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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Werte im Wanken?

An die­ser Stel­le ist bereits öfter über Erschei­nun­gen im Bereich der Justiz berich­tet wor­den, die Anlass zum Nach­den­ken sein soll­ten. Mit der Zeit geht der berufs­mä­ßi­ge Beob­ach­ter nach mehr als drei­ein­halb Jahr­zehn­ten davon aus, dass alles schon ein­mal dage­we­sen und Neu­es wohl nicht zu erwar­ten ist. Doch dar­in sah ich mich getäuscht, als ich unlängst vor einem mit­tel­deut­schen Amts­ge­richt in einer Jugend­straf­sa­che ver­tei­dig­te. Der Sach­ver­halt war über­schau­bar, die jun­ge Man­dan­tin gestän­dig und ein­sich­tig. Sie will künf­tig mit Dro­gen nichts mehr zu tun haben und ist schon eini­ge Zeit »clean«. Ich hat­te kaum den letz­ten Satz mei­nes Plä­doy­ers mit Argu­men­ten für eine mil­de Bestra­fung been­det, ver­kün­de­te der mit der Sache befass­te Rich­ter das Urteil. Das an sich ist nicht unge­wöhn­lich, da der Ein­zel­rich­ter nicht ver­pflich­tet ist, län­ge­re Zeit mit sich selbst in Bera­tung zu gehen, bevor er eine Ent­schei­dung ver­kün­det. Das Auf­fäl­li­ge war, dass er bei der Urteils­ver­kün­dung wie selbst­ver­ständ­lich sit­zen blieb und alle ande­ren im Saal befind­li­chen Per­so­nen ein­schließ­lich des Staats­an­walts eben­falls. Nach­dem er die münd­li­che Urteils­be­grün­dung abge­schlos­sen hat­te, erkun­dig­te ich mich, ob viel­leicht irgend­ei­ne neue­re Coro­na-Ver­ord­nung vor­se­hen wür­de, dass man jetzt in Straf­sa­chen bei Urteils­ver­kün­dun­gen sit­zen­blei­ben sol­le und ich davon viel­leicht nur nichts wüss­te. Der Vor­sit­zen­de reagier­te kon­ster­niert, als wäre es nicht seit min­de­stens 200 Jah­ren auch in Deutsch­land üblich, dass sich bei der Urteils­ver­kün­dung alle im Gerichts­saal befind­li­chen Per­so­nen erhe­ben. In erster Linie ist das eine Bekun­dung des Respekts gegen­über dem Gericht und die Ach­tung sei­ner Auto­ri­tät. Der Rich­ter ließ mich nun­mehr aber wis­sen, dass es doch völ­lig gleich wäre, ob er bei der Urteils­ver­kün­dung ste­hen und sei­ne 1,88 m Grö­ße empor­recken wür­de oder eben sit­zen blei­be. Das wür­de doch am Inhalt der Ent­schei­dung nichts ändern. Mit Ver­blüf­fung ent­geg­ne­te ich, dass er dann wohl auch die Robe able­gen und som­mers die Ver­kün­dung in kur­zen Hosen vor­neh­men kön­ne. Das wür­de dann am Inhalt sei­ner Ent­schei­dung ja auch nichts ändern. Der Staats­an­walt sah sich lei­der nicht ver­an­lasst, mei­ner Kri­tik beizutreten.

Ganz offen­sicht­lich hat­ten bei­de über­haupt nicht ver­in­ner­licht, dass die Geste des Erhe­bens kein Selbst­zweck ist und es auch nicht dar­um geht, dass der Rich­ter sich vor sich selbst erhebt, son­dern vor­nehm­lich alle ande­ren. Da sowohl der Staats­an­walt als auch der Rich­ter über lang­jäh­ri­ge Berufs­er­fah­rung ver­füg­ten, über­rasch­te die Reak­ti­on auf mei­ne Bean­stan­dung umso mehr. Ich füg­te des­halb noch hin­zu, dass seit vie­len Jah­ren ein Wer­te­ver­fall auch im Bereich der Justiz beklagt wird. Es erschei­nen Zeu­gen ohne Begrün­dung nicht zum Ter­min oder las­sen sich befra­gen, wäh­rend sie wie selbst­ver­ständ­lich ein far­bi­ges Base­cap auf dem Kopf behal­ten und auf ihrem T-Shirt ein lusti­ger Spruch zu lesen ist. Da kom­men Ange­klag­te nicht zu ihrer Haupt­ver­hand­lung, weil sie ver­meint­lich Wich­ti­ge­res vorhaben.

Das hier beschrie­be­ne Erleb­nis macht aller­dings erschreckend deut­lich, dass man­ches von dem Wer­te­ver­lust lei­der auch »haus­ge­macht« ist. Das gilt ganz beson­ders für das Jugend­straf­ver­fah­ren, wo der Gesetz­ge­ber den Gedan­ken der Erzie­hung in den Vor­der­grund stellt und weni­ger den der Abstra­fung. Die Ero­si­on des Rechts­staa­tes auf die­ser Ebe­ne hat schein­bar schon vor lan­ger Zeit begon­nen. Mich erin­ner­te die Bege­ben­heit an einen Bei­trag über mei­nen Men­tor Fried­rich Karl Kaul, der 1974 gegen­über dem Stern bereits auf die Ver­än­de­run­gen in der west­deut­schen Gerichts­land­schaft hin­wies, die auch er schon wahr­ge­nom­men hat­te. Er for­mu­lier­te damals etwas pro­vo­kant: »Ich bin im Gerichts­saal zwar laut gewor­den, habe aber immer die Regeln des Straf­pro­zess­rechts beach­tet. Die Rich­ter in der Bun­des­re­pu­blik müs­sen sich doch mit Sehn­sucht an mich erin­nern, wo man heu­te im Gerichts­saal die Roben zer­reißt und wo Ange­klag­te vor den Rich­ter­tisch schei­ßen.« Einer mei­ner Freun­de, der über viel Lebens­er­fah­rung ver­fügt und dem ich von dem geschil­der­ten Erleb­nis berich­te­te, hat­te noch einen ande­ren Blick dar­auf, indem er mich wis­sen ließ: »Die Auf­lö­sung jeder Gesell­schaft begann immer mit dem Nie­der­gang von Sit­te und Moral, mit der wach­sen­den Auf­lö­sung von Regeln und Umgangs­for­men und schließ­lich der Igno­ranz des Staa­tes und sei­ner Gewalt.«