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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wahlen zum Schlaraffenland

Was ist ein Pla­katstö­rer? Wer glaubt, dass es sich dabei um jeman­den han­delt, der Wahl­pla­ka­te beschä­digt oder krea­tiv ver­frem­det, irrt. Es han­delt sich viel­mehr um den Fach­be­griff eines Anbie­ters für jede Art von Wahl­wer­bung: »Pla­katstö­rer sind eine her­vor­ra­gen­de Mög­lich­keit, kurz­fri­stig Infor­ma­tio­nen unter die Men­schen zu brin­gen. Wenn sich bei­spiels­wei­se eine kon­kur­rie­ren­de Par­tei einen ver­ba­len Fehl­tritt erlaubt hat, kön­nen Sie dies auf Pla­katstö­rern aufgreifen.«

Es ist die gro­ße Zeit der Wer­be­pro­fis, Mei­nungs­for­scher und pro­fes­sio­nel­len Bild­be­ar­bei­ter. Was uns da von ernst bis hei­ter anblickt, mit Hund, Kin­dern und natür­lich viel Natur sind Insze­nie­run­gen, bei denen nichts dem Zufall über­las­sen wur­de. Doch was aus dem wah­ren Leben gegrif­fen sein soll, wirkt leb­los und belie­big und kommt einem selt­sam bekannt vor. Noch schlim­mer sind die Tex­te, bei denen eine pani­sche Angst vor zu viel Kon­kre­ti­sie­rung durch­schim­mert. »Gemein­sam für ein moder­nes Deutsch­land«, »Respekt für dich«, »Nie gab es mehr zu tun«, »Deutsch­land – aber nor­mal«. All dies lie­ße kaum Rück­schlüs­se auf die wer­ben­de Par­tei zu, wenn sie nicht drauf­stün­de. Nur die Lin­ke wird bis­wei­len etwas kon­kre­ter, aber am Later­nen­mast vor mei­nem Haus wirbt die­se Par­tei dafür: »Span­dau auf den Kopf stel­len«. Was immer das hei­ßen mag.

Ganz igno­rie­ren kann die Par­tei­en­welt die wirk­li­chen Pro­ble­me der Wäh­ler nicht. Und so sind, zumin­dest bis zum Wahl­abend, alle für bezahl­ba­re Mie­ten, ein bes­se­res Inter­net, den siche­ren Arbeits­platz und selbst­ver­ständ­lich für Umwelt­schutz. Wie immer gibt sich die SPD kurz vor den Wah­len sozi­al, wirbt für Min­dest­lohn und siche­re Ren­ten. Aber wie­so fällt mir gera­de bei die­ser Par­tei immer der Satz von Franz Mün­te­fe­ring aus dem Jahr 2006 ein? »Ich blei­be dabei: Dass wir oft an Wahl­kampf­aus­sa­gen gemes­sen wer­den, ist nicht gerecht.«

Was aber macht es so attrak­tiv, ein Bun­des- oder Land­tags­man­dat anzu­stre­ben? Ist es wirk­lich das poli­ti­sche Anlie­gen? Nun ja, in jedem Fall lohnt es sich. Ist man erst­mal in einem Par­la­ment, ver­fügt man über vie­le Pri­vi­le­gi­en, vor allem als Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter. 709 Abge­ord­ne­te sit­zen der­zeit im Reichs­tags­ge­bäu­de, so viel wie noch nie. Und es kön­nen – dem kom­pli­zier­ten Wahl­sy­stem sei Dank – noch viel mehr wer­den, trotz einer unlängst beschlos­se­nen Reform.

