Bis zum 26. September 2021 wurde zur Wahl einer Partei aufgerufen, die strikt gegen Rüstungsexporte einzutreten versprach. Auf ihren Wahlplakaten stand z. B.: »Wir setzen uns für ein Exportverbot von Waffen und Rüstungsgütern an Diktaturen, menschenrechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete ein« (https://twitter.com/Die_Gruenen/status/1440316635126980623).
Die deutsche Außenministerin hat auf dem grünen Bundesparteitag im Oktober 2022 die Rüstungs-Kooperationen zugunsten Saudi-Arabiens damit gerechtfertigt, dass man ja nicht direkt liefere (nur mit europäischen Partnern zusammen) und dass man nur ältere Verträge noch umsetzen müsse; würde man das nicht tun, müsse das 100 Milliarden Euro-Aufrüstungspaket der Bundesregierung vom »Zeitenwende«-Februar 2022 nochmals erweitert werden zuungunsten der Ärmsten der Armen. Herz- und Hirn-erweichend appelliert sie an die kinderfreundlichen Instinkte ihrer Parteitagsdelegierten: »Und ich will nicht, dass wir noch mehr im sozialen Bereich sparen und Lisa dann keine Mittel mehr hat für die Kinder, die sie dringend brauchen.« Mit »Lisa« ist die Bundesfamilienministerin Lisa Paus und ihr Projekt einer Kindergrundsicherung gegen Kinderarmut gemeint. Ja, wer will das schon? Die armen Kinder! Da müssen wir einfach mit den europäischen Partnern Saudi-Arabien mit Waffen beliefern. »Rüstungsexporte für den Sozialstaat«, lautete daher auch eine Zwischenüberschrift in einem kritischen Artikel der taz vom 15.10.2022. »Wir« können schließlich nichts dafür, dass Saudi-Arabien seit mehreren Jahren einen buchstäblichen Vernichtungskrieg gegen den Jemen führt, mit hunderttausenden Toten. Da müssen wir einfach drüber hinwegsehen. Weil »wir« Friedens- und Menschenrechtspartei sind, liefern »wir« ja auch seit Monaten Waffen in die Ukraine. Dass damit echte Menschen umgebracht werden, leugnen »wir« ja ebenfalls täglich und entgegnen, dass »unsere Waffen Menschenleben retten«.
Wir haben uns inzwischen schon an so vieles gewöhnt: Da wird im Mainstream von Tagesschau.de gegen »Hass und Hetze« geschrieben – und dann bezeichnet man die »Feinde“ tatsächlich als »Ratten«, die »in ihre Löcher zurückgeprügelt« werden sollen. Da werden von einem BILD-Redakteur erschossene Russen als »Dünger« bezeichnet. Interessant. An jeder zweiten Ecke sitzt ein Sozialwissenschaftler und verurteilt »Verschwörungstheorien« – und kaum zwei Sätze später wird fast jeder Makel kapitalistischer Herrlichkeit des globalen Westens – egal, ob Krisen, Brexit, Trump, AfD etc. – als das Resultat geheimer russischer oder wahlweise chinesischer Verschwörungen hingestellt. Doch dazu will sich kein Experte für Verschwörungsideologie äußern. Seltsam.
Wenn der Bundespräsident im Krankenhaus oder im ICE ins Rampenlicht tritt, trägt er natürlich Maske; sind dann Kamera und Scheinwerfer scheinbar wieder aus, legt er auch mal den Lappen beiseite; hebt der Regierungsflieger ab nach Amerika, lassen die Flugzeug-Insassen, darunter auch Politiker und Journalisten, die sich seit über zwei Jahren gegen Masken-Verweigerer profilieren, die Masken ab; das ist selbstverständlich »normal«, denn nur das gemeine Volk soll sich gefälligst in Zügen und ÖPNV daran halten; trifft sich der Bundesgesundheitsminister mit dem WHO-Chef, machen sie es genauso: Einmal »mit« fürs Pressebild und für die blöde Bevölkerung, und dann ganz praktisch »oben ohne«, wenn die Kameras scheinbar wieder aus sind. Was Jupiter darf, darf der Ochs noch lange nicht. Insofern war auch der letzte grüne Parteitag diesbezüglich nichts Besonderes: Im großen Saal mit Abstand und vor der Weltpresse brav mit Maske und dann in der Kuschel-Disko am Abend zum frauenfeindlichen Hüpf-Hit »Jump around« natürlich überwiegend »ohne«. Wie gesagt, nichts Besonderes.
