Michail Gorbatschow entwarf das Ideal vom »gemeinsamen europäischen Haus«. Die heutigen politischen Eliten leiden an Amnesie und verdrängen alles, warum und wie es geschehen konnte. Von Realität, Seriosität und Augenmaß haben sich deutsche Politiker/-innen Lichtjahre entfernt. Verbale Aufrüstung und Beleidigungen im Gossenjargon sind angesagt. Frau Bae. vom Werderschen Markt giftet als deutsche Penthesilea sanktionsgierig gen Osten. Potenzierte Russophobie allerorten – sie trifft Nachbarn, Freunde, Kollegen, Kinder, Lehrer in Schulen, Studierende an Universitäten, Künstler und Musiker.
Die neue Bundesregierung versagte diplomatisch total in dem seit Monaten heraufbeschworenem Ukraine-Konflikt. Er wurde geradezu befeuert, um Russlands Wirtschaft »zu erwürgen«. Bundespräsident Steinmeier forderte von Putin, die Schlinge um die Ukraine zu lösen. Gilt nicht das Gleiche für die Menschen von Rostow bis Anadyr?
Eine Wende im Konflikt deutet sich an. Die Türkei, Israel und Frankreich waren offenbar starke Vermittler. Dank der Reise- und Telefondiplomatie kam es zum ersten Treffen zwischen den beiden Außenministern Lawrow und Kuleba. Es wäre vermessen gewesen, eine Lösung zu erwarten. Tags zuvor unternahmen Putin und Scholz telefonisch »politisch-diplomatische Anstrengungen« zur Lösung des Konflikts. Im Vorfeld erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sich bereit, über den Status der Donbassgebiete und der Krim zu sprechen. Das russische Außenministerium verlautbarte, die Truppen hätten nicht den Auftrag, die Regierung in Kiew zu stürzen. Man wolle auch die Ukraine nicht besetzen.
Die fernere Entwicklung bleibt abzuwarten. Priorität hätte eine sofortige Waffenruhe ohne jegliche Vorbedingungen beider Seiten. Evakuierungskorridore bedeuten nämlich das Gegenteil.
Die explosiven Realitäten der Gegenwart sind die Schlimmsten nach den Hochzeiten des Kalten Krieges. Präsident Wladimir Putin hat die Russische Föderation, deren Nachbarn und Europa in einen Krieg geführt. Dieser Krieg hat sein Gesicht und trägt seinen Namen. Die Folgen werden für Jahrzehnte Politiker im Kreml, die Menschen dieses Riesenreiches und seine Freunde als Parias brandmarken.
Scheinbar ausweglose Konfrontationen in der Vergangenheit wurden diplomatisch im weitesten Sinne bewältigt. Ähnlich hochbrisante Situationen hatten Truman und Stalin, Chruschtschow und Kennedy 1948, 1961 und 1962 um Berlin und Kuba heraufbeschworen. Erinnert sei an den Korea-Krieg, der 1950 begonnen hatte. Nach zweijährigen Verhandlungen wurde im Juli 1953 ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen. Es stellte den Status quo ante weitgehend wieder her. Aber 940.000 Soldaten und etwa drei Millionen Zivilisten waren diesem sinnlosen Gemetzel zum Opfer gefallen – ein Grauen, das nun auch in der Ukraine unendliches Leid verursacht.
Der Modus vivendi einer halbwegs friedlichen Koexistenz führte zur Schlussakte von Helsinki und schloss trotzdem Konfrontationen wie nach dem Nato-Doppelbeschluss nicht aus. Erinnerlich ist Honeckers Forderung, dass das »Teufelszeug« von deutschem Boden verschwinden müsse; er meinte die Raketen in Ost und West.
Nach dem 2+4-Vertrag, mit dem ein Schlussstrich unter den 2. Weltkrieg gezogen worden war, näherte sich die Nato in Europa vorwärtstrategisch Russland. BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte im Januar 1990 bei einer Rede in Tutzing noch gesagt: »Sache der Nato ist es zu erklären, was immer im Warschauer Pakt geschieht – eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben.«* Sogar der deutsche Nato-Generalsekretär Manfred Wörner bekräftigte, man wolle »weg von der Konfrontation hin zur Kooperation mit allen Staaten in Europa und insbesondere mit der Sowjetunion.«
Die Archive im Bundeskanzleramt und im Domizil von Frau B. am Werderschen Markt scheinen Lücken aufzuweisen. Dort müsste die am 27. Mai 1997 in Paris unterzeichnete Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nato und der Russischen Föderation als völkerrechtliche Absichtserklärung zu finden sein. Der wichtigste Satz lautet: »Die Nato und Russland betrachten einander nicht als Gegner.« Im Einklang mit der Arbeit der OSZE an einem gemeinsamen und umfassenden Sicherheitsmodell für Europa im 21. Jahrhundert wollten Nato und Russland anstreben, »in Europa einen gemeinsamen Sicherheits- und Stabilitätsraum ohne Trennlinien oder Einflusssphären zu schaffen, die die Souveränität irgendeines Staates einschränken.« Der Wortlaut ist öffentlich nachzulesen.** Die Grundakte bekräftigte für die Nato als Ganzes das Budapester Memorandum von 1994, in dem Russland, die USA und Großbritannien die Unabhängigkeit und Souveränität sowie die bestehenden Grenzen der Ukraine garantierten. Die Nato gab ihre Einkreisungspolitik jedoch keineswegs auf.
