Seit dem 15. Jahrhundert leben Sinti nachweislich in Mitteleuropa. Wie Wolfgang Wippermann mit seinem 1997 erschienenen Buch »Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich« nachgewiesen hat, blicken sie auf eine mit der jüdischen vergleichbare Diskriminierungsgeschichte zurück. Sie ist auch heute noch nicht ganz vorbei. Der Besuch einer Gruppe Remscheider Sinti in Auschwitz, sei zum Teil »sehr unschön« gewesen. »Nicht nur wegen der Trauer um viele Mitglieder unserer Familien, sondern auch, weil wir nämlich als Opfer zweiter Klasse behandelt wurden.« Der hier Berichtende ist der 1939 in Schlesien geborene Alfred Rosenbach. Er hält das für absurd: »Wir kommen gut mit Juden klar – schließlich hatten wir in den Konzentrationslagern das gleiche Schicksal.« Sein Cousin in Köln sei Jude.
Rosenbach stellt sich als »König« von 200 Sinti in Remscheid vor – ein erblicher Titel, der auch abgelehnt werden kann. Treffender für seine Befugnisse sei aber der Begriff Rechtssprecher, in der Sintisprache: Prasapaskuron. Kleinere Streitfälle könnten per Telefon gelöst werden, bei größeren Vergehen käme ein Richterteam zusammen. Die meisten schweren Fälle beträfen »Männer, die Frauen schwängern und sich danach verdrücken oder keine Alimente zahlen. So etwas geht bei uns gar nicht.« Die einzig mögliche Strafe besteht im Ausschluss aus der Gemeinschaft zwischen einem und zehn Jahren.
Da bislang eher über Sinti und Roma geschrieben wird, schriftliche Zeugnisse von ihnen selbst aber noch rar sind, kommt dem von Jörg Becker verschriftlichten Lebensbericht Rosenbachs eine besondere Bedeutung zu. Nicht zuletzt, weil auch viele nach wie vor gängige Klischees korrigiert werden. So gab es auch in der Vergangenheit schon Sinti, die »furchtbar reich« waren wie die Tanten seiner Oma, die sich zwecks Immobilienkauf in den USA Überfahrten mit der Titanic geleistet hätten. Die Oma selbst hatte »unter anderem ein Kind von einem Präsidenten der Slowakei oder einem slowakischen Fürsten«. Auch Rosenbergs Vater war wohlhabend gewesen, hatte »ein großes Haus, fünf bis sechs Angestellte und 25 Pferde. Er besaß einen Wald, und wir hatten einen Forellenteich. Ironischerweise trug mein Vater ein Adolfbärtchen.«
Als die Familie 1944 aus Schlesien fliehen musste, wurde der Vater – von den Nazis – zu der verhängnisvollen Unterschrift gezwungen, sein Eigentum freiwillig aufzugeben, weshalb er später keine angemessene Wiedergutmachung erhielt. Die Familie flüchtete mit anderen Sintis in slowakische Wälder, wo sie dem Hungertod nahe waren. Der damals fünfjährige Rosenbach entwickelte große Geschicklichkeit beim Ergreifen von Kleintieren. Viele Sinti wurden dort noch ermordet, teils auch, weil die SS sie für slowakische Partisanen hielt.
In der Bundesrepublik folgten Jahre bitterer Armut. Lange wollte man die Kinder nicht in die Schule schicken, aus Sorge, sie würden in Heime entführt oder sogar in eine Art KZ. Noch in den Siebzigern lebte die Familie in einer Barackensiedlung, Seite an Seite neben armen »Deutschen«, mit denen aber gut auszukommen war. Finanziell hielt man sich mit Hausieren über Wasser. Rosenbach selbst hausierte mit Decken, Teppichen, Altkleidern, verkaufte Schrott. Die Frauen, oft ein Kind auf dem Rücken, boten Kurzwaren an. Nicht nur durch Billigläden und Versandhandel kam das Geschäft zum Erliegen. Da immer mehr Frauen arbeiteten, wurden die Haustüren zu selten geöffnet. Meist habe der Verdienst unter der Steuergrenze gelegen und Geld für die Krankenkasse sei nicht drin gewesen. Trotzdem trauert Rosenbach dieser Zeit nach.
Lange noch sei das Bleiberecht mobiler Sinti von feindlicher Bürokratie und Polizei beschnitten worden. Man sei auch von Wiesen vertrieben worden, obwohl man dem Bauern, dem sie gehörte, etwas dafür bezahlt habe. Wenn das »Misstrauen gegen Deutsche ganz tief sitzt«, liegt das auch daran, dass es immer wieder Vorkommnisse gibt, die es aktivieren. So habe vor nicht langer Zeit ein im Obergeschoss lebender Nachbar einen Spiegel an einem Besenstil befestigt, um zu beobachten, ob eine Sinti-Familie gegen die Hausordnung verstößt. Alte Ängste seien aufgekommen, als eine Gruppe Remscheider Sinti die neuen Bundesländer erkunden wollte, aber bei Jena mit »Heil-Hitler-Rufen« in die Flucht geschlagen wurde.
Die Remscheider Sinti waren und sind Katholiken, haben sich aber seit den neunziger Jahren freikirchlich organisiert. Das gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Gottesdienste selbst zu leiten. Sie haben keine Tabus, was das Essen betrifft. Aber sie rauchen nicht und trinken Alkohol nur sehr in Maßen, »niemand darf sich betrinken«. Das befolgen auch die Heranwachsenden, die heute natürlich zur Schule gehen, Berufe lernen und studieren. Dass es für Sinti »nichts Schöneres als Kinder« gibt, ist eine bis heute gültige kulturelle Konstante.
»Wir Sinti sind ein stolzes Volk, genauso stolz wie das Volk Israel«, betont Rosenbach. Allerdings zögen es Stars im Film- und Showbusiness mit Sinti-Abstammung meist vor, diese nicht bekannt zu machen, weil sie »befürchten, dass sie bei einem Wettbewerb von den Zuschauern weniger Sympathiepunkte bekommen (…) Wir finden das schade, das alles macht uns traurig.«
Zahlreiche alte und neuere Familienfotos sowie die Aufnahmen von Willy Preuss geben dem Band eine wichtige zusätzliche Dimension. Im Habitus und in den Gesichtern sind die Spuren der Diskriminierung, aber auch Widerständigkeit und nicht zuletzt der Wunsch nach Zugehörigkeit zur Gesellschaft deutlich abzulesen. Dass damit keine »Assimilation« gemeint ist, bekräftigt Rosenbach dadurch, dass er immer von Sinti oder Deutschen spricht.
Alfred Rosenbach: Ich, ein Sinto aus Remscheid. Aus dem Leben eines Prasapaskurom, hrsg. v. Jörg Becker, mit Fotografien von Uli Preuss, Verlag Dietz Nachf., Bonn 2021, 18 €.