Geht es um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, stehen zumeist dieselben Akteure im Fokus: die Machthaber und die Mutigen, die ihnen widerstanden. Diese Schwarz-Weiß-Malerei funktioniert, weil sie einfache Erklärungen liefert. Rückblickend werden auf der Bühne der Geschichte die einen verurteilt und die anderen gewürdigt. Beide Gruppen verbindet, dass sie Minderheiten sind. Die anderen sitzen (noch immer) im Zuschauerraum. Es gibt zwar Applaus und Buhrufe, aber ansonsten schauen sie nur zu – und schweigen. Es ist die Mehrheit, über die zwar gesprochen wird, über die man jedoch wenig weiß. Wahlweise sind es die Unterdrückten, die Angepassten, die Mitläufer oder die Systemstützen. In jedem Fall: die Passiven.
Passiv verhielt sich die Mehrheit der DDR-Bürger im August 1961. Und dennoch wird in der Geschichtsschreibung behauptet, der Bau der Berliner Mauer sei in der Bevölkerung mehrheitlich auf Ablehnung gestoßen, die wenigen überzeugten Funktionäre ausgenommen. Eine andere Haltung scheint offenbar nicht vorstellbar. Oder sie passt nicht in das bisherige Geschichtsbild. Schließlich hatten sich dem SED-Staat bis zum 13. August 1961 schon knapp drei Millionen Menschen durch Flucht in den Westen entzogen. Die einseitige Sperrung der Sektorengrenze in Berlin war ein Gewaltakt der SED-Führung, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen und ihre Herrschaft zu sichern. Dafür nahm sie in Kauf, das eigene Volk einzusperren und die deutsche Teilung zu zementieren. Warum aber ließen 17 Millionen DDR-Bürger das fast drei Jahrzehnte zu? Warum nutzte nur eine Minderheit Möglichkeiten des Widersprechens und Widerstehens? Oder waren viele DDR-Bürger womöglich gar nicht so passiv, sondern entschieden sich bewusst dafür, nicht zu protestieren?
Die Annahme, eine Mehrheit sei gegen den Bau der Mauer gewesen, wird begründet mit öffentlichen Unmutsbekundungen, vereinzelten Protesten und zahlreichen gescheiterten und geglückten Fluchtversuchen nach der Grenzschließung. Obwohl die Forschung davor warnt, die MFS- und SED-Aufzeichnungen als »Wahrheit« hinzunehmen, filtert sie gleichwohl aus den Akten alle Anzeichen, die auf einen Protest hindeuten könnten: »Ansammlungen« an der Sektorengrenze gelten als unorganisierte Demonstrationen gegen den Mauerbau, ein einzelner Handzettel mit einem Protestaufruf könnte auf ein größeres Widerstandspotential hindeuten. Als Zeuge für die mehrheitliche Ablehnung der »Maßnahmen« dient auch der DDR-Grenzpolizist Conrad Schumann, der durch seinen Sprung über den Stacheldraht zur Ikone der Mauer-Fotos geworden ist. Er berichtete, am 15. August, dem Tag seiner Flucht nach West-Berlin, sei es am Ost-Berliner Arkonaplatz zu einer Demonstration von 1.000 bis 2.000 Menschen gekommen. Belegen lässt sich eine solche Großdemonstration nicht. Unterm Strich kommen alle Publikationen zu dem Schluss, dass Massenproteste ausgeblieben sind.
Die Quellen belegen vielmehr, dass die Proteste der DDR-Bürger gegen die Grenzschließung am 13. August lediglich spontane Versammlungen waren, auf denen vereinzelt offen Unmut artikuliert wurde. Größere Ansammlungen, wie an den Grenzübergängen Brunnenstraße in Mitte und Wollankstraße in Pankow, von bis zu 500 Menschen wurden umgehend von den DDR-Sicherheitskräften auseinandergetrieben. An den Übergängen und vor S-Bahnhöfen fanden sich nicht nur Bürger ein, die sich empörten. Unter den »Protestierenden« waren Ost-Berliner, die beabsichtigten, an diesem Tag nach West-Berlin zu fahren, Schaulustige sowie Befürworter, wie Mitglieder der SED-Agitationsgruppen, die sich unter die Versammelten gemischt hatten. Größere und vor allem organisierte Proteste blieben im Unterschied zu West-Berlin auch in den folgenden Tagen aus. Auch zu Beginn der neuen Arbeitswoche kam es weder an den Übergängen zu West-Berlin zu den befürchteten Auseinandersetzungen mit den Grenzgängern noch in den Betrieben zu Streiks. Und die wenigen Arbeitsniederlegungen richteten sich nicht alle gegen die Grenzschließung. In jedem Fall erreichten sie keine Breitenwirkung.
