Zensur, ein mit Frust besetztes Wort vor allem bei Kultur- und Geistesschaffenden, bei politisch Denkenden und Handelnden? Wer wäre ihr nicht schon irgendwann in irgendeiner Weise zum Opfer gefallen? Sei es durch Verbote, Ignoranz, die Macht des Marktes, sei es durch Vermeidung, Selbstzensur oder die sogenannte Schere im Kopf, wenn man sich zum Beispiel aus vermeintlich eigenem Antrieb der Political Correctness, dem Gendern oder den Sprachregelungen der Kirche oder des Moralcodex› unterwirft? Dieses und jenes sagt man einfach nicht, dieses und jenes zu äußern kann sogar lebensgefährlich sein. Zensur gab es keineswegs nur in der DDR, es gab sie schon immer, und es gibt sie auch heute, selbst in Staaten, die sich besonders liberal und demokratisch geben.
Diese Tatsache hat sich die unter der Redaktion von Jens-F. Dwars und Ulrich Kaufmann von der Thüringischen Literarhistorischen Gesellschaft Palmbaum e. V. und dem Thüringer Literaturrat herausgegebene Zeitschrift Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen in ihrem Heft 1/21 zum Titelthema gemacht. In 18 Beiträgen auf knapp einhundert Seiten äußern sich dazu unter der Überschrift »Zensur – einst und heute« Autorinnen und Autoren von Johann Wolfgang Goethe bis Matthias Biskupek, von Sigrid Damm bis Lutz Rathenow.
Durch diese so unterschiedlichen Persönlichkeiten in unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichem politischem Hintergrund wird dieses Thema von den verschiedensten Seiten betrachtet – selbst von der »Täter«-Seite wie bei Goethe, der nicht nur Opfer der Selbstzensur war, sondern auch durch die eigenen Freunde und Verwandten einer Zensur unterlag, so Dwars in seinem Beitrag »Weimarer Verschluss-Sache. Goethes Erotica als Staatsgeheimnis«. In einem 1799 geschriebenen »Vorschlag zu kollektiver Selbst-Zensur«, wie die Redakteure titeln, sinniert der Dichter sogar wohlwollend darüber, »dass nach und nach ein allgemeines Zensorat entstehen wird«. Die exzellente Goethe-Kennerin Sigrid Damm führt dann darüber hinaus im Interview mit Ulrich Kaufmann aus, dass der berühmte Weimarer am Hofe Carl Augusts selbst als Zensor fungierte.
So wie Christoph Schmitz-Scholemann, Günter Schmidt und Rolf Schneider geht auch Achim Wünsche mit dem Beitrag »Auf dem rechten Auge blind. Gewalt und Zensur in der Weimarer Republik und die Folgen« auf die Geschichte der Zensur ein und weist auf die Bücherverbrennung 325 unter Kaiser Konstantin I. hin. Günter Schmidt beleuchtet die Zensur in der Adenauer-Ära, in der Filme des italienischen Neorealismus und vor allem Filme aus der DDR verboten wurden. Sein Fazit ist eine klare Ansage: »In der Adenauer-Ära hat es eindeutige Verstöße gegen das Zensurverbot des Grundgesetzes gegeben« – geprägt »von einem militanten Antikommunismus, einer scharfen Ost-West-Konfrontation und einer restriktiven Moral«. Bei Rolf Schneiders Betrachtungen der Zensur in Ost und West am Beispiel Brecht ist bemerkenswert, welche Praktiken in der DDR angewandt wurden, um der Zensur auszuweichen. Irritierend aber ist am Schluss im Zusammenhang mit Überlegungen zu heutiger Zensur aus wirtschaftlichen Gründen seine Frage: »Sollen wir uns also Zustände der Zensur (gemeint wie in der DDR – el) zurückwünschen?« Könnte es sein, dass der Schriftsteller der Illusion verfallen ist, in der BRD gebe es keine politisch motivierte Zensur? Das wird eindeutig durch Olaf Weber widerlegt, der einen absurden Fall von Zensur am Bauhaus in Weimar im Jahre 2010 schildert. Ein Dekan fungiert da als selbsternannter Zensor.
Besonders interessant wird es, wenn Autoren wie Wulf Kirsten, Lutz Rathenow und Wilhelm Bartsch – oft mit Ironie und Sarkasmus – über ihre eigenen Erfahrungen mit der Zensur in der DDR schreiben beziehungsweise über ihnen bekannte konkrete Fälle. Ulrich Kaufmann hat »Volker Braun im Visier der Zensur« untersucht, wobei der Lyriker damals, 1963, Unterstützung durch Christa Wolf erhielt. Bartsch, der aus seiner Stasi-Opferakte den Klarnamen des IM preisgibt, geht auch mit der heutigen BRD ins Gericht, etwa wenn er Zensur gegen Wolfgang Hilbig 1995 zur Sprache bringt und sich 2020 selbst als Opfer erkennen muss.
Wilhelm Bartsch aber macht das Erstaunliche: Er schildert einen ihn selbst betreffenden Fall, »vielleicht eine(n) der sehr seltenen Fälle, wo Zensur auch einmal möglich, vielleicht sogar nötig geworden war«. Es ging in einem Gedicht zum 150. Todestag von Goethe um eine Wortwahl, die durch Peter Edel zu recht moniert worden war, weil sie falsche Assoziationen hätte herbeirufen können. Auch Jens-F. Dwars, der in seinem Editorial feststellt, »dass die Freiheit, sich öffentlich zu äußern, noch nie so groß war, und die Chance, damit etwas zu ändern, noch nie so gering«, kann der geschmähten Zensur durchaus auch etwas Positives abgewinnen. »Der Zwang, bestimmte Tabus einhalten zu müssen, gegen die man dennoch anschreiben möchte, nötigt zur Verfeinerung der eigenen Ausdrucksmittel.« Und er stellt in seinem Beitrag über Goethes Erotica fest, dass die DDR »seit den 1970er Jahren einen beachtlichen Reichtum an Kultur hervorgebracht hat, der (…) auf Zensur und Selbstzensur beruhte und doch eine Vielfalt verfeinerter Mal- und Sprachformen gebar, ein Ringen um das Sagbare, das produktiv mit dem Erbe vergangener Epochen umging«.
Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 1/2021 (Heft 72), Bucha bei Jena, quartus-Verlag, 12 €.