Das Versprechen: »Wir spielen weiter« hat das Hamburger Schauspielhaus gehalten. Anders als geplant, fand die Premiere von Ödön von Horváths »Geschichten aus dem Wiener Wald« als Livestream für angemeldete Zuschauer statt. An mögliche weitere »Geister«-Vorstellungen ist gedacht. Infos unter www.schauspielhaus.de.
Zum Stück. Die Regisseurin Heike M. Goetze (auch Bühnenbild und Kostüme) – wollte sie etwas ganz anderes als der Autor? Den Eindruck erweckt die Inszenierung. Die erste Viertelstunde nur undefinierbare Musikfetzen, mal ein schrilles Lachen. Es fällt kein Wort. Horváth wollte mit seinem Stück zeigen, was die Sprache verschweigt oder unbewusst ausdrückt, und die Verlogenheit, die sich in Floskeln und Klischees offenbart. Das ist die Situation, die jene Zeit zwischen den Kriegen – das Stück wurde 1931 uraufgeführt – mit heute verbindet. Widersprüche zwischen dem, was die Personen sagen, und dem, was sie wollen, münden in ein Verstummen. Mit diesem Schweigen beginnt das Theater.
Der Wiener Wald besteht aus vertrockneten Bäumen, die verkehrt herum von der Decke hängen. Und aus Bänken. Und einem Waschbecken, um sich reinzuwaschen – auch von Blut, das beim Schlachten anfällt. Schweinehälften liegen am Boden herum. Marianne soll den Metzgermeister Oskar heiraten, sie ist dann versorgt und kann ihrem Vater, dem Zauberkönig und Inhaber des Spielwarenladens, sein marodes Geschäft retten. Marianne macht hilflose Emanzipationsversuche: die rhythmische Gymnastik – ein eigenes Studio bleibt Wunschtraum. Stattdessen verliebt sie sich in Alfred, einen Strizzi, der von einer Frau Mathilde, Tabak-Trafik-Besitzerin, ausgehalten wird. Das Unheil nimmt seinen Lauf. Ein wichtiges Bühnenbildteil fehlt noch: das Klo. Es sitzt immer mal jemand drauf. Ist die Blutwurst des Metzgers Schuld?
Die sieben Schauspieler sind unkenntlich gemacht, mit blumigen Tüchern verhüllt, ohne Gesicht. Auch die buntbedruckten Kittel oder Morgenmäntel geben keinen Hinweis. Für die Zuschauer lassen sich die Stimmen schwer identifizieren, wer spricht oder singt? Wiener Blut, dazu ein irrer Tanz – Vergnügen. Einer macht den Hitler-Gruß, ist es Erich aus Kassel, ein deutscher Student? Die Verlobung von Marianne mit Oskar, dem Metzger, wird gefeiert. Ein Hoch auf das Paar, »Heil«- und »Sieg-Heil«-Rufe – auch auf die noch kommenden deutschen Kinder. Die beschwipste Mathilde ruft: »Nur keine Neger« – nein, nicht in Hamburg – nur bei Horváth. Hier, vom Bildschirm tönt es dagegen: »Nur keine Fremdländer.« Wer spricht so? Das »Rassenproblem« wird angetippt, schon ist die lustige Gesellschaft bei »Juden«. Nein, nur in Horváths Text – warum nicht im Hamburger Stück? Nicht mehr zeitgemäß? Auf Deutschlands Schulhöfen gern gebraucht.
Musik, Musik, die Donau. Aber auch Sex, angedeutet. Immer mal wieder hält sich einer das Gemächt. Der Vater Zauberkönig nähert sich Mathilde. Und Erich, der Deutsche, will schießen mit dem Luftdruckgewehr. Proben für das Preisschießen seines akademischen Wehrverbandes. Er darf. Mathilde macht mit und fragt: »Waren Sie auch Soldat?« Hier im Schauspielhaus fällt die ganze Szene weg und – aus Schießen wird: Scheißen. Sogar »Preisscheißen« in die blaue Donau. Das Klo wäre gar nicht nötig gewesen, aber es sitzt schon wieder jemand drauf.
Unterdessen übt Marianne den Aufstand. Sie will sich nicht mehr tyrannisieren lassen. »Jetzt bricht der Sklave seine Fesseln«, ruft sie, gegen Oskar und den Vater gerichtet. Oskar fühlt sich als Opfer, lamentiert. Marianne, Alfred anhimmelnd: »Du machst mich so groß und weit.« Sie will ein Kind von ihm. Wer weiß, ob sie nun zum Beichten geht, ein Beichtvater steht nicht in der Besetzungsliste. Gespräch an den Herrgott. Dann, an anderem Ort, der Metzger: »Wir müssen die Sau abstechen.« Dabei fällt seinem Gehilfen ein – als Trost gedacht: »Ein jeder Krüppel findet ein Weib. Die Weiber haben keine Seele.« Und ein Wort über die »gestrige Blutwurst«. Geplänkel über Krieg, den es wieder geben wird. »Krieg mit oder ohne Kultur«, denn »Krieg ist ein Naturgesetz«, weiß der Zauberkönig. Krieg auch zwischen dem »in Todsünde« zusammenlebenden Paar. »Ich bin eine geschlagene Armee«, Alfreds Bauchgefühl, er, der nun auch nicht mehr zocken soll. Wovon leben?
Allgemeines Tanzen – kein Wiener Walzer –, die Kameramänner lassen alles ineinanderfließen. Da kommt ein Mädchen auf die Bühne, blond, im schwarzen Gymnastikdress. Ohne Maske tanzt sie allein. Es ist Marianne. Sie spielt ihre Visionen. Endlich ein Mensch. Die andern sechs haben sich auf eine Bank gesetzt. Nur Marianne steht abseits. Drei Monate habe sie »gesessen«, verrät der Klatsch. Warum, wird nicht ganz klar im Stück. Hat sie gestohlen? Und das Kind? Dass Marianne im Tingeltangel aufgetreten sei – hier kein Thema.
Es kommt jemand in Jeans, mit roter Trump-Kappe – der Böse? Er überbringt Marianne ein weißes (Hochzeits-)Kleid, was sie über das schwarze Trikot zieht. Er hat noch mehr dabei: ein Messer, eine Spritze und ein Baby. Sie tut das, was ihr in der Hamburger Inszenierung angedichtet wird, sie tötet ihr Kind. Horváth sah es anders. Da gab es eine Großmutter, die das, was störte, beseitigte. Hier, viel Blut auf dem weißen Kleid. Marianne bekennt, sie habe Gott gefragt, was er mit ihr vorhabe. Keine Antwort. Und der Bubi? »Ist im Paradies«, tröstet Oskar und lakonisch: »Gott gibt, und Gott nimmt.« Aber »Gott ist die Liebe«. Dann kommt der Satz, seine Voraussage: »Du wirst meiner Liebe nicht entgehen.« Marianne steht da, befleckt und gebrochen.