Die Volks­ver­tre­ter sind in der benei­dens­wer­ten Lage, über ihre Ein­künf­te weit­ge­hend selbst zu bestim­men. Der­zeit liegt das Monats­ge­halt eines Abge­ord­ne­ten bei 10.012,89 Euro. Man nennt es Diät, das hört sich etwas schlan­ker an. Dazu kommt eine steu­er­freie Kosten­pau­scha­le von etwa 50.000 Euro im Jahr, deren tat­säch­li­che Ver­wen­dung nicht kon­trol­liert wird. Für den Büro­be­darf gibt es noch­mals einen Betrag von 12.000 Euro pro Jahr, das soge­nann­te Sach­lei­stungs­kon­to. Fer­ner haben Abge­ord­ne­te Anspruch auf eine steu­er­freie Kosten­pau­scha­le für das Büro im Wahl­kreis, für Mehr­auf­wen­dun­gen in der Bun­des­haupt­stadt, zum Bei­spiel eine Zweit­woh­nung, sowie für Auf­wen­dun­gen für Wahl­kreis­be­treu­ung und Reprä­sen­ta­ti­on. Auch ande­re geld­wer­te Lei­stun­gen ste­hen zur Ver­fü­gung. Eine Dau­er­fahr­kar­te erster Klas­se der Deut­schen Bahn ist eben­so selbst­ver­ständ­lich wie Fahr­schei­ne für die öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel der Haupt­stadt. Wem die­se zu voll sind, darf auch auf eine schwar­ze Limou­si­ne nebst Chauf­feur zurückgreifen.

Auch wenn man aus Alters- oder son­sti­gen Grün­den sein Abge­ord­ne­ten­man­dat nicht mehr wahr­neh­men kann, fällt man nicht ins Boden­lo­se. Hier greift das soge­nann­te Über­gangs­geld, das läng­stens 18 Mona­te gezahlt wird. Die Höhe rich­tet sich nach den Jah­ren, die der Abge­ord­ne­te im Ple­nar­saal ver­bracht hat. Für jedes Jahr bekommt er die Abge­ord­ne­ten­ent­schä­di­gung, zur­zeit liegt die­se bei 10.083 Euro. Wer sehr lan­ge Par­la­men­ta­ri­er war, kann so auf bis zu 180.000 Euro kom­men. Der ein­zi­ge Nach­teil: Ab dem 2. Monat wer­den etwa­ige Ein­künf­te auf das Über­gangs­geld ange­rech­net. Dafür ist die Alters­ver­sor­gung äußerst groß­zü­gig gere­gelt. Pro Abge­ord­ne­ten­jahr bekom­men die ehe­ma­li­gen Par­la­men­ta­ri­er 2,5 Pro­zent ihrer Diä­ten als Pen­si­on, ohne jemals ein­ge­zahlt zu haben. Nach zehn Jah­ren sind das schon knapp 2000 Euro.

Für etli­che Abge­ord­ne­te rei­chen die Zuwen­dun­gen aber nicht aus, sie müs­sen auf­stocken. Hartz-IV-Emp­fän­ger ken­nen das. Nicht erst seit den lukra­ti­ven Mas­ken­ge­schäf­ten weiß man, dass Volks­ver­tre­ter vie­le Mög­lich­kei­ten wahr­neh­men, sich etwas hin­zu­zu­ver­die­nen. Der Bun­des­tags­ver­wal­tung wur­den für die zu Ende gehen­de Legis­la­tur­pe­ri­ode 53 Mil­lio­nen zusätz­li­che Ein­künf­te gemel­det. Spit­zen­rei­ter war der ehe­ma­li­ge CDU-Abge­ord­ne­te, Jurist und heu­ti­ge Prä­si­dent des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts Ste­phan Har­barth, wel­cher von sei­ner Kanz­lei eine jähr­li­che Zuwen­dung von einer Mil­li­on Euro über­wie­sen bekam.

