1995 übersiedelte der Berliner Maler Horst Zickelbein, damals immerhin schon 69, auf die dänische Insel Bornholm, auf felsiger Landmasse gelegen und durch eine Steil- und Felsküste im Norden und flache Sandstrände im Süden begrenzt. Hier, an den sich ständig verändernden Randzonen zwischen Land und Meer, konnte er den Schöpfungsakt der Natur und des Lebens täglich neu erleben. Seitdem war es um ihn – zumindest in Berlin – stiller geworden. Nur in größeren Abständen stellte er hier noch aus, so zuletzt 2017 in der Galerie Pankow. Aber die großen deutschen Museen sind ihm, dem heute Sechsundneunzigjährigen, eine längst verdiente Personalausstellung bisher schuldig geblieben. Jetzt haben die Galeristin Katrin Brandel und die Kunsthistorikerin Anita Kühnel Arbeiten aus vier Jahrzehnten nach Berlin geholt, und es gibt in der ZeitGalerie Friedrichshagen ein Wiedersehen mit dem nicht nur für die Berliner Malerei so bedeutenden, innovativen Künstler.
In den 1960er Jahren gehörte Zickelbein zur sogenannten »Berliner Schule« um Harald Metzkes und Manfred Böttcher, die mit ihrem »Natur- und Auge«-Prinzip die Existenz einer malerischen Kultur sicherte. Sie gelangten zu einer »Kultivierung der Bildhaut«, die etwas Ähnliches darstellte wie die von Cézanne angestrebte »Harmonie parallel zur Natur«.
Doch neue Farb- und Formerlebnisse, die der Maler im Darß mit seinen bizarren, urhaften Formen und in der rumänischen Landschaft hatte, sowie die Auseinandersetzung mit der dripping-Methode – des Auftropfens der Farbe – des amerikanischen Malers Jackson Pollock ließen ihn neue Wege gehen. Er entzog Pollocks Verfahren weitgehend dem Zufall und prüfte es an den strengen Gesetzen eines von der Natur inspirierten bildnerischen Denkens. Aus Flecken und Spritzern, aus ineinandergreifenden Spuren und überlagernden Verläufen bauten sich seine Arbeiten auf. Farbe wurde jetzt zum Ur-Element, zum direkten Zeichen, als Spur, Hieb oder Fleck. Raum ist nur da, sofern er in der Farbe ist. Alle naturalistischen Elemente wurden aus seinen Bildern verbannt und nur noch die Grundstrukturen zugelassen.
Seine Farbräume hat Zickelbein so aufgebaut, dass sich aus ihrem Ur-Grund die ersten Spuren einer Verfestigung von Materie aus einer Ballung von Licht und Dunkel abzeichnen. Die Bildfläche tendiert zum Relief, lässt flächenhafte Formelemente, die gemalt begonnen haben, nahezu plastisch enden. In die gespachtelte, durch dicken Farbauftrag haptische Bildfläche werden mit hartem Pinselstil Spuren eingegraben, die halb getrocknete Farbschicht wird mit Spachtel und Messer wieder abgetragen, so dass partienweise die unteren Farbschichten wieder stärker sichtbar werden.
1978 und 1979 war er nach Zypern gereist und kehrte wieder zum malerischen Sensualismus der 1960er Jahre zurück. Über die Entdeckung antiker Baureste, der Bruchkanten unterschiedlicher Gesteinsformationen und von Erosion geformter Fundstücke rückte das Fragment als Thema ins Zentrum seines künstlerischen Interesses. Nunmehr schienen die Formen der Bilder zu explodieren, damit alle dynamischen Kräfte entfesselt wurden und zur völligen Freiheit gelangten. Das konnte bis zu Ballungen von Zusammenstößen führen.
Halluzinatorische Figurenbilder finden sich bei Zickelbein. Figürliche Bezüge, die Darstellungen auf prähistorischen Felsbildern ähneln. Wie eine Erinnerung taucht aus dem Untergrund das verloren geglaubte Menschenbild auf. Das Figurale gleicht mehr einer Art heraufzubeschwörender Erscheinung als einer zu beschreibenden Wirklichkeit. Es ist ihm egal, ob man ihn nun als gegenständlichen oder abstrakten Maler bezeichnet. Oft finden sich bei ihm in demselben Bild figurative und abstrakte Elemente in einer Verbindung, die manchmal eine beunruhigende Disharmonie hervorruft. Das eigene Ich, das sinnlich-Triebhafte verliert sich dann bei ihm in die Vergeistigung der reinen Form.
