Autobiografie ebenso nennen, irgendwann aber hisste er die weiße Fahne. Inzwischen sind alle drei tot. Tempi passati.
Ein paar Schritte weiter, an der Rückseite der Kapelle, erhebt sich ein efeuumschlungener Stein, wuchtig und schwer. Er trägt den Schriftzug »Carola Stern«. Ein Pseudonym, das sich die in Ahlbeck geborene Erika Assmus zulegte, nachdem sie – Dozentin an der Parteihochschule »Karl Marx« – in den Westen geflüchtet war. Die Abwehrorgane hatten in Erfahrung gebracht, dass sie für den US-Geheimdienst CIC tätig war. So kam sie ihrer Verhaftung zuvor. Als Carola Stern gründete sie in den sechziger Jahren die BRD-Sektion von anmesty international. Beim WDR, wo sie als Redakteurin arbeitete, lernte sie auch Heinz Zöger kennen, dessen Asche sich ebenfalls unter diesem Stein befindet. Unweit von Benz, in Balm, erwarb das Ehepaar in den Neunzigern ein Ferienhaus. Sterns Wunsch nach einer Gedenkstätte in ihrem Geburtsort hatte der Gemeinderat von Ahlbeck noch zu ihren Lebzeiten abgelehnt. Er wird wohl seine Gründe gehabt haben …
Neben dem Neuen Friedhof, abgetrennt durch einen Maschendrahtzaun, dehnt sich auf grüner Anhöhe der Alte Friedhof. Als wir mit einiger Verwunderung das Plastikschild an der Eingangspforte studieren, das bei unserem letzten Besuch noch nicht hing (»Jeder Diebstahl von Grabgittern wird als Grabschändung angezeigt!«), tritt eine ältere Dame hinzu. In der Woche nach Totensonntag wären sie gekommen, sagt sie. Mit dem Hänger auf der Rückseite rangefahren. Sie weist auf das wegen der vielen hohen Bäume kaum sichtbare andere Ende des Friedhofs. Und dann haben sie alle Gitter mit der Flex abgetrennt und abgefahren. – Sie ist erkennbar traurig und wütend zugleich.
»Bergan schließt sich der alte, denkmalgeschützte Teil des Benzer Friedhofs an, der mit seinen vielen schmiedeeisernen Grabgittern und seinem waldähnlichen Charakter sehr reizvoll ist«, steht noch immer in Reiseführern im Internet. Tatsächlich sind nahezu alle diese Gitter weg – bis auf jene wenigen Reste, die festgehalten werden von Bäumen, die das Metall in Jahrzehnten umschlossen, gleichsam in sich aufnahmen und es darum auch nicht den Dieben hergaben. Geblieben ebenfalls Dutzende braunrostiger, gusseiserner Grabkreuze aus dem 19. Jahrhundert. Die augenscheinlich gottgläubigen Diebe schreckten wohl davor zurück, auch sie von ihren Sockeln zu trennen. Fürchteten sie wegen Blasphemie das Jüngste Gericht, wenn sie sich an den christlichen Symbolen vergriffen hätten? Den Raub der Eisengitter würde hienieden niemand ahnden, da konnten sie sicher sein. Bis heute seien die Kulturfrevler nicht ermittelt, sagt wie zur Bestätigung die Grauhaarige und fragt sarkastisch, warum die nicht auch die Mohnkapseln mitgenommen hätten. Das waren doch bestimmt Drogenabhängige.
Wir verstehen nicht.
Ja, haben Sie vorn am Friedhofseingang diese wunderbaren, zum Teil bereits mit Flechten überzogenen Gitter nicht gesehen?
Nein, hatten wir nicht.
Wir sehen sie später beim Hinausgehen. Tatsächlich, die Spitzen des Gatters zieren faustgroße Mohnkapseln. Dachte der Kunstschmied an Kuchen oder an Opium, als er vielleicht vor hundertfünfzig Jahren am Amboss stand?
Betrübt steigen wir ins Auto. Der Alte Friedhof von Benz ohne seine vielen Grabgitter ist nun nackt und bloß. Beraubt der Accessoires des Vergänglichen, dieser profanen Kunstwerke. Irgendwo auf einem Schrotthof liegend oder bereits eingeschmolzen in einem Hochofen. Unwiederbringlich dahin.
Ach, es ist zum Heulen.