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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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War da was mit Kissinger?

Zur sel­ben Zeit, da der Bun­des­re­gie­rung nichts Bes­se­res zu Putins Krieg gegen die Ukrai­ne ein­fiel, als eine Mili­ta­ri­sie­rung des poli­ti­schen Den­kens, hat der ehe­ma­li­ge Außen­mi­ni­ster der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, Hen­ry Kis­sin­ger, auf dem Wirt­schafts­gip­fel in Davos dazu auf­ge­ru­fen, die hohe Kunst der Diplo­ma­tie nicht unter die Räder kom­men zu las­sen und mit der Dämo­ni­sie­rung Russ­lands aufzuhören.

Den Rei­chen und Mäch­ti­gen ver­schlu­gen die Rat­schlä­ger des Frie­dens­no­bel­preis­trä­gers von 1973 schier den Atem. In Deutsch­land hielt man es für das Klüg­ste, zur Tages­ord­nung über­zu­ge­hen und Russ­land wie gewohnt als Übel­tä­ter an den Pran­ger zu stel­len. Die Begleit­mu­sik lie­fer­ten ange­se­he­ne Blät­ter wie etwa die Süd­deut­sche Zei­tung.

»Die rus­si­sche Sol­da­tes­ka zer­stört, brand­schatzt und mor­det nach Gusto. Die Schlach­te­rei zeigt kei­nen Hauch von Mensch­lich­keit mehr, das Leid ist unfass­bar, schon die Bil­der schnü­ren die Keh­le zu«, schrieb das Blatt in der Aus­ga­be vom 4. April 2022. »Jeden Tag ermor­den rus­si­sche Sol­da­ten Zivi­li­sten, zer­stö­ren Häu­ser, bom­bar­die­ren Eisen­bahn­li­ni­en und erobern immer mehr ukrai­ni­sches Gebiet« (Aus­ga­be vom 27. Mai 2022). »Mit einer Zeit­lu­pen-Stra­te­gie frisst sich die rus­si­sche Armee im Don­bass fest, hin­ter­lässt aus­ge­brann­te Häu­ser­hül­len und blut­ge­füll­te Gra­nat­trich­ter« (Aus­ga­be vom 30. Mai 2022).

Wer je Gele­gen­heit hat­te, einen Blick in die Front­be­rich­te von Nazi­zei­tun­gen zu wer­fen, den über­läuft bei sol­chen Tex­ten eine Gän­se­haut. Wäh­rend der Kämp­fe um Ber­lin habe ich im Früh­jahr 1945 als Sol­dat der deut­schen Wehr­macht oft in Gra­nat­trich­ter geblickt, in denen ver­stüm­mel­te Lei­chen lagen, mit Blut gefüllt war kein ein­zi­ger. Viel­leicht soll­ten die Justiz­mi­ni­ster der Bun­des­län­der bei ihrem löb­li­chen Vor­ha­ben, Hass­bei­trä­ge in den sozia­len Netz­wer­ken zu unter­bin­den, ab und zu auch einen Blick in die seriö­se Pres­se werfen.

Kis­sin­ger emp­fahl der Ukrai­ne ziem­lich unver­blümt, auf die Krim sowie auf die Regio­nen Lug­ansk und Donezk im Don­bass zu ver­zich­ten. Nur so, des­sen sei er sich sicher, könn­ten eine wei­te­re Eska­la­ti­on und ein end­los in die Län­ge gezo­ge­ner Krieg ver­hin­dert wer­den. Sein Appell fand kaum Reso­nanz. Kon­ster­niert frag­te die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung am 31. Mai, ob Ame­ri­kas diplo­ma­ti­scher Tau­send­sas­sa in der Nach­fol­ge Met­ter­nichs und Bis­marcks sei­nen poli­ti­schen Instinkt ver­lo­ren habe. »Von wegen«, lau­te­te die Ant­wort. Was Kis­sin­ger in der Schweiz zum Besten gege­ben habe, sei­en die Eck­punk­te jener Real­po­li­tik, die er seit Jahr­zehn­ten für die ein­zig ziel­füh­ren­de halte.

Der ehe­ma­li­ge US-Außen­mi­ni­ster warn­te vor einer demü­ti­gen­den Nie­der­la­ge Russ­lands. Sie wür­de Euro­pa auf lan­ge Zeit gefähr­den. Frei­mü­tig räum­te Kis­sin­ger in Davos ein, den Angriff auf die Ukrai­ne nicht für mög­lich gehal­ten zu haben. Aber wegen ein paar Qua­drat­ki­lo­me­tern im Don­bass soll­te Euro­pa sei­ne Sta­bi­li­tät nicht aufs Spiel setzen.

Bereits vor acht Jah­ren hat­te Kis­sin­ger sich dage­gen gewandt, die Ukrai­ne vor die Alter­na­ti­ve zu stel­len, sich ent­we­der für den Westen oder für den Osten zu ent­schei­den. Wenn die Ukrai­ne über­le­ben und gedei­hen sol­le, schrieb er am 5. März 2014 in der Washing­ton Post, »darf sie nicht der Vor­po­sten der einen Sei­te gegen die ande­re sein – sie soll­te als Brücke zwi­schen den bei­den Sei­ten fungieren«.

Nach Kis­sin­gers Über­zeu­gung besteht der Test für die Poli­tik dar­in, wie sie endet, nicht wie sie beginnt. Selbst so berühm­te Dis­si­den­ten wie Alex­an­der Sol­sche­ni­zyn und Joseph Brod­s­ky hät­ten betont, dass die Ukrai­ne ein inte­gra­ler Bestand­teil der rus­si­schen Geschich­te und sogar Russ­lands sei. »Für den Westen ist die Dämo­ni­sie­rung von Wla­di­mir Putin kei­ne Poli­tik, son­dern ein Ali­bi für das Feh­len einer Politik.«