Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Zeitenwende

End­lich Krieg. Ich konn­te das Wort »Coro­na« wirk­lich nicht mehr hören. Coro­na hat­te unser Land lan­ge genug gespal­ten, in Impf­geg­ner und Hal­tung-Zei­ger, in Schlaf­scha­fe und Covidio­ten, in Spa­zier­gän­ger und An-die-Maske-Erinnerer.

Allein in mei­nem Freun­des­kreis gab es drei Paa­re, deren Bezie­hung fast am Impf­sta­tus zer­bro­chen wäre. Bis ihnen der Krieg den Frie­den brach­te. Nun lie­gen sie gemein­sam unter einer Decke und fürch­ten sich gemein­sam vor einem gemein­sa­men Feind. Muss­te Putin wirk­lich erst mit der Atom­bom­be dro­hen, damit Men­schen wie­der zum Frie­den fin­den? Vor mei­nem Küchen­fen­ster demon­strie­ren jetzt ehe­ma­li­ge Impf­geg­ner und Impf­be­für­wor­ter gemein­sam gegen den Krieg. Ever­y­bo­dy stands with ukrai­ne. Ever­y­bo­dy is gegen the Putin. Wer noch vor weni­gen Wochen Putin ver­stand – Nato-Ost­erwei­te­rung und so –, der ver­steht ihn jetzt nicht mehr. Denn ein Putin­ver­ste­her will nun wirk­lich nie­mand mehr sein – und war es eigent­lich noch nie. »Ich habe mich geirrt« ist die gehü­stel­te Losung der Jetzt-Wie­der-alles-Ver­ste­her. Und weil wir Putin nicht ver­ste­hen, wie könn­te man auch, spre­chen wir das Selbst­ver­ständ­li­che aus: »Wir ver­ur­tei­len Putins Krieg.« Und wer nicht schnell genug das Selbst­ver­ständ­li­che aus­spricht, viel­leicht ein­fach, weil es einem selt­sam erscheint, das sich von selbst ver­ste­hen­de aus­zu­spre­chen, weil sich das Selbst­ver­ständ­li­che dem Wesen nach ja von selbst ver­steht, den for­dern wir laut auf, das Selbst­ver­ständ­li­che so laut aus­zu­spre­chen, dass es jeder laut ver­steht: »Ja, wir ver­ur­tei­len Putins Krieg.« Und, als wäre es selbst­ver­ständ­lich, sagen wir »Putins Krieg«. Ver­stün­den wir, war­um das Wort »Putins« im Satz »Wir ver­ur­tei­len Putins Krieg« über­flüs­sig ist, wür­den wir ja nur »Krieg« ver­ur­tei­len. Egal wo. Und egal, von wem er geführt wür­de. Krieg wäre Krieg. Aber selbst­ver­ständ­lich ver­ur­tei­len wir Krieg, egal wo, egal von wem geführt. Aber wenn es doch so selbst­ver­ständ­lich ist, war­um spre­chen wir es dann nicht aus? Wo wir doch so gut dar­in sind, das sich von selbst ver­ste­hen­de aus­zu­spre­chen. Dann wäre Krieg Krieg. Und wenn Krieg Krieg wäre, dann wäre Kriegs­flücht­ling Kriegs­flücht­ling. Aber es gibt doch wohl einen Unter­schied zwi­schen schwar­zen, allein­rei­sen­den Män­nern und allein­rei­sen­den, blon­den Frau­en mit Kin­dern. Die­ser Unter­schied ist wie­der­um so selbst­ver­ständ­lich, dass man ihn nun wirk­lich nicht aus­spre­chen muss. Allein­rei­sen­de, blon­de Frau­en – wel­ches Baut­z­ner Braun­hemd wird da nicht zum Erst­hel­fer! Wer es bis­her nicht im Her­zen fühl­te, fühlt es jetzt in der Hose. Wer for­dert jetzt »eine Arm­län­ge Abstand« zu den Ukrai­ne­rin­nen? Die Fra­ge ist unge­hö­rig, selbst­ver­ständ­lich. Der Gedan­ke ist zynisch. Selbst­ver­ständ­lich. Ich spre­che es lie­ber aus, bevor mich jemand dazu auffordert.

Selbst­ver­ständ­lich wol­len wir hel­fen. Putins Armee schießt auf Kin­der­kran­ken­häu­ser. Wer da nicht hel­fen will, dem ist nicht zu hel­fen. Trotz­dem: Wenn Chri­sten statt Mos­lems vor der Tür ste­hen, ent­decken wir in unse­ren Woh­nun­gen über­ra­schend vie­le freie Ecken. End­lich haben wir die Kriegs­flücht­lin­ge, die wir uns immer gewünscht haben. Weil sie zu uns pas­sen. Als Afgha­nen an Flug­zeug­trieb­wer­ken hin­gen, rie­fen CDU-Poli­ti­ker im Wahl­kampf­fie­ber: »2015 darf sich nicht wie­der­ho­len.« Das gilt jetzt selbst­ver­ständ­lich nicht mehr. Der innen­po­li­ti­sche Spre­cher erklärt in einem Radio­in­ter­view: »Es ist für jeden ver­ständ­lich, und für mich auch selbst­ver­ständ­lich, dass wir selbst­ver­ständ­lich unse­ren euro­päi­schen Bin­nen­flücht­lin­gen hier in erster Linie hel­fen, Schutz und Obhut gewäh­ren.« Drei­mal »ver­ständ­lich« in einem Satz. So selbst­ver­ständ­lich ist inzwi­schen Ras­sis­mus in der CDU. So selbst­ver­ständ­lich, wie selbst­ver­ständ­lich fast der gesam­te Bun­des­tag auf­steht und klatscht, wenn der Kanz­ler ein­hun­dert neue Mil­li­ar­den für den Krieg aus dem Schlüp­fer zieht. Die Bun­des­wehr wur­de kaputt­ge­spart. Ein­hun­dert neue Mil­li­ar­den! Die alte Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin hät­te davon ein­tau­send neue Bera­ter ange­schafft, die bei einem Stun­den­satz von zwei Rie­sen sechs Jah­re hät­ten bera­ten kön­nen, war­um den Sol­da­ten Schlüp­fer fehlen.

