Im 5. Kapitel von Fontanes letztem Roman »Der Stechlin« plaudern Dubslav, Rex und Czako, also ein Major a. D. und zwei einjährig freiwillige junge Offiziere, beiläufig über das Märtyrertum. Der gesinnungslose Karrierist Rex hält Märtyrer für bloße Renommisten. Czako wendet ein:
»Da hab’ ich doch noch diese letzten Tage von einem armen russischen Lehrer gelesen, der unter die Soldaten gesteckt wurde (sie haben da jetzt auch so was wie allgemeine Dienstpflicht), und dieser Mensch, der Lehrer, hat sich geweigert, eine Flinte loszuschießen, weil das bloß Vorschule sei zu Mord und Totschlag, also ganz und gar gegen das fünfte Gebot. Und dieser Mensch ist sehr gequält worden, und zuletzt ist er gestorben. Wollen Sie das auch Renommisterei nennen?«
Rex erwidert: »Gewiss will ich das.« Dubslav weist ihn zurecht: » (…) sollten Sie dabei nicht zu weit gehen? Wenn sich’s ums Sterben handelt, da hört das Renommieren auf.« Er habe auch davon gehört, sehe die Sache aber anders. Das liege nicht an der »allgemein gewordenen Renommisterei«, sondern am »Lehrertum«: »Alle Lehrer sind nämlich verrückt.« Und mit dieser Volte wendet sich die Konversation rasch von dem verfänglichen Thema ab und dem kuriosen Lehrer Krippenstapel zu, einem Original, über das es allerhand zu erzählen gibt.
Der russische Lehrer, dessen Schicksal hier erwähnt wird, hieß Evdokim Nikitič Drožžin. Er wurde am 30. Juli 1866 in einem Dorf im Regierungsbezirk Kursk als Sohn eines Bauern geboren. Die Bekanntschaft mit den religiös-ethischen Schriften Tolstois führte 1889 zu einer Wende in seinem Leben. Als er 1891 zum Militärdienst einberufen wurde, verweigerte er unter Berufung auf das fünfte Gebot den Eid und den Waffendienst und ließ sich durch nichts davon abbringen. Er wurde inhaftiert und starb 1894 erschöpft nach einer qualvollen Odyssee durch Strafbataillone und Gefängnisse in einem Lazarett an einer Lungenentzündung.
Evgenij Ivanovič Popov verfasste aufgrund von Briefen und Dokumenten die Biografie dieses Lehrers. Das Manuskript konnte im zaristischen Russland nicht publiziert werden. Es wurde beschlagnahmt, anhand der noch vorhandenen Quellen erneut geschrieben und erschien mit einem Vorwort von Tolstoi in Berlin im Verlag von Friedrich Gottheiner, gleichzeitig mit einer deutschen Übersetzung. Tolstoi geißelte in seinem Vorwort die Verlogenheit des modernen Christentums und erklärte, Soldaten seien Totschläger und Mörder, Armeen haben keinen anderen Zweck als das Töten, und jeder Mensch dürfe sich gegen eine Obrigkeit auflehnen, die von ihm verlangt, das Töten zu lernen, denn das sei unvereinbar mit den Geboten des Christentums.
Friedrich Spielhagen griff Tolstoi daraufhin in einem offenen Brief an und warf ihm vor, Drožžin sei durch seine, Tolstois, Irrlehren verführt worden. Der Militarismus könne nicht durch Verweigerung des Kriegsdienstes bekämpft werden. Paul v. Gizycki berichtete am 23. Februar 1896 ausführlich in der Vossischen Zeitung über diese Kontroverse, und gerade diesen Artikel hat Fontane gelesen, als er seinen Roman schrieb. Er nennt weder den Namen Drožžins noch den seines Biografen. Auch Tolstoi wird hier nicht erwähnt, genauso wenig wie Spielhagen. Dennoch: Die Szene ist eindeutig: Der Pazifismus ist da! Aber das Thema, für das es damals noch keinen populären Begriff gab, ist so vorsichtig angesprochen, dass die Forschung den Zusammenhang bis heute nicht hergestellt hat.
Eine Zeitgenossin Fontanes war es, die das Thema nicht vorsichtig und ängstlich, sondern klar und deutlich für alle Welt beim Namen genannt hat. Ihr Roman, 1889 veröffentlicht, trägt den kategorischen Imperativ der Friedenspolitik im Titel: »Die Waffen nieder!« Dieselben Kriege, die Fontane in drei dicken militärhistorischen Abhandlungen beschrieben hat, nimmt Bertha von Suttner zum Anlass, ein Buch über Krieg und Frieden zu schreiben, das Millionen Leser auf der Welt erreicht hat und das bis heute zu den wichtigsten Werken des Pazifismus gehört.
Es ist an der Zeit, endlich die Konsequenzen zu ziehen aus einer verhängnisvollen Kriegspolitik. Nicht durch weitere Milliarden für die Rüstung lässt sich der Frieden sichern. Das garantiert nur eine latente Kriegsgefahr. Wer schwere Waffen in ein Kriegsgebiet liefert, verlängert einen sinnlosen, opferreichen Krieg. Das Land wird zerstört, die jungen Männer werden verheizt, Frauen, Kinder und Alte sind auf der Flucht. Es gibt keine Alternative zu einer weltweiten Friedenspolitik.
Der Autor stammt aus Mecklenburg, studierte in Sofia und Potsdam, arbeitet als Archivar im Theodor-Fontane-Archiv und publiziert daneben literaturwissenschaftliche Beiträge.