Wahlen geben Menschen das Gefühl, sie hätten Einfluss. Das Angebot an aussichtsreichen Kräften ist in der langen Tradition demokratischer Wahlen fast durchgängig auf Parteien konzentriert, die die gegebenen Verhältnisse nicht grundsätzlich infrage stellen. Die Wahl des Sozialisten Salvador Allende in Chile 1970 stellt eine der wenigen Ausnahmen dar. Das Bündnis »Unidad Popular« aus Sozialisten und Kommunisten verstaatlichte Schlüsselindustrien wie den Kupferbergbau. Doch tastete die Regierung Allendes die autoritäre Struktur der Armee und des Staatsapparates nicht an. Drei Jahre nach dem Wahlsieg stürzte die Armee mit freundlicher Unterstützung von multinationalen Konzernen wie ITT sowie der CIA die Regierung und Allende wurde ermordet. Die parlamentarische Ebene der Macht hat in allen Umwälzungen der Geschichte höchstens eine begleitende Rolle gespielt. 2021 stehen Umwälzungen an, die schneller und radikaler ausfallen müssen, als es bei Reformen der Demokratie jemals der Fall war.
Ein Faktor ist der Sprengstoff durch die soziale Spaltung, der sich leicht in Aufruhr und Rebellion entladen kann. Beispiele sind die Banlieue-Revolten in Frankreich vor circa eineinhalb Jahrzehnten sowie die Revolten Jugendlicher in britischen Vorstädten 1985 und vor zehn Jahren und die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA, zuletzt 2020. Dem Ärger der Hoffnungslosen steht eine Kleingruppe Superreicher gegenüber, laut Oxfam besitzen acht Personen so viel wie die halbe Menschheit. Ebenfalls skandalös sind die Zahlen für Deutschland, wo das reichste Prozent genauso viel Vermögen besitzt, wie 87 Prozent der Bevölkerung. Die anhaltende Vermehrung des Reichtums der Wenigen verschärft die Kluft.
Ein weiterer Aspekt der Zukunftsgefährdung liegt in den Unwägbarkeiten aufgrund der ökologischen Katastrophen: Überflutungen nach Wetterkatastrophen, Hitzewellen mit unerträglichem Stadtklima und Tornados nehmen global zu. Entweder gestalten Menschen die Lebensbedingungen so, dass sie zukunftsverträglich werden, oder die Bedingungen wälzen die Lebensbedingungen so schnell und massiv um, wie das bisher höchstens in Kriegen erfolgt ist; auch Fridays for Future warnt davor, dass die Erderwärmung den Frieden gefährdet.
Neben die sozialen und ökologischen Bedrohungen treten auch noch die militärischen, etwa dadurch, dass die Nato nukleare Arsenale fast stationierungsreif hat, die die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs näher rücken lassen; kritische Nuklearwissenschaftler warnen, es sei nicht mehr fünf vor zwölf, sondern die Gefahr sei genauer symbolisiert, wenn man von 100 Sekunden vor der finalen Katastrophe spricht.
In der Situation hat das Wahlergebnis Deutschlands die Dominanz von Parteien bestätigt, die an den gesellschaftlichen Verhältnissen nichts Grundlegendes ändern wollen.
Konservative Kräfte in der CDU sprachen in der Wahlnacht von einer Zukunftsregierung, die Erneuerung mit Stabilität verbindet. Die FDP will die Klimaentwicklung durch technische Erfindungen mit deutscher Ingenieurskunst und De-Regulierung der Wirtschaft unter Kontrolle bringen und sonst die Ordnungspolitik der letzten Jahrzehnte fortsetzen. Die SPD – und mit ihr Olaf Scholz – bleibt, allen ökologisch-sozialen Werbesprüchen zum Trotz, bei einer weiteren Steigerung der Hochrüstung im Rahmen der von der Nato angestrebten zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für den Militärsektor.