Die spanische Zeitung El País veröffentlichte im Internet Dokumente, bei denen es sich um die unter Verschluss gehaltenen Antworten der Nato und der USA auf Russlands Vorschläge für neue Sicherheitsvereinbarungen handeln soll. Ein Dementi gab es nicht. In den Schriftstücken stellten Washington und das Militärbündnis klar, dass ein Großteil der russischen Vorschläge für sie nicht akzeptabel sei. Dies dürfte mit der Anlass für die Duma wie für Putin gewesen sein, die »Militäraktion« zu beginnen. Der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière äußerte in einem Interview mit der Zeitschrift Cicero, »der Westen hat nicht zugehört«. Die Kriegslogik Putins sei nicht zu rechtfertigen, aber die russischen Interessen hätten einbezogen werden müssen.
Ist es wirklich Putins Krieg? Warum wurde die Russische Föderation als europäischer Vielvölkerstaat nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht direkt Mitglied der Nato? Die entsprechende Passage in der Putin-Rede vom 21. Februar 2022 wurde bisher weder zitiert noch kommentiert. Hier der Wortlaut: »Im Jahr 2000, als der scheidende US-Präsident Bill Clinton Moskau besuchte, fragte ich ihn: ›Was würde Amerika davon halten, Russland in die Nato aufzunehmen?‹ Ich werde nicht alle Einzelheiten dieses Gesprächs preisgeben, aber die Reaktion auf meine Frage sah nach außen hin, sagen wir sehr zurückhaltend aus, und wie die Amerikaner tatsächlich auf diese Möglichkeit reagierten, sieht man an den praktischen Schritten gegenüber unserem Land. Dazu gehören die offene Unterstützung von Terroristen im Nordkaukasus, eine ablehnende Haltung gegenüber unseren Forderungen und Sicherheitsbedenken im Bereich der Nato-Erweiterung, der Ausstieg aus dem ABM-Vertrag und so weiter. Da fragt man sich: Warum, wozu das alles? Gut, sie wollen uns nicht als Freund und Verbündeten sehen, aber warum sollten sie einen Feind aus uns machen?«
Den Krieg in der Ukraine haben die Führungseliten im Weißen Haus und im Kreml inspiriert, initiiert, beschleunigt, um ihre Politik mit anderen, nämlich militärischen Mitteln durchzusetzen. Es ist nichts anderes als ein imperialistischer Stellvertreterkrieg um politische Einflusssphären, Märkte und Rohstoffreserven. Die Russische Föderation wurde unter Jelzin und Putin zu einem kapitalistischen Staat der Oligarchen deformiert. Putin hat die Macht mit ihnen geteilt und ist ihr Nutznießer, muss also ihre Pfründe gegen jeden Zugriff von außen sichern, koste es, was es wolle.
Die innenpolitischen Zustände in der Ukraine und die Hinhaltetaktik der EU, was deren Aufnahme betraf, boten Washington zunächst per Orangener Revolution eine Chance, um sich Einfluss zu verschaffen und das Land als Speerspitze der Nato gegen Russland zu profilieren. Nach Ian Traynors, langjähriger Moskau- und Osteuropa-Korrespondent des britischen Guardian, folgten die USA einem Muster, das in Jugoslawien entstanden sei, um die Regierung mit Slobodan Milošević zu stürzen.
Laut Guardian wurden die Aktivitäten von westlichen Regierungen, Agenturen und Organisationen finanziert und unterstützt. Da fehlte weder die Konrad-Adenauer-Stiftung noch das US-Außenministerium oder die zum großen Teil von der US-Regierung finanzierte Organisation »Freedom House«. Die Wochenzeitung Die Zeit behauptete unter anderem, Wiktor Juschtschenko, von 1999 bis 2001 Ministerpräsident und von 2005 bis 2010 Präsident der Ukraine, und seine Klientel hätten allein aus den USA mindestens 65 Millionen US-Dollar über verschiedene Kanäle erhalten. Deren Ziel sei es gewesen, auf diese Weise die Nato auszudehnen und (siehe da!) die EU zu schwächen. Juschtschenko versprach zudem, dass er den Plan für einen euroasiatischen Wirtschaftsraum zerreißen werde, sollte er gewinnen.