Eigentlich hat Zickelbeins Malerei die dritte Dimension gar nicht nötig, weder eine reale noch eine durch einen Kunstgriff zu erreichende. Denn die in zwei Dimensionen ausgedrückte Farbe besitzt in sich schon eine räumliche Tiefenwirkung. Gewisse Farben zeigen den Tiefenraum an (etwa das Blau), andere stehen weiter vorn (das Rot). Bestimmte Farben strahlen von innen nach außen (das Gelb), andere von außen nach innen (das Blau). Einige vermitteln Bewegung (Rot, Gelb, Blau), andere scheinen unbeweglich und wieder andere vereinigen in sich sogar Beweglichkeit und Unbeweglichkeit (Rosa, Violett). Diese Eigenschaften können noch durch die Beziehungen der Farbe weiterentwickelt werden. Die Graus und undurchsichtigen Brauns, verschlossen wie Felsen, glatt wie Mauern, häufen in sich die Energien, wie sie sich seit dem Ursprung des Lebens in Steinen, der Erde, dem Schlamm ansammeln. Ihre Glut, die unter der Oberfläche glimmt, ringt kaum merklich darum, zur Wahrnehmung zu gelangen. Die flüssige Farbmaterie bleibt erhalten, der Maler sucht alles zu vermeiden, was die Form begrenzen und verhärten könnte. Von seinen Bildern geht eine Atmosphäre verhaltener Kraft aus, die das glühende Feuer unter dieser gesteinshaften Schwere nicht vergessen lässt (»Granit«, 1996, Dispersion; »Gestein«, 2003; »Stein auf Stein«, 2012, Öl auf Karton).
Aus dem ungestümen Pinselduktus zieht der Maler diese starke innere Energie, eine Urkraft, die in jedem Farbfleck, Tupfen, Kritzel und Farbhäkchen gespürt und um sie herum übermittelt werden kann. Es sind gerade die Landschaften mit ihrem farblichen Allegro furioso und ihrer eigentümlichen Luftleere – sie resultiert daraus, dass eine aufragende Farbenmauer den Himmel verdrängt –, die die Bildfläche in ein Kontinuum von kleinen Episoden verwandelt. Wenn man einmal die farblich abgestufte Oberfläche eines Bildes wie »Flecken wunderbar angeordnet« (1995) mit ihren harmonischen Braun-, Rot-, Blau-, Grau- und Silbertönen betrachtet, dann weiß man, wie hervorragend er seine Technik beherrscht. Mit so wenig Kontrasten von Hell und Dunkel wird die Oberfläche zu einem subtil modulierten Raum, der nichts mehr mit dem kubistischen Gitterraum zu tun hat. Das Auge muss nicht mehr in die Tiefe gehen und dann zurückkommen – hier gibt es nur noch die hin und her pendelnde, kurvende und springende Bewegung von Partikeln »auf« der Oberfläche. Und sicher beschwor Zickelbein mit dem atmosphärischen Raum seiner »All-over«-Bilder, den verschwenderischen Energiewirbeln und dem scheinbar freien Lauf seiner optischen Felder eine Landschaftserfahrung, die er auf seinen Reisen und in seiner neuen Heimat Bornholm wahrgenommen hat. Diese imaginierten Landschaften öffnen Blick und Gedanken auf bestimmte Gegenstände der Natur, in der diese ihr Geheimnis verborgen hält, oder sie öffnen sich ins Unendliche (»Lesbos 2, Die Bucht«, 2010).
In seinen späteren Arbeiten nimmt die Monochromie zu, Farbsensationen sind nicht mehr allzu häufig. Doch dann ist da plötzlich ein überwältigendes strahlendes Blau, wie in einem vorbewussten Urlicht, das einen die gesteinshafte Schwere vergessen lässt. Das Suchen nach einer im Geheimen immer reicher werdenden Einfachheit führt Zickelbein zu einer Ausdrucksform, die den Betrachter dieser schweigsamen Flächen von starker poetischer Kraft in ihren Bann zwingt. In diesen Bildern ist die Zeit eingeschlossen und wird so mächtig, dass sie fast den Raum verdrängt, oder besser gesagt: der Raum wird Zeit. Es sind Bilder, die den Betrachter immer noch etwas Neues entdecken lassen und die ihm doch ein Stück Geheimnis vorenthalten. Am 20. Dezember begeht Horst Zickelbein seinen 97. Geburtstag.
Horst Zickelbein – Arbeiten aus vier Jahrzehnten. ZeitGalerie Friedrichshagen, Scharnweberstr. 59, 12587 Berlin, Mi – Fr 12 – 18 Uhr, Sa 10 – 13 Uhr (zum Kunstadvent am 4.12. 13 – 18 Uhr), bis 9. Dezember.