Und die Grünen? Sie wollen, wie es Robert Habeck in seiner Rede am 21.9.21 in Essen betonte, die von ihnen so genannte ökologische Marktwirtschaft, so als könne man das System der Konkurrenz, des Wachstumsdogmas und des Primats privater Rendite in der Ökonomie mit der Ökologie versöhnen. Die Klimarettung soll durch technische Innovation erfolgen, etwa durch erneuerbare statt fossiler Energien, durch ÖPNV und E-Autos. Zitat: »Wir können mit Klimaschutz wachsen!« Es bedürfe einer »Neujustierung der Märkte«, so dass Wohlstandssicherung und Freiheit im Veränderungsprozess geschützt werden können.
Den Begriff Marktwirtschaft als Beschönigung des Kapitalismus benutzen alle etablierten Parteien von Grün bis zur CSU. Doch die Worthülse vom Markt übertüncht die Tatsache, dass nur circa 147 Weltkonzerne laut einer Studie der ETH Zürich die globale Ökonomie kontrollieren, was dem Charakter eines Marktes mit ungefähr gleichstarken Anbietern Hohn spricht. Da nimmt es nicht Wunder, dass 100 Konzerne laut Corbon Majos Database 2017 für circa 70 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich sind.
Auch in der Militärpolitik sind die für Koalitionen infrage kommenden vier Parteien nahe beieinander und weit entfernt von jeglicher Ökologie. Sie stellen das Militärbündnis Nato nicht infrage, das zu den ökologischen Hauptschädigern der Biosphäre auf der Erde zählt. Ökologie und Militär sind so vereinbar wie Leben und Salzsäure.
Die Kapitänin und Aktivistin Carola Rackete schrieb am letzten Klimaaktionstag, dem 24.9., im neuen deutschland: »Natürlich müssen wir sofort auf grüne Technologien umstellen, doch um unsere Lebensgrundlagen zu schützen, müssen wir ein Wirtschaftssystem schaffen, das vom Wachstum unabhängig ist und stattdessen gerecht verteilt, was wir haben.« Das entspräche »wissenschaftlichen Tatsachen, denn wir können Wachstum und Kapitalismus nicht begrünen«.
Die Schlussfolgerung, die sich aus dem Verlauf und Ergebnis der letzten Bundestagswahl ergibt, ist, dass sich die Bewegungen, die sich für die Zukunft des Lebens einsetzen, enger, konkreter und systematischer vernetzen sollten, um einen größeren Druck von der Zivilgesellschaft auf die etablierte Politik zu organisieren. Ein Beispiel war der Essener Klimastreik, bei dem der Gewerkschaftsfunktionär von ver.di Ruhr-Westfalen, Bernt Kamin-Seggewies, in der Hauptrede der Eröffnungskundgebung ausführte: »Wir dürfen unsere Ressourcen nicht für Rüstung und Kriege verschwenden, sondern müssen sie einsetzen für eine Welt, in der es sich lohnt zu leben. Für eine Welt mit sauberer Umwelt, für eine Welt ohne Hunger und Kriege. (…) Lasst uns die sozialen Bewegungen, die Demokratie-Bewegung, die Friedensbewegung, die Jugend- und die Ökologiebewegung zusammenführen und für eine Zukunft kämpfen, in der es sich lohnt zu leben. Ich will nämlich, dass mein Kind und meine Enkel auch eine lebenswerte Zukunft haben.«
Dieses Zusammenwirken der Bewegungen hat dann Aussicht auf Erfolg, wenn innerhalb der beteiligten Gruppen und zwischen ihnen das Augenmerk auf das Verbindende, also die gemeinsamen Interessen im Vordergrund steht und nicht die Betonung der Unterschiede, der Konfliktpunkte und jeweils eigener Prioritäten. Rückschläge gehören zum Prozess, auch auf dem Weg zum Erfolg. Der lange Atem, der in der Friedensbewegung nicht erst seit den ersten Ostermärschen vor über 60 Jahren zu beobachten ist, gehört ebenfalls zu den Bedingungen, die einer Bewegung die notwendige Stärke verleihen. Die Zukunftsgefährdungen drängen die Akteure zur Eile, zur Konsequenz und Entschiedenheit sowie zur Solidarität.