Manchmal möchte man verzweifeln an diesem Land. An dessen »erwachsenen« Bürgern, von denen allzu viele das Neue (und Fremde) ablehnen, obwohl doch das »Alte«, das vermeintlich Bewährte nachweislich – und für immer mehr Menschen leidvoll spürbar – ständig neue Krisen heraufbeschwört und im Desaster zu münden droht. Im multiplen Desaster: Klima, Finanzen, Migration, Krieg, soziale Ungleichheit, Altersarmut – die Reihe fortzusetzen, hieße, in Depression zu versinken.
Auf irgendeine nennenswerte Veränderung hofft man auch nach der Bundestagswahl vergeblich. Alle nun wieder im Parlament vertretenen Parteien setzen im Großen und Ganzen auf ein »Weiter so«. Und seien wir ehrlich: Eine Auswahl ließen die dargebotenen Optionen ja gar nicht erst zu. Es ist, wie wenn man nach etwas »Zackigem«, etwas Gezacktem sucht und überall nur Rundes findet. Dann wählt man vielleicht – aus Ratlosigkeit – das am wenigsten »rund« Anmutende, das aber, wie man es auch dreht und wendet, doch nur rund bleibt.
Es ist mir peinlich, es zuzugeben: Auch ich habe diesmal allenfalls »Verlegenheits-Kreuze« gemacht und sie mit »taktischen« Überlegungen zu rechtfertigen versucht. Man kennt das: Wenn ich will, dass Partei A aus der Regierung fliegt, muss ich Partei B wählen. Politische Präferenzen? Zweitrangig! Besser gesagt: egal, da sich A und B und C und D, mittlerweile sogar E, ja kaum noch unterscheiden. Inzwischen bereue ich, meinem »Bürgerrecht« pflichtgemäß nachgekommen zu sein. Wenn ich tatsächlich gar keine Wahl habe, ist es dann nicht besser, nicht zu wählen? Ich wollte doch nichts Rundes.
Man stelle sich vor, ein Großteil der Bevölkerung käme zu einem ähnlichen Schluss. »Du lieber Himmel!«, werden die Politik-Ressorts rufen, dann käme am Ende die Partei F an die Regierung, die ihre Anhängerschaft am besten zu mobilisieren versteht. Wer weiß? Aber könnte ein derartiges, bewusst herbeigeführtes politisches Erdbeben, eine kollektive Revolte der Wähler, die Parteien und auch die Medien nicht endlich wieder zur Vernunft bringen? Und den rasenden Stillstand (die Krisen rasen, die Politik steht still) beenden?
Rekapitulieren wir kurz, was Parteien und Medien »Wahlkampf« genannt haben: Vom Klima war da die Rede, ja, zurecht, von Außenpolitik, internationalen Verträgen und dem Bekenntnis zu Militärbündnissen, von Schuldenbremse, Staatsfinanzen und Reichensteuer, von Energiesicherheit (für die Industrie), Investitionsförderung und einer Beschleunigung von Genehmigungsverfahren sowie, ganz weit vorn, von Digitalisierung. Doch was Millionen Menschen im Alltag bedrängt – prekäre Beschäftigungsverhältnisse, nicht ausreichende Renten, zu teurer und lückenhafter Nahverkehr, unbezahlbare Wohnungsmieten, steigende Energiekosten und andere Preissteigerungen, eine schlechter werdende Gesundheitsversorgung, ein verkrustetes Bildungswesen, würdelose Pflege, die vielschichtigen Probleme in der Landwirtschaft etc. pp. – war offenbar nicht des Wahlkämpfens wert (die Partei E sei hier zum Teil ausgenommen). Stattdessen sollte sich der »gemeine« Wähler (und natürlich auch die Wählerin) zwischen Parteien entscheiden, die die Autoindustrie mit Milliarden pampern und jedem Hartz-4-Empfänger erniedrigende Nachweispflichten abverlangen; die sich über einen milliardenschweren Militäretat einigen können, aber nicht auf einen Mindestlohn; die das »System«, den real existierenden Kapitalismus, der die Ursache aller im ersten Absatz genannten Krisen ist, nicht infrage stellen, sondern die »Probleme« mit denselben Denkweisen lösen wollen, die sie verursacht haben.
Das mutete zum Teil grotesk an, wie der nun glücklicherweise durchgestandene Wahlkrampf bewies. Nur einige Beispiele: Auf den Plakaten überbot man sich in dem Versprechen, das Rentenniveau zu »stabilisieren«, obwohl, was da stabilisiert werden soll, schon heute zu massiver Altersarmut führt. Da sollen die von der Überschwemmungskatastrophe zerstörten Ortschaften »wiederaufgebaut« werden; die nächste, schon vorhergesagte Katastrophe lässt grüßen. Da werden die für die Finanzkrise verantwortlichen Banken mit Milliarden an Steuergeldern »gerettet« und die immer reicher werdenden Reichen allenfalls mit Wattebäuschen »attackiert«. Da werden neue militärische Auslandseinsätze einer ersehnten »europäischen Eingreiftruppe« geplant, um die europäischen »Interessen« – welche, außer den wirtschaftlichen, wären das wohl? – effektiver durchzusetzen; und dafür müssen natürlich die Militärausgaben gesteigert werden, wodurch Mittel gebunden (verschwendet) werden, die unendlich viel sinnvoller eingesetzt werden könnten. Kohlekraftwerke sollen noch mindestens zehn Jahre weiterlaufen, um Arbeitsplätze (Wähler) zu schützen und Energiesicherheit (der Industrie) zu gewährleisten. Private Investitionen sollen gefördert werden, obwohl glasklar ist, dass Investoren weder am Klima, an der Gesundheit, am Gemeinwohl oder anderen solcher »sozialen Benefits« interessiert sind, sondern ausschließlich am eigenen Profit. Patente sollen geschützt bleiben, weil sich Forschung und Innovation weiterhin »lohnen« müssen, auch wenn solcher Schutz Millionen von Menschen buchstäblich schutzlos lässt. Kein Aufbruch, nirgends!