Genau das ist der Punkt, wo statt Freiheit, Demokratie, Menschenrechten, und Völkerrecht der wirkliche Uncle Sam ins Licht rückt und sich Sanktionen als perfide Falle und Bumerang erweisen. Es geht schlichtweg um Öl, Gas, Getreide, Märkte und Profite für die US-Wirtschaft. In Präsident Joe Bidens erster Rede zur Lage der Nation verschleierten die harten Töne gegen Putin das politische Dilemma der vermeintlichen »Welt«führungsmacht nach dem 20jährigen Afghanistan-Fiasko. Die hohe Inflationsrate sowie das Aus für das geplante Sozial- und Klimapaket lassen die Umfragewerte des Präsidenten sinken. Da bleibt die Parole America first des rüden Amtsvorgängers Trump hochaktuell. Daher: Ukrainians to the front und Resteuropa West gleich mit. Wenn weit hinter dem großen Teich die Völker aufeinanderschlagen, kann Sleepy Joe sich schadenfroh die Hände reiben.
Warum redet eigentlich niemand von den vorrangigen wirtschaftlichen Interessen Washingtons? Denn mit den Sanktionen lasten die USA ihren Verbündeten immense unkalkulierbare wirtschaftliche Folgen und Risiken auf, strangulieren ihre Haushalte durch erhöhte Rüstungsausgaben und überlassen ihnen das Schicksal der Kriegsflüchtlinge.
Biden verhängte zwar in den USA einen Stopp für Öl- und Gasbohrungen auf bundeseigenem Land sowie einen vorübergehenden Bohrstopp in der Arktis. Mit seiner Geschäftsbesorgung für Fracking Gas aus den USA und Katar nach Europa besänftigte er aber schnell die hauseigene Öl- und Gaslobby. Das ist natürlich teurer als Öl- und Gas aus Russland. Und die Preise an den Tankstellen sind nur die Spitze des Eisberges. 2019 unterzeichneten Russland und Ukraine einen Vertrag über den Gastransit, der die Gasversorgung in EU-Ländern auf fünf Jahre sicherte. Während der Laufzeit erhält Kiew mindestens sieben Milliarden Dollar an Durchleitungsgebühren. Leere Kassen drohen, wenn die westlichen Sanktionen in vollem Umfang gegen Russland auch diesen Dollarfluss stoppen.
Russland und die Ukraine gehören darüber hinaus zu den größten Exporteuren von Weizen. Über die Hälfte der Lebensmittel, die das Welternährungsprogramm der UN in Krisenregionen verteilt, stammt aus der Ukraine. Russland liefert zudem Düngemittel, Mais und Pflanzenöl. Die EU steht (noch) auf Platz 1 vor Russland, die Ukraine auf 4. Erst dann folgen die USA und Kanada. Ein verlockendes Geschäft mit Not und Hunger macht begehrlich. Sanktionen und ein Krieg auf den Feldern der Ukraine lassen die Kurse an den Getreidebörsen klettern. Der aktuelle Weizenpreis in Euro je Tonne belief sich in der ersten Märzwoche auf 410,00 € (+ 7,57 %). Das ist nur der Anfang einer sich anbahnenden weiteren Tragödie.
Der Bundesrepublik Deutschland überließ Washington ganz nebenbei die Führungsrolle in der EU. Schließlich muss das gesamte US-Potenzial gegen den Lieblingsfeind Nr. 1, die Volksrepublik China, mobilisiert werden. Die rot-grün-gelben Koalitionäre treiben die Bundesrepublik auf Jahre hinaus in den Kriegsmodus. »Mit dem Überfall auf die Ukraine sind wir in einer neuen Zeit«, konstatierte Bundeskanzler Olaf Scholz und spendierte der Bundeswehr 100 Milliarden Euro extra »für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben«. Finanzminister Christian Lindner (FDP) legte nach, denn Deutschland müsse »im Laufe dieses Jahrzehnts eine der handlungsfähigsten, schlagkräftigsten Armeen in Europa« bekommen. Das entspräche der Bedeutung und Verantwortung Deutschlands in Europa – und beflügelt Top-Geschäfte mit dem Tod. Die Rheinmetall-Waffenschmiede offerierte der Bundesregierung stante pede Munition, Hubschrauber sowie Ketten- und Radpanzer für 42 Milliarden Euro. Rheinmetall-Aktien stiegen umgehend teils um mehr als 60 Prozent. Der Wert der Aktien des Münchner Rüstungselektronik-Herstellers Hensoldt AG verdoppelte sich.
Wie schrieb Carl von Ossietzky vor knapp 100 Jahren schon sehr hellsichtig: »Der Krieg ist ein besseres Geschäft als der Friede. Ich habe noch niemanden gekannt, der sich zur Stillung seiner Geldgier auf Erhaltung und Förderung des Friedens geworfen hätte. Die beutegierige Canaille hat von eh und je auf Krieg spekuliert.«
* www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/30920464_wegmarken_einheit7-202422
** https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_25468.htm?selectedLocale=de)