Wir sind es auch gewohnt, dass inzwischen nur für Frieden und Menschenrechte eintritt, wer Waffen liefert – und noch mehr Waffen und noch mehr. Wer widerspricht, ist ein Feind des Friedens und der Menschenrechte und der Demokratie – oder gleich ein Putin-Propagandist.
Immer, wenn du glaubst, noch tiefer kann das Niveau eigentlich nicht mehr sinken, kommt von irgendwo eine Außenministerin, ein Gesundheits- oder ein Wirtschaftsminister daher. Wenn deren Aussagen früher von einem wie Donald Trump geäußert worden wären, hätte sich das halbe Feuilleton darüber schlapp gelacht. Man stelle sich vor, Trump hätte real existierende »Insolvenzen« in den USA geleugnet und gesagt, die betreffenden Betriebe würden bloß nichts mehr produzieren. Oder angenommen, der »Populist« hätte gesagt, er werde z. B. China bekämpfen und Taiwan verteidigen, »egal, was meine Wähler sagen«. CNN, ARD und ZDF hätten sich doch nicht eingekriegt vor Häme und Kritik.
Heute lacht keiner (mehr), und die entsprechenden seriösen Medien machen lieber mit ihren sog. Faktenfüchsen Treibjagd auf alle, die nicht sofort Waffenlieferungen in Kriegsgebiete fordern. Das ist – zugegeben – gar nicht so einfach, denn die Damen und Herren in den Redaktionen wissen nur zu gut, dass die große Mehrheit der Bevölkerung keineswegs ihre suizidale Sanktionspolitik und ihre Kriegs-Propaganda mit immer mehr Waffenlieferungen und immer gravierenderen Nuklear- sowie Weltkriegsgefahren teilt. Deshalb müssen auch alle auf der Straße erstmal grundsätzlich als potenzielle Beinahe-Nazis hingestellt werden, damit es dort halbwegs ruhig bleibt und die Büro-Bellizisten weiterwirken können.
Wenn der Laptop-Leutnant Sascha Lobo Friedensbewegte als »Lumpen-Pazifisten« bezeichnet und der seit 1991 beinahe jeden völkerrechtswidrigen US-Angriffskrieg mit hunderttausenden Toten verteidigende Sänger Wolf Biermann die beiden Kritiker von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete, Richard-David Precht und Harald Welzer, als »Secondhand-Kriegsverbrecher« bezeichnet (dass er sich für diesen »Stürmer«-Stil nicht schämt, ist bereits zum Fremd-Schämen); wenn der kürzlich abgelöste ukrainische Botschafter Mitglieder des Bundestages und der Regierung mit Tiernamen und analen Körperöffnungen ohne Konsequenzen beschimpft, zeigt sich, dass Adorno Recht hatte: Viel gefährlicher als offene Neo-Nazis waren und sind seit dem zweiten Weltkrieg selbst ernannte Demokraten, die ihre eigene Faschisierung übersehen.
