An dieser Stelle ist bereits öfter über Erscheinungen im Bereich der Justiz berichtet worden, die Anlass zum Nachdenken sein sollten. Mit der Zeit geht der berufsmäßige Beobachter nach mehr als dreieinhalb Jahrzehnten davon aus, dass alles schon einmal dagewesen und Neues wohl nicht zu erwarten ist. Doch darin sah ich mich getäuscht, als ich unlängst vor einem mitteldeutschen Amtsgericht in einer Jugendstrafsache verteidigte. Der Sachverhalt war überschaubar, die junge Mandantin geständig und einsichtig. Sie will künftig mit Drogen nichts mehr zu tun haben und ist schon einige Zeit »clean«. Ich hatte kaum den letzten Satz meines Plädoyers mit Argumenten für eine milde Bestrafung beendet, verkündete der mit der Sache befasste Richter das Urteil. Das an sich ist nicht ungewöhnlich, da der Einzelrichter nicht verpflichtet ist, längere Zeit mit sich selbst in Beratung zu gehen, bevor er eine Entscheidung verkündet. Das Auffällige war, dass er bei der Urteilsverkündung wie selbstverständlich sitzen blieb und alle anderen im Saal befindlichen Personen einschließlich des Staatsanwalts ebenfalls. Nachdem er die mündliche Urteilsbegründung abgeschlossen hatte, erkundigte ich mich, ob vielleicht irgendeine neuere Corona-Verordnung vorsehen würde, dass man jetzt in Strafsachen bei Urteilsverkündungen sitzenbleiben solle und ich davon vielleicht nur nichts wüsste. Der Vorsitzende reagierte konsterniert, als wäre es nicht seit mindestens 200 Jahren auch in Deutschland üblich, dass sich bei der Urteilsverkündung alle im Gerichtssaal befindlichen Personen erheben. In erster Linie ist das eine Bekundung des Respekts gegenüber dem Gericht und die Achtung seiner Autorität. Der Richter ließ mich nunmehr aber wissen, dass es doch völlig gleich wäre, ob er bei der Urteilsverkündung stehen und seine 1,88 m Größe emporrecken würde oder eben sitzen bleibe. Das würde doch am Inhalt der Entscheidung nichts ändern. Mit Verblüffung entgegnete ich, dass er dann wohl auch die Robe ablegen und sommers die Verkündung in kurzen Hosen vornehmen könne. Das würde dann am Inhalt seiner Entscheidung ja auch nichts ändern. Der Staatsanwalt sah sich leider nicht veranlasst, meiner Kritik beizutreten.
Ganz offensichtlich hatten beide überhaupt nicht verinnerlicht, dass die Geste des Erhebens kein Selbstzweck ist und es auch nicht darum geht, dass der Richter sich vor sich selbst erhebt, sondern vornehmlich alle anderen. Da sowohl der Staatsanwalt als auch der Richter über langjährige Berufserfahrung verfügten, überraschte die Reaktion auf meine Beanstandung umso mehr. Ich fügte deshalb noch hinzu, dass seit vielen Jahren ein Werteverfall auch im Bereich der Justiz beklagt wird. Es erscheinen Zeugen ohne Begründung nicht zum Termin oder lassen sich befragen, während sie wie selbstverständlich ein farbiges Basecap auf dem Kopf behalten und auf ihrem T-Shirt ein lustiger Spruch zu lesen ist. Da kommen Angeklagte nicht zu ihrer Hauptverhandlung, weil sie vermeintlich Wichtigeres vorhaben.
Das hier beschriebene Erlebnis macht allerdings erschreckend deutlich, dass manches von dem Werteverlust leider auch »hausgemacht« ist. Das gilt ganz besonders für das Jugendstrafverfahren, wo der Gesetzgeber den Gedanken der Erziehung in den Vordergrund stellt und weniger den der Abstrafung. Die Erosion des Rechtsstaates auf dieser Ebene hat scheinbar schon vor langer Zeit begonnen. Mich erinnerte die Begebenheit an einen Beitrag über meinen Mentor Friedrich Karl Kaul, der 1974 gegenüber dem Stern bereits auf die Veränderungen in der westdeutschen Gerichtslandschaft hinwies, die auch er schon wahrgenommen hatte. Er formulierte damals etwas provokant: »Ich bin im Gerichtssaal zwar laut geworden, habe aber immer die Regeln des Strafprozessrechts beachtet. Die Richter in der Bundesrepublik müssen sich doch mit Sehnsucht an mich erinnern, wo man heute im Gerichtssaal die Roben zerreißt und wo Angeklagte vor den Richtertisch scheißen.« Einer meiner Freunde, der über viel Lebenserfahrung verfügt und dem ich von dem geschilderten Erlebnis berichtete, hatte noch einen anderen Blick darauf, indem er mich wissen ließ: »Die Auflösung jeder Gesellschaft begann immer mit dem Niedergang von Sitte und Moral, mit der wachsenden Auflösung von Regeln und Umgangsformen und schließlich der Ignoranz des Staates und seiner Gewalt.«