Der 18. Juli 2021 ist ein sonniger Tag in Lana, einer Südtiroler Marktgemeinde südlich von Meran. Am Spätnachmittag trifft sich Karl Engelmayr (87) mit seiner langjährigen Partnerin Maria Waschgler (78) im Park des Seniorenheims, in dem Maria lebt. Beide sind im Dorf bekannt und beliebt. Es ist gegen 18.30 Uhr. Plötzlich zieht Karl ein Küchenmesser aus seiner Jackentasche und sticht vor den Augen von Mitarbeitern und Bewohnern des Heims seiner bisherigen Lebensgefährtin dreimal in die Brust. Einige Mitarbeiter packen den Mann und halten ihn bis zum Eintreffen der Carabinieri fest. Karl leistet keinen Widerstand. Die Frage, warum er Maria erstach, ist auch Tage nach der Tat noch unbeantwortet. Karl Engelmayr soll verwirrt gewesen sein und wurde in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses von Meran gebracht (Quelle: stol it, Nachrichten für Südtirol).
Eine andere Beziehungstat, von der man heute noch spricht, ereignete sich genau 200 Jahre früher. Am 21. Juni 1821 ersticht Johann Christian Woyzeck auf einem Spaziergang in Leipzig die Witwe Johanna Woost, mit der er ein Kind hat und die ihn betrogen hat: »Nimm das und das! Kannst du nicht sterben? So! So! Ha sie zuckt noch, noch nicht, noch nicht? Immer noch? Stößt zu. Bist du tot? Tot! Tot! Es kommen Leute, er läuft weg.« Woyzeck geht zum Tanzen ins Wirtshaus. Als die Leute auf seine blutverschmierten Hände aufmerksam werden, läuft er erneut weg, hin zu einem Teich, in den er das Messer wirft.
Der jung verstorbene Georg Büchner (1813-1837) hat den Vorgang zu einem Drama verarbeitet, seinem Hauptwerk, das allerdings nur knapp 20 gedruckte Seiten in der Lese- und Bühnenfassung zählt und unvollendet blieb. Büchner konnte ihm weder einen Titel geben, noch konnte er darstellen, welchen Verlauf der Fall nahm. Historisch verbürgt sind die Festnahme, die Verhöre, die Gutachten, die Verteidigungsschriften. Eingehend diskutiert wurden damals in Fachkreisen Fragen nach der Veranlagung, nach den individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen und nach der Zurechnungsfähigkeit während der Tat.
Es wird angenommen, dass Georg Büchner Informationen über den Prozess vor allem in Fachzeitschriften fand, die er der Bibliothek seines Vaters entnahm. Diese berichteten nicht nur über die verschiedenen, von gesellschaftlichen Vorurteilen geprägten Gutachten, sondern auch über die Aussagen von Zeugen, wonach W. unter Wahnvorstellungen (Aussage eines Zimmerwirts) gelitten habe, schon seit Jahren Stimmen gehört und eine Geistererscheinung gehabt habe (Aussage des Gefängnisgeistlichen), dass er unter Verstandesverwirrung leide (aus: Georg Büchner, Werke, hier: Woyzeck, Anhang, Carl Hanser Verlag,1980). Hauptquelle Büchners dürften die gerichtlichen Gutachten von Johann Christian August Clarus gewesen sein, besonders das zweite mit dem Titel »Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen«.
Der Prozess erstreckte sich über mehr als drei Jahre. Die Hinrichtung des 44-jährigen Woyzeck mit dem Schwert erfolgte nach der Ablehnung mehrerer Gnadengesuche am 27. August 1824 auf dem Marktplatz in Leipzig. Ein zeitgenössischer Stich zeigt den Platz voller dicht gedrängt stehender Menschen, aus deren Mitte das Schafott meterhoch emporragt, damit auch jedermann den Tod des Delinquenten sehen kann. Auch nach der Hinrichtung wurde die Angelegenheit in der Fachwelt und selbst bei nicht medizinisch gebildeten Zeitgenossen weiter diskutiert, dabei besonders die Frage der Zurechnungsfähigkeit.
