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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wahn und Vorurteil

Der 18. Juli 2021 ist ein son­ni­ger Tag in Lana, einer Süd­ti­ro­ler Markt­ge­mein­de süd­lich von Meran. Am Spät­nach­mit­tag trifft sich Karl Engel­mayr (87) mit sei­ner lang­jäh­ri­gen Part­ne­rin Maria Waschgler (78) im Park des Senio­ren­heims, in dem Maria lebt. Bei­de sind im Dorf bekannt und beliebt. Es ist gegen 18.30 Uhr. Plötz­lich zieht Karl ein Küchen­mes­ser aus sei­ner Jacken­ta­sche und sticht vor den Augen von Mit­ar­bei­tern und Bewoh­nern des Heims sei­ner bis­he­ri­gen Lebens­ge­fähr­tin drei­mal in die Brust. Eini­ge Mit­ar­bei­ter packen den Mann und hal­ten ihn bis zum Ein­tref­fen der Cara­bi­nie­ri fest. Karl lei­stet kei­nen Wider­stand. Die Fra­ge, war­um er Maria erstach, ist auch Tage nach der Tat noch unbe­ant­wor­tet. Karl Engel­mayr soll ver­wirrt gewe­sen sein und wur­de in die psych­ia­tri­sche Abtei­lung des Kran­ken­hau­ses von Meran gebracht (Quel­le: stol it, Nach­rich­ten für Süd­ti­rol).

Eine ande­re Bezie­hungs­tat, von der man heu­te noch spricht, ereig­ne­te sich genau 200 Jah­re frü­her. Am 21. Juni 1821 ersticht Johann Chri­sti­an Woy­zeck auf einem Spa­zier­gang in Leip­zig die Wit­we Johan­na Woost, mit der er ein Kind hat und die ihn betro­gen hat: »Nimm das und das! Kannst du nicht ster­ben? So! So! Ha sie zuckt noch, noch nicht, noch nicht? Immer noch? Stößt zu. Bist du tot? Tot! Tot! Es kom­men Leu­te, er läuft weg.« Woy­zeck geht zum Tan­zen ins Wirts­haus. Als die Leu­te auf sei­ne blut­ver­schmier­ten Hän­de auf­merk­sam wer­den, läuft er erneut weg, hin zu einem Teich, in den er das Mes­ser wirft.

Der jung ver­stor­be­ne Georg Büch­ner (1813-1837) hat den Vor­gang zu einem Dra­ma ver­ar­bei­tet, sei­nem Haupt­werk, das aller­dings nur knapp 20 gedruck­te Sei­ten in der Lese- und Büh­nen­fas­sung zählt und unvoll­endet blieb. Büch­ner konn­te ihm weder einen Titel geben, noch konn­te er dar­stel­len, wel­chen Ver­lauf der Fall nahm. Histo­risch ver­bürgt sind die Fest­nah­me, die Ver­hö­re, die Gut­ach­ten, die Ver­tei­di­gungs­schrif­ten. Ein­ge­hend dis­ku­tiert wur­den damals in Fach­krei­sen Fra­gen nach der Ver­an­la­gung, nach den indi­vi­du­el­len und gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen und nach der Zurech­nungs­fä­hig­keit wäh­rend der Tat.

Es wird ange­nom­men, dass Georg Büch­ner Infor­ma­tio­nen über den Pro­zess vor allem in Fach­zeit­schrif­ten fand, die er der Biblio­thek sei­nes Vaters ent­nahm. Die­se berich­te­ten nicht nur über die ver­schie­de­nen, von gesell­schaft­li­chen Vor­ur­tei­len gepräg­ten Gut­ach­ten, son­dern auch über die Aus­sa­gen von Zeu­gen, wonach W. unter Wahn­vor­stel­lun­gen (Aus­sa­ge eines Zim­mer­wirts) gelit­ten habe, schon seit Jah­ren Stim­men gehört und eine Gei­ster­er­schei­nung gehabt habe (Aus­sa­ge des Gefäng­nis­geist­li­chen), dass er unter Ver­stan­des­ver­wir­rung lei­de (aus: Georg Büch­ner, Wer­ke, hier: Woy­zeck, Anhang, Carl Han­ser Verlag,1980). Haupt­quel­le Büch­ners dürf­ten die gericht­li­chen Gut­ach­ten von Johann Chri­sti­an August Cla­rus gewe­sen sein, beson­ders das zwei­te mit dem Titel »Die Zurech­nungs­fä­hig­keit des Mör­ders Johann Chri­sti­an Woy­zeck, nach Grund­sät­zen der Staats­arz­nei­kun­de akten­mä­ßig erwiesen«.

Der Pro­zess erstreck­te sich über mehr als drei Jah­re. Die Hin­rich­tung des 44-jäh­ri­gen Woy­zeck mit dem Schwert erfolg­te nach der Ableh­nung meh­re­rer Gna­den­ge­su­che am 27. August 1824 auf dem Markt­platz in Leip­zig. Ein zeit­ge­nös­si­scher Stich zeigt den Platz vol­ler dicht gedrängt ste­hen­der Men­schen, aus deren Mit­te das Scha­fott meter­hoch empor­ragt, damit auch jeder­mann den Tod des Delin­quen­ten sehen kann. Auch nach der Hin­rich­tung wur­de die Ange­le­gen­heit in der Fach­welt und selbst bei nicht medi­zi­nisch gebil­de­ten Zeit­ge­nos­sen wei­ter dis­ku­tiert, dabei beson­ders die Fra­ge der Zurechnungsfähigkeit.

