Wer nur die prallen, lebensfrohen, farbigen, großformatigen, zwischen 1960 und 1989 entstandenen Arbeits- und Liebesszenen des »neuen Menschen der DDR« von Willi Sitte (1921-2013) vor Augen hat, kennt den Meister nicht wirklich – auch nicht, wenn er noch zum Beispiel dessen Historien-, Agitations- und Kampfesbilder aus dieser Zeit dazu nimmt. Im Bewusstsein der meisten nicht nur Ostdeutschen, die gern freundlich spottend die Redewendung »lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt« gebrauchten, gilt er doch abwertend als Staatskünstler, der er tatsächlich auch war.
Die große Ausstellung »Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive« zu seinem 100. Geburtstag im Kunstmuseum Moritzburg in seiner Heimatstadt Halle (Saale) zeigt Leben und Schaffen sachlich und ganz ohne Häme und Verurteilung. Der Vorstandsvorsitzende der Ostdeutschen Sparkassenstiftung Sachsen-Anhalts, Michael Ermrich, nennt das in seinem Grußwort im Katalog: »angemessen und differenziert (…) und das erstmals ohne jegliche politische Instrumentierung«. Dargestellt wird Willi Sittes enge Bindung an die Staatsmacht der DDR, die mit dem Verfechten des »Sozialistischen Realismus« in der Kunst verknüpft war. Sie geht aber weit darüber hinaus. Die Kapitelüberschrift »Eine Facette von vielen« in dem opulenten Katalog könnte etwas umformuliert auch über dem Ganzen stehen, denn seine Kunst war, wie diese Ausstellung zeigt, überaus facettenreich, und sein Wirken als sogenannter Staatskünstler war nur eine der Facetten, wenn auch die, welche über die längste Zeit zum Tragen kam.
Die letzte Retrospektive in der DDR fand zu Sittes 60. Geburtstag 1981 an gleicher Stelle statt, in der Staatlichen Galerie Moritzburg in Halle (Saale). Es folgte ein Jahr später mit knapp 600 Werken die überhaupt größte Einzelausstellung des Meisters, und zwar in der Staatlichen Kunsthalle Berlin, im Westen der Stadt, ausgerichtet durch Dieter Ruckhaberle (1938 - 2018), einen umtriebigen Maler und Kulturmanager, der sich stark für die sozialen Belange von Künstlern und für sozialkritische Kunst engagierte.
Zu Willi Sittes 80. Geburtstag 2001 sollte wiederum eine große Ausstellung erfolgen, diesmal im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Sie war als Bedingung an das Überlassen seines schriftlichen Vorlasses an das Deutsche Kunstarchiv des Germanischen Nationalmuseums geknüpft. Dass sie von beiden Seiten schließlich abgesagt wurde, hatte Folgen nicht nur für die Akzeptanz der Kunst Sittes, sondern auch für die gesamte, im Osten Deutschlands in der DDR-Zeit entstandene Kunst. Das wird in der aktuellen Ausstellung vor allem durch die darin präsentierten Forschungsergebnisse der beiden konzeptionell Hauptverantwortlichen, Thomas Bauer-Friedrich, Direktor des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale), und Paul Kaiser, Direktor des Dresdner Instituts für Kulturstudien, nachvollziehbar. Ging es dem Künstler einzig allein um sein Werk, das er wieder einmal vereint sehen wollte, wollte das Deutsche Kunstarchiv, dem »Archiv-Auftrag« gemäß, die Archivalien in den Vordergrund stellen, wobei die Kunst nur der Anschauung dienen sollte. Das konnte dem Künstler nicht gefallen. Er machte zwar auch nach 1989 keinen Hehl daraus, dass er weiter an der Utopie des Sozialismus festhalte, war aber realistisch genug, vorherzusehen, dass das eine politische Abrechnung mit seinen Funktionen im staatlichen Gefüge der DDR erfolgen würde. So geschah es dann auch in einem statt der Ausstellung in Nürnberg durchgeführten Symposium, das den »Bilderstreit« um die Ostkunst befeuerte und Nachwirkungen bis heute hat. »Sitte vor Sitte« – so eine Kapitelüberschrift –, also in der Zeit bis zu seiner großen Selbstkritik am 2. Februar 1963 im Neuen Deutschland, war Prügelknabe der Partei gewesen, wegen seiner Tendenzen zum Formenkanon westlicher Kunst, etwa in Anlehnung an Picasso, Beckmann, Léger und Pop Art, und seiner Kritik am Realismus nach sowjetischem Vorbild. Später jedoch, als Vorsitzender im Verband Bildender Künstler, konnte er selbst hart gegen Mitglieder vorgehen, die von der Linie abwichen. Ein Beispiel wäre Annemirl Bauer (1939-1989), die er aus dem Verband ausschloss. Positiv für Sitte dagegen wieder steht, dass er sich für gute Lebens- und Arbeitsbedingungen und auch in vielen Fällen für das Privileg der Reisefreiheit der Mitglieder eingesetzt und ein gesellschaftliches Auftragswesen sowie den Staatlichen Kunsthandel als Verkaufsmöglichkeit geschaffen hat. Auch setzte er sich mit Hilfe seiner politischen Beziehungen nachweislich immer wieder zugunsten der Entwicklung der Kunsthochschule Burg Giebichenstein Halle ein, an der er über seine Pensionierung 1986 hinaus bis 1989 tätig war. Politisch war der Maler also ebenfalls ein facettenreicher Charakter. Der Historiker Jürgen Kuczynski (1904-1997) bezeichnete ihn 1992 als »linientreuen Dissidenten«. Die Vorgänge in Nürnberg hat Sitte schmerzlich im Hinblick darauf, wie man mit ihm in den 50er, 60er Jahren umgegangen ist, als das Schließen eines Kreises empfunden.
Thomas Bauer-Friedrichs Erkenntnis im Kapitel »Willi Sitte im wiedervereinigten Deutschland« lautet: »Pars pro toto wurde oft in der Be- und teilweisen Verurteilung des Funktionärs dessen Kunst gleich mit abqualifiziert, ohne dass man sich eingehender und vor allem anhand der Originale mit ihr auseinandersetzte.« Gleichsam als Schlusswort im Katalog hat er die Aufgabe dieser Ausstellung benannt: Sie solle »einen neuen Blick auf den so umstrittenen Künstler eröffnen und künftig anhand der Werke selbst und eines verantwortungsvollen Quellenstudiums eine reiche wissenschaftliche, publizistische und museale Auseinandersetzung mit seinem Leben und Werk« ermöglichen. Das ist sowohl der Ausstellung mit über 250 Werken, darunter selten oder bisher nie zu sehen gewesene Bilder, als auch dem 536 Seiten starken Katalog mit mehr als 400, größtenteils farbigen Abbildungen voll gelungen. Das Ergebnis berechtigt zu der Hoffnung, dass nun auch die vielen anderen Künstler der DDR-Zeit wieder aus den Depots hervorgeholt werden, denn es sind, wie Paul Kaiser betont, »jene beiden oft als verfeindet und unvereinbar dargestellten deutschen Kunstentwicklungen in Ost und West integrative Teile einer gemeinsamen, noch zu entwerfenden Kunstgeschichte«.
Sittes Welt. Willi Sitte: Die Retrospektive. Bis 9. Januar 2022 im Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale).