Macht ist in einer Gesellschaft sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft zur Durchsetzung von Zielen notwendig. Sie muss aber demokratisch verliehen sein und ebenso demokratisch kontrolliert werden, und es darf auf keinen Fall zu einem Machtmissbrauch kommen. In politisch demokratischen Ordnungen ist nur der Staat als gesellschaftlicher Überbau demokratisch zur Machtausübung legitimiert. In der marktwirtschaftlich-kapitalistisch orientierten Wirtschaft herrscht jedoch bis heute, bis ins 21. Jahrhundert, geradezu selbstherrlich das »personifizierte Kapital« (Karl Marx), insbesondere gegen die vom Kapital abhängige und zur Mehrwertproduktion ausgebeutete Arbeitskraft. Gerade hat das Statistische Bundesamt festgestellt, das 2019 acht Prozent der Erwerbstätigen ab 18 Jahren in Deutschland armutsgefährdet sind. Demnach bekamen 3,1 Millionen Menschen für ihre Arbeit nur einen Lohn, der unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung lag.
Aber auch auf den Güter- und Dienstleistungsmärken, neuerdings auch auf den Digitalmärkten und nicht zuletzt auf den Finanzmärkten hat sich eine ungeheure Macht etabliert. Immer größere Konzentrations- und Zentralisationsprozesse, damit in Folge die Möglichkeit zu immer mehr Machtmissbrauch, haben das idealtypische marktwirtschaftliche Leistungs- und Wettbewerbsprinzip längst ad absurdum geführt. Der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland und International, Thilo Bode, spricht heute in einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Machtkonzentration in der Wirtschaft zu Recht von einer »Diktatur der Konzerne. Wie globale Unternehmen uns schaden und die Demokratie zerstören«.
International agierende Multiunternehmen sind mächtiger als Staaten. Dazu nur ein Beispiel: Das größte deutsche Unternehmen und gleichzeitig der größte Autobauer der Welt, der VW-Konzern (schon immer in Skandale verwickelt), erzielte 2019 einen Umsatz von 252,6 Mrd. Euro. Die Beschäftigtenzahl lag bei 671.200. Pro Kopf betrug demnach der Umsatz 376.341 Euro. Im Vergleich dazu kam das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland je Erwerbstätigen nur auf 76.190 Euro und je Einwohner auf 41.508 Euro. Von 2010 bis 2019 legte bei VW der Umsatz um 99,1 Prozent zu; das deutsche Bruttoinlandsprodukt nur um 34,5 Prozent. Und von 2010 bis 2019 kam es bei VW zu einem Beschäftigtenwachstum um 72,8 Prozent, während die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland im gleichen Zeitraum lediglich um 10,3 Prozent zulegte. Das Eigenkapital des VW-Konzerns lag 2019, trotz Milliardenstrafzahlungen in zweistelliger Höhe infolge des Abgasskandals, bei immer noch 123,7 Mrd. Euro, und der Gewinn vor Steuern betrug 15,6 Mrd. Euro, was einer Profitrate von 12,6 Prozent entsprach.
Es ist doch völlig klar, dass solche Marktgiganten, und da ist VW nicht einmal der Größte weltweite Player, der Politik, den Staaten die Gesetze diktieren. Sie zahlen kaum Steuern, schädigen die Umwelt und verstoßen gegen Menschenrechte. Darüber hinaus verlangen diese übermächtigen Giganten auch noch beste öffentliche Infrastruktur, Subventionen und deregulierte Arbeitsmärkte. Der Staat soll den Unternehmen gefälligst billigste Arbeitskräfte zuführen und ihr gegebenes »Investitionsmonopol« (Erich Preiser) absichern. Für die riesigen volkswirtschaftlichen Schäden, die diese Unternehmensgiganten anrichten, haften die Eigentümer der Konzerne nicht. Sie kennen nur einen Trieb: maximale Profitraten. »300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es (das Kapital, HJB) nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens« nicht (Quarterly Reviewer, zitiert in: Karl Marx, »Das Kapital«, Bd. 1, 1867 (1974), S. 788).
Und dieser Profittrieb macht selbstredend vor dem demokratisch verfassten Staat nicht Halt. Politik hat heute so gut wie nichts mehr zu sagen. Der verstorbene Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer sprach es 1996 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor vielen Staatspräsidenten aus der ganzen Welt unverhohlen aus, als er sagte: »Ich habe bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden.« Auch der bekannte französische Finanzwissenschaftler Marc Chesney kommt in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) zu einem verheerenden antidemokratischen Befund: »Die Finanzlobbys sind in der Lage, ihre Interessen der Gesellschaft aufzuzwingen.« Und 2020 sagte der aus dem Macron-Kabinett zurückgetretene französische Umweltminister Nicolas Hulot in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau auf die Frage, warum er sein Amt aufgegeben habe: »Ich merkte, dass die Politik entmachtet worden ist durch die Finanzwelt.« Man könnte hier Hunderte weitere Belege für die Ohnmacht der Politik gegenüber der Herrschaft der Kapitalmächtigen und Plutokraten in der Wirtschaft anführen. Warum schafft es die Politik nicht, das weltweit vagabundierende und hochkonzentrierte Kapital an die »Kette« zu legen? Warum wurden die Finanzmärkte liberalisiert? Warum kann die Politik die vielen unsäglichen Steueroasen nicht schließen? Warum gibt es bis heute nicht einmal eine Finanztransaktionssteuer und in Deutschland seit 1997 keine Vermögenssteuer mehr? Warum beseitigt die Politik die Massenarbeitslosigkeit nicht? Warum hat die Politik einen Niedriglohnsektor geschaffen? Warum dürfen die Beschäftigten in den Unternehmen nicht mitbestimmen? Und so weiter und so fort.
Karl Marx würde über diese Fragen nur lächeln. Er nannte den bürgerlichen Staat und seine Politiker »Büttel« und einen »Ausschuss« zur Durchsetzung von Kapitalinteressen gegen die Arbeiterklasse. Marx erkannte dabei überdeutlich die kapitalismusinhärente Konzentration und Zentralisation des Kapitals; das Gesetz der erweiterten Akkumulation durch eine stetige Verwandlung des von den Arbeitern produzierten Mehrwerts in Kapital. Davon kann sich der Staat, kann sich Politik, nicht entkoppeln. Der Staat ist »Gefangener des Systems« und kein »neutraler Akteur« auf dem kapitalistischen Spielfeld. Er ist allenfalls der »ideelle Gesamtkapitalist« (Friedrich Engels).
Vom Autor erschien gerade die 6. Auflage seines Buches »Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratisierte Wirtschaft« im PapyRossa Verlag Köln, 780 Seiten, 38,00 €