Die Reaktionen ließen sich weiter differenzieren: Während beispielsweise der heftigste Widerspruch – zunächst nicht vorrangig politisch motiviert – gegen die Grenzsperrung von der DDR-Jugend ausging, waren die Künstler des Landes die Gruppe, welche die stärkste Loyalität gegenüber der Regierung zeigte. Der Tenor war eine fast einhellige, teils sogar »leidenschaftliche« Zustimmung zur Grenzsperrung. Eine Reihe von DDR-Künstlern ließ sich darüber hinaus von der SED in den »Operativplan zur kulturellen Betreuung« der Einsatzkräfte an der Grenze einbinden. Zwar gab es Autoren, die sich privat oder in »halb öffentlichen« Diskussionen kritisch zum Mauerbau äußerten, aber kein Künstler der DDR brachte dies im institutionellen Rahmen zur Sprache oder initiierte, wie bei der Biermann-Ausbürgerung 1976, eine Protestresolution.
Die Gründe für die ausgebliebene Revolte scheinen klar: Im Unterschied zum 17. Juni 1953 hätte sich die SED-Führung in der Offensive befunden und die DDR-Bürger mit ihrer strikt geheim gehaltenen Aktion und dem einschüchternden Militäraufgebot an der abgeriegelten Sektorengrenze überrumpelt. Verwiesen wird darüber hinaus auf die staatlichen Repressionen und die Präsenz sowjetischer Truppen. Ein Volksaufstand wäre wie am 17. Juni niedergeschlagen worden. Und weil dies den DDR-Bürgern damals bewusst gewesen sei, unterdrückten sie ihre Wut und resignierten. Doch diese Begründung greift zu kurz.
Ein anderer Erklärungsansatz dürfte für besonders viel Diskussion sorgen. Er geht im Kern davon aus, dass viele DDR-Bürger keinen Anlass sahen, gegen die Errichtung der Berliner Mauer zu protestieren, sondern sie sogar guthießen. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Neu aber ist, dass der Radius hinsichtlich der Anzahl der Befürworter sowie deren Motive erweitert werden muss. Viele Ostdeutsche fanden die Mauer damals richtig, weil notwendig: Die Sektorengrenze wurde ja nicht vorrangig geschlossen, weil der Frieden gesichert werden musste, wie es die SED verkündete, sondern um die Abwanderung von Fachkräften zu verhindern und die DDR wirtschaftlich zu stabilisieren.
Es ist bemerkenswert, dass sowohl die Befürworter als auch die Gegner häufig gleichlautend von der Gefahr eines Ausblutens sprechen, wenn die Flüchtlingswelle nicht gestoppt worden wäre. Insbesondere bei den Intellektuellen war das Bannen dieser Gefahr mit der Hoffnung verbunden, man würde im Schatten der Mauer – nun endlich ungestört – das sozialistische Experiment erfolgreich mitgestalten können, die SED-Führung würde eine Liberalisierung zulassen und mit Kritikern in einen Dialog treten.
Viele DDR-Bürger hofften, einen Burgfrieden mit der SED-Führung einzugehen: Akzeptanz der Mauer und im Gegenzug eine Liberalisierung der DDR. Eine äußerst trügerische Hoffnung. Nur den wenigsten war wohl bewusst, dass sie mit der widerstandslosen Hinnahme der Grenzschließung am 13. August 1961 die Mauer mitgebaut und damit auch die deutsche Teilung gebilligt hatten. Während der Mauerbau und seine Folgen im kollektiven Gedächtnis der Westdeutschen immer fest verankert blieben, setzte bei vielen Ostdeutschen ein Verdrängungsprozess ein, der erst im November 1989 endete.
Allerdings spielte die Mauer bei den Protesten im Herbst 1989 kaum eine Rolle: Sowohl in den Papieren und Programmen der Oppositionsbewegung in den 1980er-Jahren als auch auf der Ost-Berliner Großdemonstration am 4. November 1989 wurde die Forderung nach Beseitigung der Mauer nicht erhoben. Es ging um Reformen in der DDR, nicht um die Überwindung der deutschen Teilung.
Es wird zu untersuchen sein, warum andere Ereignisse in der kurzen Geschichte der DDR mehr Bürger in Unruhe versetzten als der Bau der Berliner Mauer 1961. Dabei reicht es nicht aus, die Geschichte der Mauer auf Schießbefehl und Mauertote zu reduzieren. Es wird Zeit mit der Aufarbeitung der DDR-Aufarbeitung zu beginnen.
Vom Autor erscheint gerade das Buch: »Die Mauer war doch richtig!« – Warum so viele DDR-Bürger den Mauerbau widerstandslos hinnahmen, be.bra verlag, Juli 2021, 208 S., 20 €.