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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Will Russland Europa überrollen?

Um die Fra­gen zu beant­wor­ten, ob Russ­land impe­ria­li­stisch, ob es natio­na­li­stisch ist, ob es expan­die­ren oder gar Euro­pa über­rol­len wol­le, reicht es nicht, sich in abstrak­ten Defi­ni­tio­nen zu erge­hen, wie das gegen­wär­tig in der anti-rus­si­schen Pro­pa­gan­da geschieht. Not­wen­dig ist, von der Wahr­neh­mung des Gewor­de­nen aus­zu­ge­hen und die Ana­ly­se des Kon­kre­ten zu ver­su­chen. Das soll hier in aller Kür­ze in ein paar The­sen geschehen.

Erstens: Russ­land ist nicht Euro­pa. Russ­land ist aber auch nicht Asi­en. Russ­land ist das Gebiet zwi­schen Euro­pa und Asi­en – öko­no­misch, kul­tu­rell, poli­tisch, geo­gra­fisch. Von die­ser Situa­ti­on müs­sen wir aus­ge­hen, wenn wir Russ­land ver­ste­hen und mit ihm koope­rie­ren wol­len. Die­se Zwit­ter­si­tua­ti­on bestimmt den Cha­rak­ter die­ses Landes.

Alle Ver­su­che, die­ses Gebiet für Euro­pa, im wei­te­ren Sin­ne für den Westen zu ver­ein­nah­men, sind in der Geschich­te fehl­ge­schla­gen. Das gilt in den letz­ten Jahr­hun­der­ten für die Ver­su­che Napo­le­ons, für die Ver­su­che der deut­schen Wehr­macht im Ersten Welt­krieg, für die Ver­su­che Hit­lers; und es gilt auch für den Ver­such, den die Ame­ri­ka­ner nach dem Zer­fall der Sowjet­uni­on unter­nom­men haben, das Land öko­no­misch zu erobern. Die­se Tat­sa­chen beschrei­ben den Grund­kon­flikt zwi­schen Euro­pa, dem Westen und Russ­land, von dem bei der wei­te­ren Betrach­tung aus­zu­ge­hen ist.

Zwei­tens: Russ­land ist kein Natio­nal­staat euro­päi­scher Prä­gung, genau­er, kein ein­heit­li­cher Natio­nal­staat unter öko­no­mi­scher Domi­nanz, der als geschäfts­füh­ren­der Aus­schuss des Kapi­tals die opti­ma­len Bedin­gun­gen für des­sen Expan­si­on schafft. Russ­land ist ein Viel­völ­ker­staat, ein Viel­völ­ker­or­ga­nis­mus, des­sen bestim­men­des Orga­ni­sa­ti­ons­prin­zip die Inte­gra­ti­on ver­schie­de­ner Völ­ker durch das Mos­kau­er Zen­trum ist.

Drit­tens schließ­lich: Russ­land hat kei­nen Kapi­ta­lis­mus nach west­li­chem Muster her­vor­ge­bracht, auch in der Sowjet­zeit nicht, auch heu­te nicht, son­dern eben eine hybri­de Mischung von staat­li­chem Mono­pol­ka­pi­ta­lis­mus zum einen und aut­ar­ken Selbst­ver­sor­gungs­struk­tu­ren, man könn­te gera­de­zu sagen, Res­sour­cen­ver­wal­tungs­struk­tu­ren zum ande­ren. Bös­wil­li­ge Stim­men spre­chen von Russ­land als einer Tank­stel­le der Welt mit Zugang zum Finanzmarkt.

