Es war Anfang November, die Herbsttrübnis glitt bereits in die Abenddämmerung hinüber. Ich fuhr die Karl-Marx-Allee hinunter zum Alexanderplatz, am Ende der Magistrale stand das Verlagshaus, wo sich einst mein Arbeitsplatz befand. Die Redaktionen mehrerer Tages- und Wochenzeitungen arbeiteten damals dort, darunter auch Die Weltbühne, in dessen Nachfolge dieses Blättchen steht. Wir saßen damals Tür an Tür in der achten Etage, bis der neue Eigentümer des Bauwerks – das Hamburger Verlagshaus Gruner+Jahr – uns vor die Tür setzte. Zur Immobilie, die nun vermarktet wurde, gehörte auch das Pressecafé daneben – auf das direkt die vierspurige Magistrale stieß, um dort im rechten Winkel nach links in die Karl-Liebknecht-Straße zu biegen, deren Verlängerung über die Allee Unter den Linden zum Brandenburger Tor führte.
Ins Pressecafé gelangte man über eine Außentreppe, und die benutzten nicht nur Journalisten von nebenan, sondern auch viele Touristen: Durch die großen Fenster schaute man die Karl-Marx-Allee hinunter bis zum Strausberger Platz, und das Essen war auch nicht schlecht. Der Flachbau wurde gleichsam gekrönt von einem Wandbild aus Emaille, 76 Meter lang und dreieinhalb Meter hoch. Der Genius loci hatte Titel und Thema vorgeben: »Die Presse als Organisator«. Zu sehen waren schreibende, fotografierende, reportierende, lesende Menschen und welche, die Knöpfe an Rotationsmaschinen bedienten, sowie laufende, reitende und kugelstoßende Sportler (Sport nahm in den DDR-Medien einen großen Raum ein.) Mit ein wenig Fantasie konnte man meinen, dass ein bärtiger Kopf im Hintergrund Karl Marx sein könnte. Die Darstellung war frei von Pathos und antiquierten Chiffren und fügte sich organisch in das künstlerische Gesamtkonzept, das der Maler Walter Womacka für die Umgestaltung des hauptstädtischen Alexanderplatzes in den sechziger Jahren entwickelt hatte.
Diesen Fries hatte Willi Neubert zwischen 1969 und 1973 geschaffen. Er hatte sich in einem Wettbewerb damit durchgesetzt. Denn alle geplanten Kunstwerke auf und rund um den Alexanderplatz waren öffentlich ausgeschrieben worden. »Für die Weltzeituhr (John) und das Pressecafé kamen Angebote, die überzeugten. Sie wurden, wenn auch unter Mühen, realisiert«, heißt es in den 2004 erschienenen Memoiren von Walter Womacka. »Das Wandbild von Willi Neubert am Pressecafé – seit der ›Wende‹ hinter den Werbeplatten eines Steakhauses verborgen – war als Emailbild konzipiert.«
Seine Verhüllung erfolgte 1992, seither wurden im einstigen Pressecafé nur noch Steaks durchgekaut, keine Nachrichten oder die Informationspolitik im Allgemeinen. Wir, die wir nach dem Ende der DDR Zeugen hirnloser antikommunistischer Bilder- und Denkmalstürmerei geworden waren, trösteten uns mit dem Gedanken, dass das Neubert-Kunstwerk zumindest nicht zerstört worden war. Aber würde man es jemals wieder sehen? An diesem exponierten Platze? Mit diesem Titel? Der Zweifel schwang stets mit.
Ich fuhr also an diesem 9. November anno 21 auf der Karl-Marx-Allee auf jenes Haus zu. Und im trüben Dunst meinte ich plötzlich Neuberts Wandbild zu erkennen. Halluzinierte ich etwa? Beim Näherkommen verschwand es keineswegs. Das Bild strahlte geradezu im Dunst, weil frisch restauriert. Die Bretter waren verschwunden und auch der alberne Werbe-Würfel, den man dem einstigen Restaurant aufs Dach gesetzt hatte. Mit den Bauwerken daneben und dahinter bildete das Pressecafé mit dem Fries auf einmal wieder das ansehnliche Ensemble, wie es zu DDR-Zeiten erdacht worden war.
Was war geschehen, dass nach fast dreißig Jahren Verstecktsein – länger als die Zeit, als es damals zu sehen gewesen war – nun plötzlich dieses künstlerische Kleinod wieder sichtbar wurde? Neuberts 100. Geburtstag war’s wohl nicht: Der Nationalpreisträger und Ehrenbürger der Stadt Thale im Harz hätte ihn bereits am 9. November 2020 gefeiert, sofern der einstige Stahlwerker aus den Eisen- und Hüttenwerken Thale nicht 2006 verstorben wäre. Aber immerhin: Zu seinem 101. Geburtstag war er öffentlich in Berlin wieder präsent (sein Tafelbild »Gestern – Heute« aus dem Palast der Republik ist im Depot des Deutschen Historischen Museums versteckt).
Im großen Immobilienschacher im Osten war auch hier ein Eigentumswechsel erfolgt, das Pressehaus nebst Pressecafé übernahm 2016 ein US-amerikanisches Unternehmen, das in den Metropolen der Welt bekannte Häuser besitzt, in New York etwa das Chrysler Building und das Rockefeller Center. Die schlimmsten Befürchtungen erfüllten sich gott- oder wem auch immer lob nicht. Auch der 2019 nachfolgende Eigentümer hielt sich an die Vorgaben, die das Landesdenkmalamt formuliert hatte: Es hatte 2013 die fünf Kunstwerke – den Brunnen und die Weltzeituhr auf dem Alex, das Wandfries am Haus des Lehrers, das Kupferrelief am Haus des Reisens sowie Neuberts Wandbild – als Elemente des künstlerisch-architektonischen Gesamtkonzepts des Stadtzentrums der DDR-Hauptstadt gewürdigt, sie seien dessen integraler Bestandteil. Daraufhin war 2015 beschlossen worden, die gesamte Baueinheit – also Verlagshaus und Pressecafé – wie auch die anderen Objekte unter Denkmalschutz zu stellen. Damit erledigten sich alle Umbau- und Abrisspläne, die bereits diskutiert wurden.
Am nächsten Morgen, als die Sonne aufging und die Ostseite des Wandfrieses zum Glänzen brachte, war ich wieder dort. Die unterschiedlichen Rottöne leuchteten kräftig, die Linien zogen sich in Wellen über drei Seiten hin. Es wirkte modern, frisch, lebendig, als sei das Bild, obgleich doch schon ein halbes Jahrhundert alt, erst eben entstanden. Doch nein, es kann ja nicht heute entstanden sein: Diese Kunst am Bau kennt man nicht mehr – zu teuer, zu aufwendig. Graffiti muss genügen.