Ange­sichts der vie­len Neben­tä­tig­kei­ten erklärt sich auch unbe­darf­ten Beob­ach­tern, wes­halb im Ple­num so vie­le Plät­ze meist leer blei­ben. Das hier Par­la­men­ta­ris­mus viel­leicht nur vor­ge­gau­kelt wird, schwan­te schon 2015 dem Jour­na­li­sten Roger Wil­lem­sen. Er hat sich die Mühe gemacht, ein gan­zes Jahr auf der Zuschau­er­tri­bü­ne des Bun­des­ta­ges zu sit­zen, um den tie­fe­ren Sinn die­ser demo­kra­ti­schen Ein­rich­tung zu erfor­schen. Das Fazit sei­ner Beob­ach­tun­gen mün­de­te in dem 400 Sei­ten star­ken Buch »Das hohe Haus«. Ernüch­tert stellt er fest, dass die mei­sten Ent­schei­dun­gen längst gefal­len sind, bevor die Abge­ord­ne­ten dar­über abstim­men. Die Loya­li­tät zur eige­nen Par­tei, der stren­ge Frak­ti­ons­zwang ver­hin­dern eine leben­di­ge Dis­kus­si­on und för­dern Ritua­le und Lan­ge­wei­le. »Schaut man in die Zei­tung, so war heu­te eine lei­den­schaft­li­che, tur­bu­len­te, hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung um die Frau­en­quo­te, saß man dabei, war es ein insze­nier­ter, durch­cho­reo­gra­fier­ter Schwank, aus dem sich ein­zel­ne Rede­bei­trä­ge wie Fon­tä­nen erhoben.«

Viel wich­ti­ger als der Ple­nar­saal ist die Lob­by, ursprüng­lich eine Wan­del­hal­le, in der Inter­es­sen­ver­tre­ter Abge­ord­ne­te tra­fen, um die­se in ihrem Sin­ne zu beein­flus­sen. Eine sol­che Räum­lich­keit ist längst nicht mehr not­wen­dig, da heu­ti­ge Lob­by­isten einen Aus­weis haben, der ihnen jeder­zeit Zutritt zu den Abge­ord­ne­ten­bü­ros ver­schafft. Vie­le Geset­zes­ent­wür­fe wer­den in renom­mier­ten Anwalts­kanz­lei­en im Sin­ne ein­fluss­rei­cher Inter­es­sen­ver­bän­de vor­for­mu­liert und lan­den nicht sel­ten nahe­zu unver­än­dert in Bun­des­ge­setz­blatt. Ein zeit­na­hes Bei­spiel für effek­ti­ven Lob­by­is­mus ist die CO2-Abga­be für Wohn­ge­bäu­de. Die Kosten soll­ten zu glei­chen Tei­len auf Mie­ter und Ver­mie­ter auf­ge­teilt wer­den, so war es beschlos­sen. Doch eini­ge CDU-Abge­ord­ne­te inter­ve­nier­ten in letz­ter Minu­te: Die Ver­mie­ter blie­ben verschont.

In den USA sind nahe­zu alle Abge­ord­ne­te Dol­lar-Mil­lio­nä­re. Davon ist Deutsch­land noch weit ent­fernt. Aber wir holen auf. Wegen der man­geln­den Trans­pa­renz lässt sich die Zahl der Euro-Mil­lio­nä­re im Bun­des­tag nicht genau bestim­men, aber von eini­gen weiß man, dass sie schon US-Niveau erreicht haben.

Wenn wun­dert es, dass die Zahl der­je­ni­gen wächst, die sich ange­sichts des­sen dem alle vier Jah­re wie­der­keh­ren­den Ritu­al nicht mehr unter­wer­fen wol­len oder sich nicht ver­tre­ten füh­len? Der Alten­pfle­ger, die Kran­ken­schwe­ster, der Hartz-IV-Emp­fän­ger, die allein­er­zie­hen­de Mut­ter? »Wenn Wah­len etwas ändern wür­den, wären sie ver­bo­ten«, lau­tet eine alte Paro­le der Anar­chi­sten. Die par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien haben seit ihrer Ent­ste­hung zumin­dest so vie­le Hür­den ein­ge­baut, dass eine grund­le­gen­de Ände­rung der poli­ti­schen Ver­hält­nis­se kaum noch vor­stell­bar ist. Im Mär­chen vom Schla­raf­fen­land braucht es ohne­hin kei­ne Demo­kra­tie. Dort sind alle satt, zufrie­den und glücklich.