Die hauptstädtischen Blätter berichteten anderntags meist einspaltig und vergleichsweise einsilbig. Zwei Tage vor der Bundestagswahl waren etwa 100.000 Demonstranten durch das Regierungsviertel gezogen und hatten lautstark, aber friedlich entschiedene Anstrengungen gegen den Klimawandel eingefordert. Initiiert hatte den Massenprotest, an dem sich erkennbar Vertreter aller Generationen beteiligten, Friday for Future (FFF). Seit Jahren sind die ursprünglich von Greta Thunberg (»Skolstrejk för Klimatet«) mobilisierten jungen Leute am Freitag unterwegs. Man ließ sie gnädig gewähren, weil sie ohne Krawall und Aggressivität ihre selbstgemalten Schilder mit Eisbären durch die Gegend trugen: »Das war’s Lars«. Es war schön harmlos, rührte ans Herz und trug zur moralischen Gewissenspflege bei. Die Medien schufen im Überschwang ihrer Gefühle Ikonen der Bewegung, die Häuptlinge dieser Welt empfingen diese und hofften dadurch ihr eigenes Image zu heben. Greenwashing schwarzer Seelen.
Diesmal war jedoch einiges anders und erklärte die Schmallippigkeit der Journalisten. In der Samstag-BILD, wo das Bekenntnis von Arnold Schwarzenegger, dass er »ein strenger, guter Vater« gewesen sei, fast eine ganze Seite füllte, wurde dem Massenereignis keine zwei Dutzend Zeilen und ein kleines Bild von Greta T. gewidmet, welche auch die Überschrift lieferte: »Thunberg nennt Deutschland ›Klima-Schurken‹«. Empörung, Skandal.
Der einst vermeintlich liberale Tagesspiegel, inzwischen konservativer und antikommunistischer als die Postillen aus dem Springer-Verlag, wurde noch deutlicher und lieferte auch die Erklärung für die Ignoranz der hiesigen Meinungsbildner: »Klimastreik: Zu politisch.«
Genau das war der Grund. Die Bewegung ist nicht nur breiter, sondern auch politischer geworden, sie wird augenscheinlich erwachsen und ist dabei, die Phase unverbindlicher Harmlosigkeit hinter sich zu lassen. Oder wie es in dem mit dem Kürzel »jas« gezeichneten Tagesspiegel-Kommentar entrüstet hieß, dass sich FFF aktueller gesellschaftlicher Themen annehme und dabei Position beziehe. »Das mögen ehrenwerte Anliegen sein, sie verengen aber den Raum für die ›Klimabewegung‹, weil sie fast immer mit eher linken Positionen übereinstimmen.«
Das Studium der vielen mitgeführten, noch immer nicht von Agenturen kommerziell gefertigten Meinungsbekundungen auf Pappe und Papier muss die Kommentatoren und Kaffeesatzleser in den Redaktionsstuben zwei Tage vor der Bundestagswahl aufgeschreckt haben.
Kleine Auswahl gefällig? »Lindner & Laschet verhindern. Und die SPD ist auch keine Lösung«, »KEINE ZEIT FÜR EINE LASCHE(T) KLIMAPOLITIK«, »Doch, Armin, wegen solcher Tage ändert man die Politik«, »Corrupt Democratic Union«, »Lasst die Sau raus für nachhaltige Landwirtschaft«, »Wäre das Klima eine Bank, hättet ihr es schon längst gerettet«, neben einem Konterfei von Laschet und Scholz: »Die Frage ist nur, wer dreister lügt«, »System change, not climate change«, »Kapitalismus = Klimakiller«, »Der Markt regelt ’n Scheiß« und unmissverständlich: »CDU abwählen«.
Kein Spruch rief zur Wahl der Grünen, der Linken oder überhaupt einer Partei auf, wohl aber zur Verabschiedung von Konservativen und Liberalen aus der Regierungsverantwortung. Die wenigen Wahlappelle blieben diffus: »Liebe Menschen über 60: Ihr habt 40 % der Stimmen, schenkt sie unserer Zukunft.«
Natürlich fanden sich in diesem gewaltigen Zug, der etwa drei Stunden durch die Friedrichstraße zog, auch die üblichen Sprüche, die diese Proteste seit zwei Jahren begleiten: von »Make love, not CO2« über »Unsere Zukunft schmilzt weg«, »Ohne Bäume keine Träume« bis hin zum Gemeinplatz »Schützt unsere Erde«. Das sind die frommen Wünsche, die die Klugschwätzer und -schreiber gern kolportierten. Doch nun, wo es ans Eingemachte, nämlich an die Systemfrage geht, schlagen sie Alarm. Zu politisch! Die oberflächlich geschmähten und tatsächlich geliebten »Klimaideologen«, die schon lange Teil des politischen Establishments dieser Republik sind, haben sich nicht nur von der Straße verabschiedet, sondern werden dort erkennbar auch beiseitegeschoben.
»Kapitalismus = Klimakiller« – besser als in dieser Verkürzung lässt sich der Zusammenhang von Politik, Wirtschaft und Fortexistenz der Menschheit kaum formulieren. Wer die Welt, nicht nur das Klima, retten will, muss nun mal die Systemfrage stellen. Und auch grundsätzlich beantworten.