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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Weltuntergang

»Wo aber Gefahr ist, wächst das Ret­ten­de auch.« Die durch ihren Autor geadel­ten viel zitier­ten Wor­te klin­gen tröst­lich. Sie baga­tel­li­sie­ren die Furcht und beför­dern Hoff­nung. Doch Trost und Hoff­nung sind das Ergeb­nis von Lüge, Täu­schung und Selbst­be­trug. Das Ret­ten­de ver­hält sich zur Ret­tung wie der Anlauf zum Stab­hoch­sprung, wie die edle Absicht zur unvoll­kom­me­nen Tat. Das Ret­ten­de kann ret­ten oder auch nicht. Die Gefahr ist real. Sie ist mehr als das Gefährdende.

»Wo aber Gefahr ist, wächst das Ret­ten­de auch.« Die zwei Ver­se hät­ten auch am Ein­gang zum Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Ausch­witz ste­hen kön­nen. Sie hät­ten den glei­chen zyni­schen Wert wie der Sinn­spruch »Arbeit macht frei«. Will man den Kin­dern in gro­ßen Tei­len der Welt, die nicht genug zu essen haben, ernst­haft erklä­ren, dass das Ret­ten­de wächst? Wer soll­te, wer woll­te es wach­sen las­sen? Die Sat­ten in den rei­chen Län­dern, zu deren Haupt­sor­gen es wäh­rend der Coro­na-Kri­se zähl­te, dass die Restau­rants geschlos­sen waren? Wer soll­te das Ret­ten­de wach­sen las­sen gegen die Gefahr des frü­hen Todes wegen feh­len­der Medi­ka­men­te? Die Phar­ma­in­du­strie, die allen­falls über­teu­er­te oder min­der­wer­ti­ge Arz­nei­en und Heil­mit­tel in die so genann­te Drit­te Welt liefert?

»Wo aber Gefahr ist, wächst das Ret­ten­de auch.« Das ist eine Lebens­lü­ge und dazu noch eine, die jene ent­la­stet, die oft nicht nur das Ret­ten­de behin­dern, son­dern auch die Gefahr ver­ur­sacht haben. Sie ist, jeden­falls in ihrer Pau­scha­li­sie­rung und ihrem Ver­fas­ser zum Trotz, nicht weni­ger unsin­nig als die Redens­art »Aus Erfah­rung wird man klug«. Wie so vie­le Sprich­wör­ter for­mu­liert sie als Befund, was allen­falls eine Wunsch­vor­stel­lung sein mag. Erfah­rung macht nicht klug, son­dern höch­stens vor­sich­tig, wenn es zum eige­nen Vor­teil ist. Wer ein­mal von einer Lei­ter gefal­len ist, wird Lei­tern danach etwas genau­er über­prü­fen, ehe er sie besteigt, oder viel­leicht sogar dar­auf ver­zich­ten, auf eine Lei­ter zu klet­tern. Sehr viel weni­ger wird ihm dar­an gele­gen sein, ande­re vor Lei­tern zu warnen.

Lud­wig Mar­cuse nann­te ein Buch Pes­si­mis­mus. Ein Sta­di­um der Rei­fe. Ana­log lie­ße sich for­mu­lie­ren: Hoff­nungs­lo­sig­keit. Ein Sta­di­um der Ehr­lich­keit. Wor­auf soll­ten »Trost« und »Zuver­sicht«, gern habi­tu­ell beschwo­ren, beru­hen? Auf dem win­di­gen Ver­spre­chen eines wort­ge­wal­ti­gen Dichters?

Die diver­sen Reli­gio­nen ken­nen und pre­di­gen die Vor­stel­lung vom Welt­ende. Wenn man die Panik beob­ach­tet, mit der auch reli­giö­se Men­schen auf die aktu­el­le Situa­ti­on reagie­ren, muss man sich fra­gen, wie ernst sie jemals die kano­ni­schen Schrif­ten und die über­lie­fer­ten Got­tes­vor­stel­lun­gen genom­men haben. Die Mög­lich­keit oder gar die Wahr­schein­lich­keit eines Welt­un­ter­gangs war im Glau­ben, war er Über­zeu­gung und nicht nur kon­for­mi­sti­sches Mit­mach­thea­ter oder Pha­ri­sä­er­tum, stets inbe­grif­fen. Wor­in also besteht der plötz­li­che Schrecken, wenn nicht das Ret­ten­de, son­dern die Gefahr wächst?