Die rabiate Umgangsweise wurde jetzt zweieinhalb Jahre lang trainiert. Das Resultat kann sich sehen lassen. Wer solche Medien und solche »Intellektuelle« hat, braucht eigentlich kein Propagandaministerium. Das sollte man jedenfalls meinen. Doch interessanterweise will die Mehrheit der (Welt-)Bevölkerung immer noch nicht zu hundert Prozent die Nato-Narrative nachplappern. Das allein ist bereits phänomenal angesichts der umfassenden Dauer-Medien-Manipulation zugunsten des militärisch-industriellen Komplexes. Somit verwundert es dann doch nicht, dass sich die einschlägigen Ampel-Akteure nicht wirklich auf ihre guten Argumente verlassen. Sie müssen mithilfe von ThinkTanks und anderen Ideologie-Produzenten der Regierung nachhelfen. Das gewährleistet beispielweise Ralph Fücks‘ und Marie-Luise Becks grüne Geldmaschine »Institut Liberale Moderne« mit ihren »Gegneranalysen« über die Nachdenkseiten.de – und lässt den ollen Carl Schmitt und seine Feind-Bilder in alter NS-Tradition wieder auferstehen. Aber warum auch nicht? Wer seit über acht Jahren Rechtsextreme in Kiew leugnet und als »Russen-Propaganda« abtut und zugleich Bandera-Verherrlicher wahlweise ausblendet oder anhimmelt, landet halt irgendwann zumindest ideologisch genau dort. Der Alt-Maoist Fücks konnte diesbezüglich bereits in der Leitung der Stiftung zur Verunglimpfung des Erbes Heinrich Bölls einiges bewerkstelligen. Auch deshalb mehren sich die Stimmen für einen Namenswechsel in »Heinrich-Böller-Stiftung«. So könnten einerseits weiterhin Kriege und Waffen geheiligt sowie Nazis gedeckt werden, und andererseits muss sich der arme pazifistische Schriftsteller nicht ständig im Grabe herumdrehen.
Neulich hat der Nachrichtensender N-TV den Vogel aber wirklich abgeschossen. Am Dienstag, den 25. Oktober 2022 gibt das Nachrichtenportal die folgende Schlagzeile zum Besten: »Russlandbild von Ostdeutschen: ›Russen sind nicht 100 Prozent Teufel‹«. Diese Ostdeutschen sind schon unverbesserlich. Während angeblich alle Westdeutschen (oder vielleicht nur die Mehrheit in der N-TV-Redaktion?) offenbar davon ausgehen, dass alle Russinnen und Russen vom Säugling bis zur Greisin nur als pure Verbrecher zu denken sind, glauben die Ostdeutschen doch tatsächlich, differenzieren zu müssen. Das ist wirklich sonderbar. Und während man also in der Redaktion immer noch fachsimpelt, wieso »diese« unterentwickelten Ostdeutschen nicht einmal das kleine Einmal-Eins des Rassenhasses und Russenhasses beherrschen, meldet im gesamten Mainstream kein einziges Medium Widerspruch an.
Ein paar Wochen vorher kommentiert Pitt von Bebenburg in der sozial-liberalen Frankfurter Rundschau vom 14. September 2022 den Streit in der Partei DIE LINKE und stellt eines der schlimmsten Delikte im linken Spektrum dieser Formation mit großer Empörung vor: Er bezeichnet Teile von ihnen angeekelt als »russland-freundliche Truppe«. Denn merke: Was jetzt zählt und überhaupt nur akzeptabel wäre, ist schließlich nur das Gegenteil von »Russland-Freundlichkeit«: also »Russland-Feindlichkeit«. Damit gewinnst du dann sogar »Friedenspreise« und »Buchhandelspreise« in Deutschland. Den Unsensibleren unter den Zeitgenossen sei nach verschiedenen völkerrechtswidrigen Angriffskriegen und Besatzungsregimen einfach nur zu empfehlen, mit von Bebenburgs Maßstab über die USA, über die Türkei, über Saudi-Arabien oder über Israel so zu sprechen. Würde der FR-Redakteur verschiedene Meinungsspektren dann etwa auch als »amerika-freundliche Truppe« oder »türkei-freundliche Truppe« oder gar »israel-freundliche Truppe« verleumden? Spätestens dann müsste doch der letzte Russenhasser eigentlich verstehen, wie rassistisch die eigene Argumentation zu bezeichnen wäre. Wirklich, wir leben in finsteren Zeiten, sagte der große Augsburger Dichter. Das ist, zivilisatorisch gesprochen, tatsächlich eine »Zeitenwende«.