»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Die durch ihren Autor geadelten viel zitierten Worte klingen tröstlich. Sie bagatellisieren die Furcht und befördern Hoffnung. Doch Trost und Hoffnung sind das Ergebnis von Lüge, Täuschung und Selbstbetrug. Das Rettende verhält sich zur Rettung wie der Anlauf zum Stabhochsprung, wie die edle Absicht zur unvollkommenen Tat. Das Rettende kann retten oder auch nicht. Die Gefahr ist real. Sie ist mehr als das Gefährdende.
»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Die zwei Verse hätten auch am Eingang zum Konzentrationslager Auschwitz stehen können. Sie hätten den gleichen zynischen Wert wie der Sinnspruch »Arbeit macht frei«. Will man den Kindern in großen Teilen der Welt, die nicht genug zu essen haben, ernsthaft erklären, dass das Rettende wächst? Wer sollte, wer wollte es wachsen lassen? Die Satten in den reichen Ländern, zu deren Hauptsorgen es während der Corona-Krise zählte, dass die Restaurants geschlossen waren? Wer sollte das Rettende wachsen lassen gegen die Gefahr des frühen Todes wegen fehlender Medikamente? Die Pharmaindustrie, die allenfalls überteuerte oder minderwertige Arzneien und Heilmittel in die so genannte Dritte Welt liefert?
»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Das ist eine Lebenslüge und dazu noch eine, die jene entlastet, die oft nicht nur das Rettende behindern, sondern auch die Gefahr verursacht haben. Sie ist, jedenfalls in ihrer Pauschalisierung und ihrem Verfasser zum Trotz, nicht weniger unsinnig als die Redensart »Aus Erfahrung wird man klug«. Wie so viele Sprichwörter formuliert sie als Befund, was allenfalls eine Wunschvorstellung sein mag. Erfahrung macht nicht klug, sondern höchstens vorsichtig, wenn es zum eigenen Vorteil ist. Wer einmal von einer Leiter gefallen ist, wird Leitern danach etwas genauer überprüfen, ehe er sie besteigt, oder vielleicht sogar darauf verzichten, auf eine Leiter zu klettern. Sehr viel weniger wird ihm daran gelegen sein, andere vor Leitern zu warnen.
Ludwig Marcuse nannte ein Buch Pessimismus. Ein Stadium der Reife. Analog ließe sich formulieren: Hoffnungslosigkeit. Ein Stadium der Ehrlichkeit. Worauf sollten »Trost« und »Zuversicht«, gern habituell beschworen, beruhen? Auf dem windigen Versprechen eines wortgewaltigen Dichters?
Die diversen Religionen kennen und predigen die Vorstellung vom Weltende. Wenn man die Panik beobachtet, mit der auch religiöse Menschen auf die aktuelle Situation reagieren, muss man sich fragen, wie ernst sie jemals die kanonischen Schriften und die überlieferten Gottesvorstellungen genommen haben. Die Möglichkeit oder gar die Wahrscheinlichkeit eines Weltuntergangs war im Glauben, war er Überzeugung und nicht nur konformistisches Mitmachtheater oder Pharisäertum, stets inbegriffen. Worin also besteht der plötzliche Schrecken, wenn nicht das Rettende, sondern die Gefahr wächst?
Sowohl der naturwissenschaftliche Rationalismus, der davon ausgeht, dass Leben aus unbelebter Materie entstanden ist, wie das religiöse Vertrauen, das an die Erschaffung des Menschen durch einen Gott glaubt, muss es für möglich halten, dass die Menschheit irgendwann auch wieder ausstirbt. Weder ein Naturgesetz noch ein Gott können das grundsätzlich verhindern. Die Menschen haben über Jahrtausende hinweg und stets aufs Neue dafür gesorgt oder es zumindest billigend hingenommen, dass nicht das Rettende, sondern die Gefahr wuchs. Es war nicht der gute Wille, sondern die Begrenztheit der technischen Voraussetzungen, was eine Vernichtung der Menschheit bislang verhindert hat, bei der Eroberung Amerikas ebenso wie im Dreißigjährigen Krieg, im Holocaust ebenso wie in Hiroshima. Und wo nicht, wie in Kreuzzügen, Kriegen und Genoziden, die Ermordung ganzer Völker angestrebt wurde, war und ist man bereit, das Ende der Menschen durch Nachlässigkeit zu dulden, etwa durch die Zerstörung des Klimas oder die bedenkenlose Ausbeutung der Ressourcen.
Jura Soyfer, der mit 26 Jahren im KZ Buchenwald gestorben ist, beendet sein Stück »Weltuntergang« mit folgenden Versen:
»Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde,
Voll Leben und voll Tod ist diese Erde,
In Armut und in Reichtum grenzenlos.
Gesegnet und verdammt ist diese Erde,
von Schönheit hell umflammt ist diese Erde,
Und ihre Zukunft ist herrlich und groß.«
Aus ihnen spricht das expressionistische Menschheitspathos, der unverbrüchliche Glaube an das Rettende in der Gefahr, die Soyfer selbst das Leben kostete. Gegen die Dummheit und die Verbrechen der Menschen konnte immer noch das »Trotz alledem!« gelten.
Am Auftreten der Corona-Viren trifft die Menschen kein Verschulden. Es gibt sie, und sie wirken, wie sie wirken. Ob Impfungen und Verhaltensregeln letzten Endes vor der Gefahr retten werden, wird sich zeigen. Es kann, muss aber nicht sein. Wir wollen uns nicht erst in die fantastische Vorstellung manövrieren, dass ein Ende der Menschheit aus Sicht der Viren – aber auch der Tiere und der Pflanzen – eine gar nicht so schlechte Utopie wäre. Immerhin macht sie auf die Maßlosigkeit des Anthropozentrismus aufmerksam. Aber das Ende der Menschheit ist eine reale Möglichkeit. Und es wird niemand bleiben, es zu beweinen.
Man sollte sich nicht belügen: Die Gefahr ist da, unübersehbar. Das Rettende wächst, zusammen mit den Einnahmen der Pharmaindustrie. Die Rettung aber könnte ausbleiben. Eine Welt ohne Menschen – Hölderlin hat auch sie in Verse gebracht:
»Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.«
Hölderlins Kollege Bertolt Brecht fiel 149 Jahre später »Beim Lesen des Horaz« ein Sechszeiler ein, der die religiöse und die naturwissenschaftliche Bildwelt zusammenbringt und die Skepsis gegenüber dem Rettenden in der Gefahr mit unüberbietbarer Deutlichkeit ausspricht:
»Selbst die Sintflut
Dauerte nicht ewig.
Einmal verrannen
Die schwarzen Gewässer.
Freilich, wie wenige
Dauerten länger!«