Zur selben Zeit, da der Bundesregierung nichts Besseres zu Putins Krieg gegen die Ukraine einfiel, als eine Militarisierung des politischen Denkens, hat der ehemalige Außenminister der Vereinigten Staaten, Henry Kissinger, auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos dazu aufgerufen, die hohe Kunst der Diplomatie nicht unter die Räder kommen zu lassen und mit der Dämonisierung Russlands aufzuhören.
Den Reichen und Mächtigen verschlugen die Ratschläger des Friedensnobelpreisträgers von 1973 schier den Atem. In Deutschland hielt man es für das Klügste, zur Tagesordnung überzugehen und Russland wie gewohnt als Übeltäter an den Pranger zu stellen. Die Begleitmusik lieferten angesehene Blätter wie etwa die Süddeutsche Zeitung.
»Die russische Soldateska zerstört, brandschatzt und mordet nach Gusto. Die Schlachterei zeigt keinen Hauch von Menschlichkeit mehr, das Leid ist unfassbar, schon die Bilder schnüren die Kehle zu«, schrieb das Blatt in der Ausgabe vom 4. April 2022. »Jeden Tag ermorden russische Soldaten Zivilisten, zerstören Häuser, bombardieren Eisenbahnlinien und erobern immer mehr ukrainisches Gebiet« (Ausgabe vom 27. Mai 2022). »Mit einer Zeitlupen-Strategie frisst sich die russische Armee im Donbass fest, hinterlässt ausgebrannte Häuserhüllen und blutgefüllte Granattrichter« (Ausgabe vom 30. Mai 2022).
Wer je Gelegenheit hatte, einen Blick in die Frontberichte von Nazizeitungen zu werfen, den überläuft bei solchen Texten eine Gänsehaut. Während der Kämpfe um Berlin habe ich im Frühjahr 1945 als Soldat der deutschen Wehrmacht oft in Granattrichter geblickt, in denen verstümmelte Leichen lagen, mit Blut gefüllt war kein einziger. Vielleicht sollten die Justizminister der Bundesländer bei ihrem löblichen Vorhaben, Hassbeiträge in den sozialen Netzwerken zu unterbinden, ab und zu auch einen Blick in die seriöse Presse werfen.
Kissinger empfahl der Ukraine ziemlich unverblümt, auf die Krim sowie auf die Regionen Lugansk und Donezk im Donbass zu verzichten. Nur so, dessen sei er sich sicher, könnten eine weitere Eskalation und ein endlos in die Länge gezogener Krieg verhindert werden. Sein Appell fand kaum Resonanz. Konsterniert fragte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 31. Mai, ob Amerikas diplomatischer Tausendsassa in der Nachfolge Metternichs und Bismarcks seinen politischen Instinkt verloren habe. »Von wegen«, lautete die Antwort. Was Kissinger in der Schweiz zum Besten gegeben habe, seien die Eckpunkte jener Realpolitik, die er seit Jahrzehnten für die einzig zielführende halte.
Der ehemalige US-Außenminister warnte vor einer demütigenden Niederlage Russlands. Sie würde Europa auf lange Zeit gefährden. Freimütig räumte Kissinger in Davos ein, den Angriff auf die Ukraine nicht für möglich gehalten zu haben. Aber wegen ein paar Quadratkilometern im Donbass sollte Europa seine Stabilität nicht aufs Spiel setzen.
Bereits vor acht Jahren hatte Kissinger sich dagegen gewandt, die Ukraine vor die Alternative zu stellen, sich entweder für den Westen oder für den Osten zu entscheiden. Wenn die Ukraine überleben und gedeihen solle, schrieb er am 5. März 2014 in der Washington Post, »darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen den beiden Seiten fungieren«.
Nach Kissingers Überzeugung besteht der Test für die Politik darin, wie sie endet, nicht wie sie beginnt. Selbst so berühmte Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky hätten betont, dass die Ukraine ein integraler Bestandteil der russischen Geschichte und sogar Russlands sei. »Für den Westen ist die Dämonisierung von Wladimir Putin keine Politik, sondern ein Alibi für das Fehlen einer Politik.«