In wenigen Tagen jährt sich der 9. November, der als Tag der Reichspogromnacht in die Geschichte eingegangen ist. Seit dieser Nacht waren die Juden in Nazideutschland praktisch vogelfrei Sie wurden Opfer von Übergriffen, Brandanschlägen, Plünderungen und direkter Gewalt.
Vorwand für diese Verbrechen war die Tat des siebzehnjährigen Juden Herschel Grynszpan, der den Pariser Botschaftssekretär Deutschlands, Ernst Eduard vom Rath, bei einem Attentat lebensgefährlich verletzte. Der Attentäter gab zu Protokoll, er hätte mit seiner Tat die Weltöffentlichkeit auf die Verbrechen im Zusammenhang mit der Deportation von Juden, darunter seine Eltern, aufmerksam machen wollen.
Reichspropagandaminister Goebbels reagierte mit einer antisemitischen Hetzrede. Unmittelbar darauf kam es im gesamten Gebiet des Dritten Reiches zu angeblich spontanen Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen, Synagogen, Geschäfte und Wohnungen. In Wahrheit waren die Gräuel von Partei- und SA-Stellen vorbereitet und organisiert worden.
Den Verbrechen fielen allein in dieser Nacht über 1.300 Menschen zum Opfer, Zehntausende Juden wurden verhaftet, mehrere Tausend Geschäfte und Synagogen verwüstet; daran und an der Plünderung ungezählter Wohnungen waren die SS, die SA und einfache Mitglieder der NSDAP sowie weitere Anhänger der Nazis beteiligt.
Die Reichspogromnacht mahnt die Menschen nicht nur in Deutschland, jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu ächten, der Tag bleibt eine ständige Ermahnung zu einem radikalen Humanismus.
Dieses Gebot des »Nie wieder!« wird jedoch bis heute regelmäßig missachtet. Die EU – und mit ihr alle Mitgliedstaaten – bricht es seit Jahren an ihren Außengrenzen und im Innern mit einer inhumanen Ausländergesetzgebung und einem restriktiven Asylrecht. Weit über 20 000 Schutzsuchende sind seit 2014 allein im Mittelmeer zu Tode gekommen, vor den Grenzen der EU, deren sogenannter Schutz sich die Union seit 2014 circa 4 Mrd. Euro kosten ließ. Zum solchem »Schutz« gehören Push-backs und die Unterbringung von Flüchtlingen in Lagern, in denen sie wie unter Arrest und unter menschenunwürdigen Bedingungen zu hausen gezwungen werden. Es kommt zu Menschenrechtsverletzungen brutalster Art wie Prügelattacken gegen illegal zurück nach Bosnien vertriebene Flüchtlinge an der kroatischen Grenze oder Push-backs an der polnischen Außengrenze, wo Schutzsuchende ihrem Schicksal trotz Erfrierungsgefahr in den Wäldern an Polens Ostgrenze überlassen werden.
Diese »Grenzschutz«-Politik tragen alle EU-Staaten zumindest durch Geschehen-Lassen mit. Die sogenannte Grenzschutzagentur Frontex erhält offiziell bis 2029 die Summe von 5,6 Mrd. Euro, obwohl sie sich an den Verbrechen beteiligt.
Das Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht verkommt zur Heuchelei, wenn heutige Verbrechen gegen Menschengruppen, die auf Schutz angewiesen sind, als Praxis betrieben und geduldet werden. Der Krieg gegen Flüchtlinge ist dabei nicht das einzig Schlimme. Er wird der Bevölkerung in den EU-Staaten auch noch mundgerecht verkauft als Bekämpfung von Schleppern und als eine Politik, die auf geregelte, legale Migration zielt. Früher nannte man das »Propaganda« und hatte dafür ein eigenes Ministerium.
So findet sich auch im Sondierungspapier der Ampel-Parteien eine wachsweiche Formulierung, die Anlass zu größter Sorge gibt: Aus unserer humanitären Verantwortung, heißt es darin, »leiten wir die Aufgabe ab, mit den europäischen Partnern Anstrengungen zu unternehmen, das Sterben auf dem Mittelmeer genauso wie das Leid an den europäischen Außengrenzen zu beenden. Wir wollen die Verfahren zur Flucht-Migration ordnen und die ausbeuterischen Verhältnisse auf den Fluchtwegen bekämpfen. Die Asylverfahren, die Verfahren zur Familienzusammenführung und die Rückführungen wollen wir beschleunigen und legale Wege schaffen.«
Statt zu formulieren, dass die Menschenrechtsverletzungen unverzüglich zu beenden sind, will man also »Anstrengungen unternehmen, Verfahren der Flucht ordnen, Schlepper bekämpfen und auch Rückführungen beschleunigen«. Wer aus kriegsbedingten Todeszonen flieht, der hat oft alles aufgegeben, um die Flucht zu finanzieren, er steht inmitten der Gewalt vor dem Nichts. Wohin, bitte schön, möchte die in der EU vorherrschende Politik diese Menschen »zurückführen«?
Wer sich wirklich seiner humanitären Verantwortung stellt, der beendet den Waffenhandel und den Kriegsexport; das sind die dominanten Fluchtursachen, denen dann Klima-Katastrophen wie die Ausdehnung der Wüstengebiete folgen.
Doch statt mit dem Export militärischen Geräts und mit militärischen Aktivitäten aufzuhören, lesen wir im Ampel-Sondierungspapier: »Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Internationalen Sicherheit. Wir verbessern ihre Ausrüstung wie auch die der Bundeswehr.« Statt also Geld für die Hilfe für Schutzsuchende zur Verfügung zu stellen, geht es den drei Parteien darum, mehr Geld in die Bundeswehr zu investieren. Aktuell beläuft sich der Militäretat auf etwa 50 Mrd. Euro, nachdem er 2014 noch 32,4 Mrd. Euro betragen hatte. Auf das Plus von fast 20 Mrd. Euro innerhalb von sieben Jahren folgen weitere Milliarden-Zuwächse, die nicht nur in der Daseinsvorsorge, sondern auch in der Flüchtlingsversorgung fehlen.
Der Rassismus in unserem Land entspringt auch der Tatsache, dass Verlautbarungen aus den Reihen der Koalitionsparteien besagen, wir hätten für den Schutz der Flüchtlinge ebenso wie für eine Daseinsvorsorge, die Armut bekämpfen kann, auch für eine bessere Bildungsfinanzierung und Gesundheitspolitik, von der Ökologie ganz zu schweigen, zu wenig Mittel zu Verfügung. Der Militäretat bleibt in diesem Zusammenhang erstens sakrosankt und zweitens möglichst weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs ausgeblendet.
Wenn der 9. November mehr sein soll als ein Anlass für scheinheilige Gedenkworte, dann muss die Politik die Genfer Flüchtlingskonvention konsequent einhalten, die Militarisierung als Spannungsquelle im eigenen Land und als Fluchtursache beenden und Sicherheitspolitik als eine Politik verstehen, die allen Menschen Schutz gewährt, den Bedürftigen im eigenen Land und jenen, die aus den Todeszonen fliehen. Sie sind Menschen, die wie alle Mitmenschen unter dem Schutz der UNO-Charta stehen.
Der 9. November stellt der aktuellen Politik die Aufgabe, alles zu unternehmen, was gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die Basis nimmt. Er mahnt uns, uns jeder Form von Rücksichtslosigkeit entgegenzustellen, sei es auf EU-Ebene oder irgendeiner anderen Ebene des gesellschaftlichen Lebens.