Knapp zwei Monate nach der Parlamentswahl vom 10. November waren in Spanien die Weichen gestellt. Am 30. Dezember präsentierte der amtierende Ministerpräsident Pedro Sánchez gemeinsam mit Pablo Iglesias von der Linkspartei Unidas Podemos (UP) ein Regierungsprogramm, das den Katalanen Verhandlungen über einen neuen Kompetenztransfer und allen Spaniern mehr soziale Gerechtigkeit in Aussicht stellt. Dafür musste Sánchez (Partido Socialista Obrero Español; PSOE) bei seinen Verhandlungen mit UP-Generalsekretär Iglesias große Zugeständnisse machen. Mit der Krise, den sozialen Einschnitten und dem schlechten Krisenmanagement der Rechten in Katalonien – geführt von der Partido Popular, der Ciudadanos und der reaktionären VOX – hat das Land ein ganzes Jahrzehnt verloren, klagte der UP-Generalsekretär bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags.
Kernstück des 50-seitigen Programms ist die Aufhebung der Arbeitsmarktreform, die vor allem Unternehmen begünstigte und von Sánchez’ konservativem Vorgänger Mariano Rajoy 2012 durchgesetzt worden war. Vorgesehen ist auch eine Steuerreform, die Besserverdiener zur Kasse bittet. Im Maßnahmenpaket finden sich auch eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von derzeit 900 auf 1200 Euro und ein Kündigungsschutz für krankgeschriebene Arbeitnehmer. Auch gesellschaftspolitisch sieht die Linkskoalition Handlungsbedarf, die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen soll geschlossen werden. Der Religionsunterricht soll ab sofort kein Pflichtfach an Schulen mehr sein. Ein Kapitel im Programm ist dem Umgang mit Katalonien gewidmet. Die Koalition verpflichtet sich zum Dialog und zu Verhandlungen, um eine politische Lösung für die schwelende Krise zu finden. Das ist eine Empfehlung der katalanischen Linksrepublikaner der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC), die dreizehn Abgeordnete im Parlament stellt und damit den Schlüssel für Sánchez´ Wiederwahl zum Regierungschef am 7. Januar (nach Ossietzky-Redaktionsschluss) in der Hand hält. Die Enthaltung der ERC bei der Wahl ermöglicht der neuen Linkskoalition, das erstarkte rechte Lager im Parlament zu überstimmen, aber die Mehrheit ist fragil. Eine Rolle spielen auch juristische Entwicklungen.
Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hatte im November 2019 in einem Gutachten erklärt, dass der Vorsitzende der ERC, Oriol Junqueras, Immunität genieße und nicht in einem spanischen Gefängnis, sondern im Europäischen Parlament sitzen sollte. Der Europäische Gerichtshof folgte dem Gutachten und bestätigte im Dezember, dass Junqueras freigelassen werden müsse. Das Gericht in Luxemburg befand, dass der spanische Staat gegen EU-Recht verstoßen habe, als er es dem inhaftierten ERC-Präsidenten im Mai nicht erlaubte, sein Mandat in Brüssel anzutreten. Der separatistische Politiker habe nach der Wahl zum EU-Parlamentarier bereits Immunität genossen und hätte somit aus seiner Untersuchungshaft entlassen werden müssen, monierte der EuGH.
Junqueras, einst stellvertretender Ministerpräsident von Katalonien, war wegen seiner Rolle bei dem nach der spanischen Verfassung verbotenen Unabhängigkeitsreferendum zu 13 Jahren Haft verurteilt worden. Das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien – katalanisch Referèndum d’Autodeterminació de Catalunya – fand am 1. Oktober 2017 statt.
Am 30. Dezember 2019 meldete sich ein Juristengremium, das die spanische Regierung berät, zu Wort und plädierte für Junqueras’ vorläufige Haftentlassung.
Die konservative Opposition kritisierte Sánchez’ Regierungsprogramm lautstark. Der Sozialist habe, so Pablo Casado von der Partido Popular, seine Landsleute getäuscht und einfach den Forderungen der Unabhängigkeitsbefürworter nachgegeben. Ins gleiche Horn bläst Cayetana Álvarez de Toledo y Peralta-Ramos aus der Führungsriege der PP. Sie bezeichnet und beschimpft die für die Unabhängigkeit eintretenden Parteien und Personen als »Faschisten«. Da ist die Wortwahl des Vorsitzenden der ultrarechten VOX, Santiago Abascal, der das Tun von Ministerpräsident Pedro Sánchez als »Landesverrat« bezeichnet, fast noch harmlos.