Bei den Medien würde ich (mit wenigen Ausnahmen) sogar von einem »Abbruch« sprechen. Von kritischer Berichterstattung, von einem Wahrnehmen der Alltagsnöte der Menschen, von der Suche nach Lösungen, von Inhalten kaum eine Spur. Stattdessen »personality«, die Kandidaten und die Kandidatin im »Dschungelcamp«: der ewig grinsende, dem Batman-Widersacher »Joker« ähnelnde Scholz; der lustige Laschet, der auch im Krisengebiet noch Humor zeigt; die plagiierende und ihren Lebenslauf aufhübschende Baerbock, die ihrem irrlichternden Co-Chef Habeck immerhin das Geschlecht voraushat – gemeinsam im »Triell« wie bei »Bauer sucht Frau«.
Haben wir das verdient? Ja! Wir wollen das offenbar so. Wir machen da mit. Auch ich habe »gewählt«. Ohne eine Wahl gehabt zu haben. Von heute aus besehen, bedaure ich das, wie schon erwähnt. Wie heißt es so schön: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wir können das Krisen-Karussell noch eine Weile kreisen lassen. Es geht uns – wem eigentlich? – ja vergleichsweise gut, heißt es immer wieder. Noch! Aber mit Politik, mit leidenschaftlichem Streit um »Lösungen«, um Änderungen, um Verbesserungen, ja, auch um das »System« – dessen Austausch mittlerweile von vielen beamteten »Fachleuten«, etwa den renommierten deutschen Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa (Der Spiegel, 10.10.2021), als unvermeidlich angesehen wird – hat all das nicht mehr viel zu tun.
Das sollte es aber. Die Dinge zum Besseren zu wenden (nicht, den Status quo zu erhalten) ist die höchste Aufgabe demokratischer Politik. Wir leisten uns das Parlament nicht, damit sich »unsere« Abgeordneten über ein gutes, krisensicheres, von ihnen selbst beschlossenes Gehalt, über Fahrbereitschaft, Dienstfahrrad und Bahncard 100, über Bürokostenpauschale und exorbitante Pensionsansprüche erfreuen – das sei ihnen alles gegönnt –, sondern (frei nach dem Philosophen Hans Blumenberg) damit ihre »Sorge über den Fluss geht«.
Vereinfacht ins Praktische übersetzt heißt das: Von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel gibt es nur einen kürzesten Weg (den über den Fluss), aber unendlich viel Umwege. Umwege, die Zeit und Energie kosten. Über Beides verfügen wir nur noch sehr begrenzt. Es hilft also nichts: Wir müssen den Fluss des mutlosen Mainstreams, des »Das haben wir immer schon so gemacht!« entschlossen überqueren, auf dem kürzesten Weg.
Das aber ist mit den »Fährleuten«, die jetzt zur Wahl standen, schwerlich denkbar. Mit einer SPD, der es peinlich scheint, sich energisch auf die Seite der Niedriglöhner und vielfach Prekarisierten zu stellen; mit Grünen, die ihr Lifestyle-Wohlfühlprogramm für eine selbsternannte Avantgarde auf keinen Fall mit dem Einsatz für Flüchtlinge oder echte soziale Gerechtigkeit beschweren möchten; mit einem FDP-Lindner, der nun schon zum zweiten Mal, nein, nicht die Richtung vorgibt, sondern jede »Ortung« verweigert und allerlei »Umwege« anbietet, um nur ja auf dieser Seite des Flusses zu bleiben. In »Sicherheit«.
Wie aber gelangen wir über den Fluss? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Ein »Programm« hierfür, eine Route, eine Furt, ist nicht oder allenfalls in Ansätzen erkennbar. Gerade deshalb ist eine Zeitschrift wie Ossietzky unverzichtbar. Nicht, weil wir alles besser wüssten, sondern weil uns bewusst ist, wie wenig wir wissen und wie wichtig deshalb »Aufklärung« und ein – so Kant – Aufbruch aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit« ist. Wenn alle, die das auch wissen, Druck machen, wenn sie sich mit ihren Möglichkeiten und in ihrem Umfeld für tatsächliche Veränderungen, für einen »Systemwechsel« engagieren – gewaltlos, aber entschieden – haben wir bzw. unsere Nachkommen vielleicht noch eine Chance. Bleiben wir hingegen, wie gehabt, auf dieser Seite des Flusses: Gute Nacht!