Mein Bild für dies alles ist ein Wagen­rad mit Nabe und Spei­chen, in dem Zen­tra­lis­mus hier und herr­schafts­fer­ne Ele­men­te da durch per­so­na­li­sti­sche Bezie­hun­gen im Gleich­ge­wicht gehal­ten wer­den. Tra­di­tio­nell waren das die zari­sti­sche Selbst­herr­schaft zum einen und auto­no­me, ten­den­zi­ell sogar anar­chi­sche Struk­tu­ren in der Wei­te des Lan­des zum ande­ren, aktu­ell sind es der Prä­si­dent und pri­va­te olig­ar­chi­sche Struk­tu­ren und Regio­nen. Theo­re­tisch kann die­se Struk­tur Bona­par­tis­mus genannt wer­den, aktu­ell auch auto­ri­tä­rer Libe­ra­lis­mus. Der Prä­si­dent als »Schieds­rich­ter«, der den Kon­sens zwi­schen den ver­schie­de­nen gesell­schaft­li­chen Kräf­ten auf­recht­erhält. Gewis­ser­ma­ßen Wahl­mon­ar­chie. Wer in Russ­land unter­wegs ist, kann die­sen Wider­spruch zwi­schen auto­ri­tä­rem Zen­trum und gera­de­zu anar­chi­schem Libe­ra­lis­mus täg­lich erle­ben, wenn es heißt: Russ­land ist groß, Mos­kau ist weit.

Betrach­ten wir vor die­sem Hin­ter­grund die Ankün­di­gung, die Putin bei sei­nem Amts­an­tritt 2001 vor­leg­te. Er benann­te zwei Ziele:

Erstens: Er wol­le die inne­re die Sta­bi­li­tät des Staa­tes wie­der­her­stel­len, die sich unter Jel­zin im Zuge der Pri­va­ti­sie­rung und Kolo­ni­sie­rung des Lan­des durch die USA auf­ge­löst hat­te. Putin kün­dig­te eine »Dik­ta­tur des Geset­zes« an – eine eige­ne Ord­nung statt fremder.

Zwei­tens: Er wol­le Russ­land als Inte­gra­ti­ons­kno­ten in Eura­si­en wie­der­her­stel­len, wie es sei­ner histo­ri­schen Rol­le ent­sprä­che. Damit griff er weit hin­ter die Sowjet­uni­on in die Geschich­te des rus­si­schen Zaris­mus zurück. Das war eine kon­ser­va­ti­ve und zugleich pro­gres­si­ve Ori­en­tie­rung. Mein Stich­wort dafür ist: auto­ri­tä­re Modernisierung.

Die­se Ansa­ge war aber mit­nich­ten ein impe­ria­les Pro­gramm im Sin­ne einer kolo­nia­len Aus­wei­tung der Herr­schaft rus­si­schen Kapi­tals, gar einer Erobe­rung Euro­pas. Es war ein Pro­gramm der Restau­rie­rung zur Wie­der­her­stel­lung der staat­li­chen Sou­ve­rä­ni­tät des Lan­des und sei­ner inte­gra­ti­ven Rol­le im eura­si­schen Raum. Es war ein defen­si­ves Pro­gramm der Rück­kehr Russ­lands zu sich selbst, das jedoch, das ist zu beto­nen, die akti­ve Koope­ra­ti­on mit der sich her­aus­bil­den­den mul­ti­po­la­ren Welt mit einschloss.

Man erin­ne­re sich an die Lie­bes­wer­bung Putins 2001 im deut­schen Bun­des­tag. Von Expan­si­on kei­ne Spur. Auch die fol­gen­den Jah­re sind nicht von rus­si­scher Expan­si­on gekenn­zeich­net, son­dern, im Gegen­teil, durch stän­dig wie­der­hol­te Ange­bo­te der Koope­ra­ti­on zur Her­aus­bil­dung einer mul­ti­po­la­ren, neu­en Neu­ord­nung im Rah­men der Ver­ein­ten Natio­nen. Expan­diert und ten­den­zi­ell kolo­ni­siert haben dage­gen die EU, die Nato, die USA, also die west­li­chen Mäch­te bis direkt vor die Tür Russ­lands. Dies alles beschreibt, wenn man hin­ter die Pro­pa­gan­da schaut, eine defen­si­ve Grund­po­si­ti­on, in der Russ­land sich seit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on befindet.