Sowohl der natur­wis­sen­schaft­li­che Ratio­na­lis­mus, der davon aus­geht, dass Leben aus unbe­leb­ter Mate­rie ent­stan­den ist, wie das reli­giö­se Ver­trau­en, das an die Erschaf­fung des Men­schen durch einen Gott glaubt, muss es für mög­lich hal­ten, dass die Mensch­heit irgend­wann auch wie­der aus­stirbt. Weder ein Natur­ge­setz noch ein Gott kön­nen das grund­sätz­lich ver­hin­dern. Die Men­schen haben über Jahr­tau­sen­de hin­weg und stets aufs Neue dafür gesorgt oder es zumin­dest bil­li­gend hin­ge­nom­men, dass nicht das Ret­ten­de, son­dern die Gefahr wuchs. Es war nicht der gute Wil­le, son­dern die Begrenzt­heit der tech­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen, was eine Ver­nich­tung der Mensch­heit bis­lang ver­hin­dert hat, bei der Erobe­rung Ame­ri­kas eben­so wie im Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg, im Holo­caust eben­so wie in Hiro­shi­ma. Und wo nicht, wie in Kreuz­zü­gen, Krie­gen und Geno­zi­den, die Ermor­dung gan­zer Völ­ker ange­strebt wur­de, war und ist man bereit, das Ende der Men­schen durch Nach­läs­sig­keit zu dul­den, etwa durch die Zer­stö­rung des Kli­mas oder die beden­ken­lo­se Aus­beu­tung der Ressourcen.

Jura Soy­fer, der mit 26 Jah­ren im KZ Buchen­wald gestor­ben ist, been­det sein Stück »Welt­un­ter­gang« mit fol­gen­den Versen:

»Voll Hun­ger und voll Brot ist die­se Erde,
Voll Leben und voll Tod ist die­se Erde,
In Armut und in Reich­tum grenzenlos.
Geseg­net und ver­dammt ist die­se Erde,
von Schön­heit hell umflammt ist die­se Erde,
Und ihre Zukunft ist herr­lich und groß.«
 

Aus ihnen spricht das expres­sio­ni­sti­sche Mensch­heits­pa­thos, der unver­brüch­li­che Glau­be an das Ret­ten­de in der Gefahr, die Soy­fer selbst das Leben koste­te. Gegen die Dumm­heit und die Ver­bre­chen der Men­schen konn­te immer noch das »Trotz alle­dem!« gelten.

Am Auf­tre­ten der Coro­na-Viren trifft die Men­schen kein Ver­schul­den. Es gibt sie, und sie wir­ken, wie sie wir­ken. Ob Imp­fun­gen und Ver­hal­tens­re­geln letz­ten Endes vor der Gefahr ret­ten wer­den, wird sich zei­gen. Es kann, muss aber nicht sein. Wir wol­len uns nicht erst in die fan­ta­sti­sche Vor­stel­lung manö­vrie­ren, dass ein Ende der Mensch­heit aus Sicht der Viren – aber auch der Tie­re und der Pflan­zen – eine gar nicht so schlech­te Uto­pie wäre. Immer­hin macht sie auf die Maß­lo­sig­keit des Anthro­po­zen­tris­mus auf­merk­sam. Aber das Ende der Mensch­heit ist eine rea­le Mög­lich­keit. Und es wird nie­mand blei­ben, es zu beweinen.

Man soll­te sich nicht belü­gen: Die Gefahr ist da, unüber­seh­bar. Das Ret­ten­de wächst, zusam­men mit den Ein­nah­men der Phar­ma­in­du­strie. Die Ret­tung aber könn­te aus­blei­ben. Eine Welt ohne Men­schen – Höl­der­lin hat auch sie in Ver­se gebracht:

»Die Mau­ern stehn
Sprach­los und kalt, im Winde
Klir­ren die Fahnen.«
 

Höl­der­lins Kol­le­ge Ber­tolt Brecht fiel 149 Jah­re spä­ter »Beim Lesen des Horaz« ein Sechs­zei­ler ein, der die reli­giö­se und die natur­wis­sen­schaft­li­che Bild­welt zusam­men­bringt und die Skep­sis gegen­über dem Ret­ten­den in der Gefahr mit unüber­biet­ba­rer Deut­lich­keit ausspricht:

»Selbst die Sintflut
Dau­er­te nicht ewig.
Ein­mal verrannen
Die schwar­zen Gewässer.
Frei­lich, wie wenige
Dau­er­ten länger!«