Die »Wortverlaufskurve« des DWDS (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache) für den Gebrauch des Wortes »mutmaßlich«, die mit dem Jahr 1946 einsetzt, dümpelt von da an bis in die 1980er Jahre vor sich hin, steigt dann aber bis in die 2010er-Jahre (mit kleinen Ausnahmen) steil nach oben. Gegenwärtig ist der Gebrauch ein wenig zurückgegangen, hält sich aber auf dem Niveau der »Nuller«-Jahre.
Der insgesamt rasante Anstieg in den vergangenen vier Jahrzehnten hat dieses Wort aus unterschiedlichen Gründen ins Gerede gebracht: Der Politikwissenschaftler und CDU-Bundestagsabgeordnete Matthias Zimmer (FAZ vom 10.8.2011) beklagt den »mittlerweile inflationäre[n] Gebrauch«. Der Journalist Kai Bargmann gesteht, ihm sei »dieses Wort schon länger ein Dorn im Auge«.
Womit aber hat dieses Wort solche Ablehnung verdient? Denn es hat doch, was seinen Gebrauch betrifft, einen respektablen Hintergrund: Zum einen soll es der gehobenen Stilebene angehören (Google-Wörterbuch), vor allem aber die Unschuldsvermutung, eine der Säulen des Rechtsstaats, schützen. Diese schirmt den – mutmaßlichen – Täter gegen vorschnelle Verurteilung ab. Die Tat selbst ist nicht vor ihrer Benennung geschützt. Weil aber zwischen beidem nicht immer unterschieden wird, kommt es zu lächerlichen Formulierungen: Da werden illegale Autorennen innerhalb geschlossener Ortschaften zu »mutmaßlich illegalen Autorennen« (BR 24, 18.6.21). Ein Attentat gegen einen libanesischen Regierungschef wird zu einem »mutmaßlichen Attentat«, und ein Messerangriff zu einem »mutmaßlichen Messerangriff« (MDR, 28.6.21). Die bedauerliche Folge: Da auch Offenkundiges Mutmaßungen unterworfen wird, können, umgekehrt, Mutmaßungen an Offenkundiges geknüpft werden und es somit in Frage stellen.
Die Brisanz entsteht nicht zuletzt dadurch, dass die betreffenden Angaben Polizeiberichte zur Grundlage haben: Alfred Sahlender weist darauf hin: »Meist müssen sich Redaktionen auf Informationen von Polizei oder Staatsanwaltschaft stützen« (Die Main-Post, 4.8.2010). Franz-Josef Hanke setzt den Gedanken fort: »Vor allem in Polizeiberichten sind solche unfreiwilligen Bedeutungsverschiebungen durch fehlerhafte Anwendung von Wörtern wie ›vermutlich‹ und ›vermeintlich‹ oder ›mutmaßlich‹ nicht gerade selten.«
Die pauschale Benutzung des Wortes »mutmaßlich« verärgert Medienkonsumenten. So äußert sich ein empörter Leser folgendermaßen: »Da löscht ein offenbar gestörter Verbrecher viele Menschenleben aus, wird noch am Tatort festgenommen, ist nachweislich der Schuldige und gilt dennoch als der mutmaßliche Täter« (https://www.merkur.de/lokales/leserbriefe/leserbriefe/mutmasslich-2431554.html, vom 25.7.2012: Zugriff: 5.7.21)
Beispiele ließen sich zuhauf finden. So heißt es in der jW (6./7.4.2019): »Der mutmaßliche Attentäter von Christchurch soll psychiatrisch untersucht werden.« Der Mann, der eine Frau und ihren 8jährigen Sohn in Frankfurt auf einem Bahnsteig, auf dem viele Menschen warten, vor einen einfahrenden Zug stößt, wird auf NDR info (29.7.2019) als »mutmaßlicher« Täter bezeichnet; wenige Tage später wird die offenkundige Tat sprachlich indirekt sogar dem Zweifel ausgesetzt: »an dem Ort, an dem er den Jungen vor einen Zug gestoßen haben soll« (NDR info, 31.7.2019).
Der bereits zitierte Matthias Zimmer beschreibt die paradoxe Folge dieses Sprachgebrauchs folgendermaßen: »Die Mutmaßung ist der Richterspruch des common sense. Der mutmaßliche Dieb ist durch die Mutmaßung schon mehr als ein Verdächtiger. Er steht im Wartezimmer richterlichen Nachvollzugs einer schon allseits akzeptierten Vorverurteilung.«
Noch brisanter wird diese Folge, wenn sie über die Wiedergabe von Polizeiberichten auf der Lokalseite hinausgeht und politische Urteile legitimiert: So tappt der eben zitierte M. Zimmer selbst in die von ihm beschriebene Falle: »Auch die noch lebenden Massenmörder aus der Konkursmasse des ehemaligen Jugoslawien erscheinen uns [!] schuldig, auch wenn sie das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag bislang noch nicht verurteilt hat. Der ›mutmaßliche Kriegsverbrecher‹ geht uns hier dann doch schwer von den Lippen.« Hier zeigt sich, dass die Unschuldsvermutung im tagtäglichen politischen Meinungskampf keine Chance hat. Hierfür ein beliebiges, zugleich aber typisches Beispiel: »Nach Attacke auf SolarWinds: Microsoft meldet erneuten Cyberangriff mutmaßlich russischer Hacker« (SPIEGEL Netzwelt: 28.05.2021) Unnötig zu erwähnen, dass die Hacker nicht als russische Bürger, sondern als Agenten der russischen Regierung gemeint sind. Das »Syrien-Narrativ«, das Norman Paech (Ossietzky 12/21) beschreibt, dürfte sich als Fundgrube für den propagandistischen Gebrauch des missbräuchlich verwendeten Wortes »mutmaßlich« erweisen. Hierfür nur ein Beispiel (wer mehr davon haben möchte, braucht nur »mutmaßlich syrien giftgas« einzugeben): »Noch immer versucht Russland, den mutmaßlichen Einsatz von Chlorgas im syrischen Duma als pure Inszenierung abzutun« (tagesschau hintergrund, 9.4.2020).
Ich würde gern vor jedes »mutmaßlich« ein »Vorsicht!«-Schild aufstellen: Denn leicht kann die ehrenwerte Unschuldsvermutung zur Schutzwand für Propaganda werden.