Woyzeck und Büchner geben bis heute keine Ruh. Jedes große Theater hat seit der Uraufführung im November 1913 im Münchner Residenztheater seine Fassung des »Woyzeck« auf die Bühne gebracht. Alban Berg schuf nach Büchners Drama die Oper »Wozzeck«, Uraufführung im Dezember 1925 in der Berliner Staatsoper. Werner Herzog brachte 1979 das Dramenfragment ins Kino – »Das Beste, was in unserer Sprache geschrieben wurde« –, mit Klaus Kinski und Eva Mattes in den Hauptrollen. Und seit 1951 verleiht die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Büchner-Preis, inzwischen der renommierteste und höchstdotierte jährlich vergebene Literaturpreis für deutschsprachige Autoren. Selbstverständlich nehmen die Preisträger und Preisträgerinnen in ihrer Dankesrede stets Bezug auf Büchner und häufig auch auf Woyzeck. Im kommenden Herbst wird der österreichische Schriftsteller und Übersetzer Clemens J. Setz anlässlich der Jahrestagung der Akademie den Preis erhalten.
In diese Reihe der Interpreten und Interpretationen hat sich jetzt auch der renommierte schwedische Autor Steve Sem-Sandberg (»Die Elenden von Łódź«, »Die Erwählten«, »Theres«) eingereiht. Sein neuer Roman »W.« ist 2019 in Schweden erschienen und liegt seit Mai auf Deutsch vor, übertragen von der auf nordische Sprachen spezialisierten Übersetzerin Gisela Kosubek.
Literaturwissenschaftler und Germanisten haben hervorgehoben, dass mit Woyzeck erstmals in der deutschen Dichtung ein Proletarier auftrat (Hermann Pongs: »Das kleine Lexikon der Weltliteratur«, 1958), ein »pauper«, eine sehr arme, mittellose Person am Rande der Verelendung. Der sozialen Tragödie liege »ein System zugrunde: das System der Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung. Es ist seine Armut, (die Woyzeck) rettungslos ausliefert, und es ist die bis zum Extrem gesteigerte entfremdete Arbeit, die ihn erdrückt« (Alfons Glück, 1985, zitiert nach »Metzler Lexikon Weltliteratur«).
All diese (literatur-)wissenschaftlichen und soziologischen Ausdeutungen packt Sem-Sandberg in seinem Roman in eindringliche Sprache, so dass das Lesen bei aller Bitterkeit und bei allen Zumutungen des Stoffes zu einem Genuss wird. Sem-Sandberg schildert, wie W. bei einem Leipziger Perückenmacher mit zehn Jahren in die Lehre eintritt, die Mutter ist an Schwindsucht gestorben, der Vater ein Trinker. Er schildert die Wanderjahre, in denen sich Woyzeck in diversen Stellungen verdingt. Er schildert die Jahre als Soldat, die W. durch Europa treiben, bis er in Leipzig auf die verwitwete Johanna Woost trifft, auf die Frau, die ihm zum Verhängnis wird. Die Tat, die folgenden Verhöre und Untersuchungen, der Prozess, schließlich die Hinrichtung: Sie werden von Sem-Sandberg herausgelöst aus dem trockenen Wust der historischen Quellen, des Papiers, auf dem sie aufgeschrieben sind, und in lebendige Handlung gepackt. Dabei spürt er dem nirgends dokumentierten »Innenleben« Woyzecks feinfühlig nach, öffnet Schicht für Schicht des Verschlossenen, Verstummten, zeigt, wie dieser in einem Zustand physischer und psychischer Zerrüttung den Mord beging und kommt dabei ihm und seinem Wahn sehr nahe. Eine fesselnde Analyse, bis zum bekannten Ende: Hände »knoten ihm nun das Halstuch auf und legen ihm eine Binde um die Augen. Hinter der Binde starren seine nackten Augen direkt in den Himmel hinauf. Dort oben ist es gänzlich klar, ein eiskaltes klares Licht, das er nicht wiedererkennt. In diesem Licht ziehen die Vögel immer engere Kreise. Herr, hilf mir! Und sie stürzen ab.«
Steve Sem-Sandberg: W., aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek, Klett-Cotta 2021, 414 S., 25 €.