Woy­zeck und Büch­ner geben bis heu­te kei­ne Ruh. Jedes gro­ße Thea­ter hat seit der Urauf­füh­rung im Novem­ber 1913 im Münch­ner Resi­denz­thea­ter sei­ne Fas­sung des »Woy­zeck« auf die Büh­ne gebracht. Alban Berg schuf nach Büch­ners Dra­ma die Oper »Woz­zeck«, Urauf­füh­rung im Dezem­ber 1925 in der Ber­li­ner Staats­oper. Wer­ner Her­zog brach­te 1979 das Dra­men­frag­ment ins Kino – »Das Beste, was in unse­rer Spra­che geschrie­ben wur­de« –, mit Klaus Kin­ski und Eva Mat­tes in den Haupt­rol­len. Und seit 1951 ver­leiht die Deut­sche Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung den Büch­ner-Preis, inzwi­schen der renom­mier­te­ste und höchst­do­tier­te jähr­lich ver­ge­be­ne Lite­ra­tur­preis für deutsch­spra­chi­ge Autoren. Selbst­ver­ständ­lich neh­men die Preis­trä­ger und Preis­trä­ge­rin­nen in ihrer Dan­kes­re­de stets Bezug auf Büch­ner und häu­fig auch auf Woy­zeck. Im kom­men­den Herbst wird der öster­rei­chi­sche Schrift­stel­ler und Über­set­zer Cle­mens J. Setz anläss­lich der Jah­res­ta­gung der Aka­de­mie den Preis erhalten.

In die­se Rei­he der Inter­pre­ten und Inter­pre­ta­tio­nen hat sich jetzt auch der renom­mier­te schwe­di­sche Autor Ste­ve Sem-Sand­berg (»Die Elen­den von Łódź«, »Die Erwähl­ten«, »The­res«) ein­ge­reiht. Sein neu­er Roman »W.« ist 2019 in Schwe­den erschie­nen und liegt seit Mai auf Deutsch vor, über­tra­gen von der auf nor­di­sche Spra­chen spe­zia­li­sier­ten Über­set­ze­rin Gise­la Kosubek.

Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Ger­ma­ni­sten haben her­vor­ge­ho­ben, dass mit Woy­zeck erst­mals in der deut­schen Dich­tung ein Pro­le­ta­ri­er auf­trat (Her­mann Pongs: »Das klei­ne Lexi­kon der Welt­li­te­ra­tur«, 1958), ein »pau­per«, eine sehr arme, mit­tel­lo­se Per­son am Ran­de der Ver­elen­dung. Der sozia­len Tra­gö­die lie­ge »ein System zugrun­de: das System der Aus­beu­tung, Unter­drückung und Ent­frem­dung. Es ist sei­ne Armut, (die Woy­zeck) ret­tungs­los aus­lie­fert, und es ist die bis zum Extrem gestei­ger­te ent­frem­de­te Arbeit, die ihn erdrückt« (Alfons Glück, 1985, zitiert nach »Metz­ler Lexi­kon Weltliteratur«).

All die­se (literatur-)wissenschaftlichen und sozio­lo­gi­schen Aus­deu­tun­gen packt Sem-Sand­berg in sei­nem Roman in ein­dring­li­che Spra­che, so dass das Lesen bei aller Bit­ter­keit und bei allen Zumu­tun­gen des Stof­fes zu einem Genuss wird. Sem-Sand­berg schil­dert, wie W. bei einem Leip­zi­ger Perücken­ma­cher mit zehn Jah­ren in die Leh­re ein­tritt, die Mut­ter ist an Schwind­sucht gestor­ben, der Vater ein Trin­ker. Er schil­dert die Wan­der­jah­re, in denen sich Woy­zeck in diver­sen Stel­lun­gen ver­dingt. Er schil­dert die Jah­re als Sol­dat, die W. durch Euro­pa trei­ben, bis er in Leip­zig auf die ver­wit­we­te Johan­na Woost trifft, auf die Frau, die ihm zum Ver­häng­nis wird. Die Tat, die fol­gen­den Ver­hö­re und Unter­su­chun­gen, der Pro­zess, schließ­lich die Hin­rich­tung: Sie wer­den von Sem-Sand­berg her­aus­ge­löst aus dem trocke­nen Wust der histo­ri­schen Quel­len, des Papiers, auf dem sie auf­ge­schrie­ben sind, und in leben­di­ge Hand­lung gepackt. Dabei spürt er dem nir­gends doku­men­tier­ten »Innen­le­ben« Woy­zecks fein­füh­lig nach, öff­net Schicht für Schicht des Ver­schlos­se­nen, Ver­stumm­ten, zeigt, wie die­ser in einem Zustand phy­si­scher und psy­chi­scher Zer­rüt­tung den Mord beging und kommt dabei ihm und sei­nem Wahn sehr nahe. Eine fes­seln­de Ana­ly­se, bis zum bekann­ten Ende: Hän­de »kno­ten ihm nun das Hals­tuch auf und legen ihm eine Bin­de um die Augen. Hin­ter der Bin­de star­ren sei­ne nack­ten Augen direkt in den Him­mel hin­auf. Dort oben ist es gänz­lich klar, ein eis­kal­tes kla­res Licht, das er nicht wie­der­erkennt. In die­sem Licht zie­hen die Vögel immer enge­re Krei­se. Herr, hilf mir! Und sie stür­zen ab.«

Ste­ve Sem-Sand­berg: W., aus dem Schwe­di­schen von Gise­la Kosu­b­ek, Klett-Cot­ta 2021, 414 S., 25 .