Was ist ein Plakatstörer? Wer glaubt, dass es sich dabei um jemanden handelt, der Wahlplakate beschädigt oder kreativ verfremdet, irrt. Es handelt sich vielmehr um den Fachbegriff eines Anbieters für jede Art von Wahlwerbung: »Plakatstörer sind eine hervorragende Möglichkeit, kurzfristig Informationen unter die Menschen zu bringen. Wenn sich beispielsweise eine konkurrierende Partei einen verbalen Fehltritt erlaubt hat, können Sie dies auf Plakatstörern aufgreifen.«
Es ist die große Zeit der Werbeprofis, Meinungsforscher und professionellen Bildbearbeiter. Was uns da von ernst bis heiter anblickt, mit Hund, Kindern und natürlich viel Natur sind Inszenierungen, bei denen nichts dem Zufall überlassen wurde. Doch was aus dem wahren Leben gegriffen sein soll, wirkt leblos und beliebig und kommt einem seltsam bekannt vor. Noch schlimmer sind die Texte, bei denen eine panische Angst vor zu viel Konkretisierung durchschimmert. »Gemeinsam für ein modernes Deutschland«, »Respekt für dich«, »Nie gab es mehr zu tun«, »Deutschland – aber normal«. All dies ließe kaum Rückschlüsse auf die werbende Partei zu, wenn sie nicht draufstünde. Nur die Linke wird bisweilen etwas konkreter, aber am Laternenmast vor meinem Haus wirbt diese Partei dafür: »Spandau auf den Kopf stellen«. Was immer das heißen mag.
Ganz ignorieren kann die Parteienwelt die wirklichen Probleme der Wähler nicht. Und so sind, zumindest bis zum Wahlabend, alle für bezahlbare Mieten, ein besseres Internet, den sicheren Arbeitsplatz und selbstverständlich für Umweltschutz. Wie immer gibt sich die SPD kurz vor den Wahlen sozial, wirbt für Mindestlohn und sichere Renten. Aber wieso fällt mir gerade bei dieser Partei immer der Satz von Franz Müntefering aus dem Jahr 2006 ein? »Ich bleibe dabei: Dass wir oft an Wahlkampfaussagen gemessen werden, ist nicht gerecht.«
Was aber macht es so attraktiv, ein Bundes- oder Landtagsmandat anzustreben? Ist es wirklich das politische Anliegen? Nun ja, in jedem Fall lohnt es sich. Ist man erstmal in einem Parlament, verfügt man über viele Privilegien, vor allem als Bundestagsabgeordneter. 709 Abgeordnete sitzen derzeit im Reichstagsgebäude, so viel wie noch nie. Und es können – dem komplizierten Wahlsystem sei Dank – noch viel mehr werden, trotz einer unlängst beschlossenen Reform.
Die Volksvertreter sind in der beneidenswerten Lage, über ihre Einkünfte weitgehend selbst zu bestimmen. Derzeit liegt das Monatsgehalt eines Abgeordneten bei 10.012,89 Euro. Man nennt es Diät, das hört sich etwas schlanker an. Dazu kommt eine steuerfreie Kostenpauschale von etwa 50.000 Euro im Jahr, deren tatsächliche Verwendung nicht kontrolliert wird. Für den Bürobedarf gibt es nochmals einen Betrag von 12.000 Euro pro Jahr, das sogenannte Sachleistungskonto. Ferner haben Abgeordnete Anspruch auf eine steuerfreie Kostenpauschale für das Büro im Wahlkreis, für Mehraufwendungen in der Bundeshauptstadt, zum Beispiel eine Zweitwohnung, sowie für Aufwendungen für Wahlkreisbetreuung und Repräsentation. Auch andere geldwerte Leistungen stehen zur Verfügung. Eine Dauerfahrkarte erster Klasse der Deutschen Bahn ist ebenso selbstverständlich wie Fahrscheine für die öffentlichen Verkehrsmittel der Hauptstadt. Wem diese zu voll sind, darf auch auf eine schwarze Limousine nebst Chauffeur zurückgreifen.