Putin steht also als Per­son mit sei­nem Antritt dafür, Russ­land nicht wei­ter zu einer Kolo­nie der ame­ri­ka­ni­schen Expan­si­on und zum Teil der ame­ri­ka­ni­schen One-World-Kon­zep­ti­on wer­den zu las­sen, wie es unter Jel­zin gelau­fen war, son­dern Russ­land, im Gegen­teil, zum Impuls­ge­ber für die nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on ent­ste­hen­de, mul­ti­po­la­re Welt­ord­nung zu machen, die den ame­ri­ka­nisch domi­nier­ten One-World-Glo­ba­lis­mus ablö­sen könn­te. Das ist die poli­ti­sche Dimen­si­on der neue­ren Geschichte.

Die Ukrai­ne spielt dar­in die Rol­le, die Brze­zin­ski ihr zuge­wie­sen hat, näm­lich Stoß­keil dage­gen zu sein, dass Russ­land wie­der ein Impe­ri­um wer­den kön­ne. Dazu kann man sagen: Man kann Russ­land in sei­ner Inte­gra­ti­ons­rol­le durch­aus Impe­ri­um nen­nen. Aber es ist kein Impe­ria­lis­mus west­li­chen Typs, der sich auf Kapi­tal­ex­port und aggres­si­ve mili­tä­ri­sche Domi­nanz über kolo­ni­sier­te Gebie­te außer­halb des eige­nen Staats­ge­bie­tes stützt. Russ­land ist ein inte­gra­ti­ves Modell, das kolo­ni­sier­te Gebie­te in sei­nen Orga­nis­mus inte­griert hat, wäh­rend es nach außen hin koope­riert. Es ist ein Modell, das in der Sowjet­zeit dazu geführt hat, in der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Westen/​USA in mas­si­ver Wei­se anti­ko­lo­nia­le bzw. nach­ko­lo­nia­le Bewe­gun­gen zu unter­stüt­zen. Dar­an hat sich die Sowjet­uni­on zwei­fel­los über­nom­men. Jetzt wirkt die­se Poli­tik der Uni­on jedoch als Unter­stüt­zung aus die­sen Län­dern auf Russ­land zurück; vie­le die­ser Län­der tra­gen den Sank­ti­ons­krieg gegen Russ­land nicht mit.

Aber in dem Maße, in dem die Ansa­ge des nach­so­wje­ti­schen Russ­lands, Impuls­ge­ber für die Her­aus­bil­dung einer mul­ti­po­la­ren Welt sein zu wol­len, vom Westen nicht nur nicht gehört wur­de, son­dern genau die­ser Impuls, die­se Rol­le Russ­lands im Inter­es­se der Auf­recht­erhal­tung der One-World-Domi­nanz vom Westen syste­ma­tisch bekämpft wur­de, hat sich die Situa­ti­on her­ge­stellt, die wir heu­te haben, näm­lich: dass Russ­land sich wehrt, dass es sei­ne Sou­ve­rä­ni­tät ver­tei­digt, dass es sich abschot­tet gegen den Glo­ba­li­sie­rungs­an­spruch des Westen, wäh­rend es gleich­zei­tig sei­ne Türen für die Ent­wick­lung mul­ti­po­la­rer Bezie­hun­gen öffnet.

Was die skiz­zier­te Ent­wick­lung mit der inne­ren Situa­ti­on Russ­lands macht, ob es sie öff­net oder wei­ter ins Auto­ri­tä­re treibt, ist eine zwei­te, sehr wich­ti­ge Fra­ge. Die­se Fra­ge muss man stel­len – aber im Bewusst­sein der äuße­ren Bedro­hung, der Russ­land vom Westen her aus­ge­setzt ist.

Der vor­lie­gen­de Text ist eine leicht über­ar­bei­te­te Fas­sung eines Refe­rats, das bei einem »Web­i­nar« im Rah­men der Frie­dens­be­we­gung am 07.07.2022 unter dem Titel »Russ­land – auto­kra­tisch, natio­na­li­stisch, impe­ria­li­stisch?« vor­ge­tra­gen wurde. 

Dazu Kai Ehlers: »Russ­land – Herz­schlag einer Welt­macht«, über www.kai-ehlers.de.