Aber wir haben Zei­ten­wen­de. Jetzt wer­den Hau­bit­zen gekauft, Pan­zer, Muni­ti­on. Wer da nicht auf­steht und klatscht, der ist für Putins Krieg. Seit den ein­hun­dert neu­en Mil­li­ar­den ist der Akti­en­kurs von Rhein­me­tall um fünf­zig Pro­zent gestie­gen. Im sel­ben Zeit­raum sank der Kurs von Hugo Boss um fünf­zig Pro­zent. Neue Schlüp­fer wer­den es wohl nicht. Unse­re Sol­da­ten müs­sen wei­ter frie­ren. Da frie­ren wir selbst­ver­ständ­lich mit. Für die Sicher­heit der Ukrai­ne. Gas von einem Kriegs­ver­bre­cher wol­len wir selbst­ver­ständ­lich nicht. Aber wenn Krieg Krieg wäre, dann wäre Kriegs­ver­bre­cher auch Kriegs­ver­bre­cher. Egal wo der Kriegs­ver­bre­cher sei­ne Kriegs­ver­bre­chen ver­bricht. Als die USA in Afgha­ni­stan abwech­selnd Hoch­zeits­ge­sell­schaf­ten und Zie­gen­hir­ten bom­bar­dier­ten, for­der­te selbst­ver­ständ­lich kei­ner den Import­stopp von Roh­öl, IPho­nes oder Coca-Cola. Tina Tur­ner muss­te ihre Welt­tour­nee nicht absa­gen, obwohl sie selbst­ver­ständ­lich mit Geor­ge W. schon­mal gemein­sam Weih­nach­ten fei­er­te. Wir stop­pen North Stream 2. Die Außen­mi­ni­ste­rin sagt, die Deut­schen sind bereit, für die Sicher­heit der Ukrai­ne einen hohen Preis zu zah­len. Wegen unse­rer mora­li­schen Wer­te. Nor­bert Rött­gen for­dert sogar ein Öl-Embar­go. Ich bin selbst­ver­ständ­lich dafür. Putin ist ein Kriegs­ver­bre­cher und ich bin E-Bike-Fahrer.

Aber wenn Kriegs­ver­bre­cher Kriegs­ver­bre­cher wären, dann wären wir selbst­ver­ständ­lich bereit, auch für die Sicher­heit des Jemen einen hohen Preis zu zah­len. Kein Öl mehr aus Sau­di-Ara­bi­en. Wegen unse­rer mora­li­schen Wer­te. Der Preis läge dann bei zwölf Euro den Liter Super. Dann wäre Krieg in Deutsch­land. Putin bräuch­te uns nicht mal mit der Atom­bom­be zu dro­hen. Unser Frie­den wäre in dem Moment vor­bei, in dem unse­re mora­li­schen Wer­te unse­re mora­li­schen Wer­te wür­den. Weil wir selbst­ver­ständ­lich für den Frie­den wären. Über­all auf der Welt. Auch dort, wo unse­re Roh­stof­fe für unse­re Smart­phones und Elek­tro­au­tos lie­gen. Selbst­ver­ständ­lich wären wir dann für Embar­gos von Col­tan, Nickel, Lithi­um und Sel­te­nen Erden. Wegen unse­rer mora­li­schen Wer­te. Die Fra­ge, was dann ein IPad kosten wür­de, stellt sich nicht – es gäbe kei­ne IPads mehr. Kei­ne Lap­tops. Kei­ne Tes­las. Elon Musk müss­te mit einer Sei­fen­ki­ste ins Welt­all flie­gen. Es gäbe kei­ne Ther­mo­sta­te, kei­ne Bit­co­ins, kei­ne Herz­schritt­ma­cher. Nicht ein­mal E-Bikes. Weil es für unse­re Elek­tro­nik­chips kei­ne Roh­stof­fe ohne Krie­ge gibt. Und weil wir für den Frie­den sind, wären wir selbst­ver­ständ­lich bereit, ohne all das aus­zu­kom­men. Das wäre eine Zei­ten­wen­de. Wir wür­den unse­re ana­lo­gen Foto­ap­pa­ra­te vom Dach­bo­den holen, Blen­de und Ver­schluss­zeit schät­zen und den Frie­den foto­gra­fie­ren. Denn egal wo, Frie­den wäre Frieden.