Auch wenn man aus Alters- oder sonstigen Gründen sein Abgeordnetenmandat nicht mehr wahrnehmen kann, fällt man nicht ins Bodenlose. Hier greift das sogenannte Übergangsgeld, das längstens 18 Monate gezahlt wird. Die Höhe richtet sich nach den Jahren, die der Abgeordnete im Plenarsaal verbracht hat. Für jedes Jahr bekommt er die Abgeordnetenentschädigung, zurzeit liegt diese bei 10.083 Euro. Wer sehr lange Parlamentarier war, kann so auf bis zu 180.000 Euro kommen. Der einzige Nachteil: Ab dem 2. Monat werden etwaige Einkünfte auf das Übergangsgeld angerechnet. Dafür ist die Altersversorgung äußerst großzügig geregelt. Pro Abgeordnetenjahr bekommen die ehemaligen Parlamentarier 2,5 Prozent ihrer Diäten als Pension, ohne jemals eingezahlt zu haben. Nach zehn Jahren sind das schon knapp 2000 Euro.
Für etliche Abgeordnete reichen die Zuwendungen aber nicht aus, sie müssen aufstocken. Hartz-IV-Empfänger kennen das. Nicht erst seit den lukrativen Maskengeschäften weiß man, dass Volksvertreter viele Möglichkeiten wahrnehmen, sich etwas hinzuzuverdienen. Der Bundestagsverwaltung wurden für die zu Ende gehende Legislaturperiode 53 Millionen zusätzliche Einkünfte gemeldet. Spitzenreiter war der ehemalige CDU-Abgeordnete, Jurist und heutige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth, welcher von seiner Kanzlei eine jährliche Zuwendung von einer Million Euro überwiesen bekam.
Angesichts der vielen Nebentätigkeiten erklärt sich auch unbedarften Beobachtern, weshalb im Plenum so viele Plätze meist leer bleiben. Das hier Parlamentarismus vielleicht nur vorgegaukelt wird, schwante schon 2015 dem Journalisten Roger Willemsen. Er hat sich die Mühe gemacht, ein ganzes Jahr auf der Zuschauertribüne des Bundestages zu sitzen, um den tieferen Sinn dieser demokratischen Einrichtung zu erforschen. Das Fazit seiner Beobachtungen mündete in dem 400 Seiten starken Buch »Das hohe Haus«. Ernüchtert stellt er fest, dass die meisten Entscheidungen längst gefallen sind, bevor die Abgeordneten darüber abstimmen. Die Loyalität zur eigenen Partei, der strenge Fraktionszwang verhindern eine lebendige Diskussion und fördern Rituale und Langeweile. »Schaut man in die Zeitung, so war heute eine leidenschaftliche, turbulente, heftige Auseinandersetzung um die Frauenquote, saß man dabei, war es ein inszenierter, durchchoreografierter Schwank, aus dem sich einzelne Redebeiträge wie Fontänen erhoben.«
Viel wichtiger als der Plenarsaal ist die Lobby, ursprünglich eine Wandelhalle, in der Interessenvertreter Abgeordnete trafen, um diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. Eine solche Räumlichkeit ist längst nicht mehr notwendig, da heutige Lobbyisten einen Ausweis haben, der ihnen jederzeit Zutritt zu den Abgeordnetenbüros verschafft. Viele Gesetzesentwürfe werden in renommierten Anwaltskanzleien im Sinne einflussreicher Interessenverbände vorformuliert und landen nicht selten nahezu unverändert in Bundesgesetzblatt. Ein zeitnahes Beispiel für effektiven Lobbyismus ist die CO2-Abgabe für Wohngebäude. Die Kosten sollten zu gleichen Teilen auf Mieter und Vermieter aufgeteilt werden, so war es beschlossen. Doch einige CDU-Abgeordnete intervenierten in letzter Minute: Die Vermieter blieben verschont.
In den USA sind nahezu alle Abgeordnete Dollar-Millionäre. Davon ist Deutschland noch weit entfernt. Aber wir holen auf. Wegen der mangelnden Transparenz lässt sich die Zahl der Euro-Millionäre im Bundestag nicht genau bestimmen, aber von einigen weiß man, dass sie schon US-Niveau erreicht haben.
Wenn wundert es, dass die Zahl derjenigen wächst, die sich angesichts dessen dem alle vier Jahre wiederkehrenden Ritual nicht mehr unterwerfen wollen oder sich nicht vertreten fühlen? Der Altenpfleger, die Krankenschwester, der Hartz-IV-Empfänger, die alleinerziehende Mutter? »Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten«, lautet eine alte Parole der Anarchisten. Die parlamentarischen Demokratien haben seit ihrer Entstehung zumindest so viele Hürden eingebaut, dass eine grundlegende Änderung der politischen Verhältnisse kaum noch vorstellbar ist. Im Märchen vom Schlaraffenland braucht es ohnehin keine Demokratie. Dort sind alle satt, zufrieden und glücklich.