Halbzeit in Büchel: Dem starken Auftakt der diesjährigen Sommeraktionen vor dem Atomwaffenstützpunkt in der Eifel (siehe Ossietzky 11/2019) folgte am 7. Juli ein begeisterndes »Aktionsfestival«. ICAN, die deutsche Sektion der internationalen Kampagne zur Ächtung der Atomwaffen, hatte gemeinsam mit christlichen Friedensgruppen erfolgreich für diesen Tag mobilisiert.
Bus um Bus rollt am Vormittag dieses Sonntags vor die Militärbasis. 1000 Menschen, 400 mehr als noch im vergangenen Jahr, versammeln sich auf der Wiese neben dem Eingangstor des Fliegerhorstes, wo tagtäglich Bundeswehrpiloten völkerrechtswidrig den Zielabwurf der 20 US-amerikanischen Atombomben üben, die in Büchel lagern und die demnächst »modernisiert« werden sollen.
Auf der großen Bühne wechseln Musik und kurze Redebeiträge. Nicole Mercier, die mit ihrer glockenhellen Stimme an Joan Baez erinnert, animiert Jung und Alt zum Mitsingen von Friedensliedern, die sie am Vortag mit Dutzenden von Teilnehmenden des benachbarten Aktionscamps eingeübt hat. So breitet sich schnell ein Gemeinschaftsgefühl und eine gelöste Stimmung aus: »We shall overcome …«
Zu der guten Stimmung trägt nach einem morgendlichen Regenschauer bald auch die Sonne freundlich strahlend bei. Die japanische Schauspielerin Sachiko Hara erinnert daran, dass es ebenfalls ein sommerlich-sonniger Tag in Hiroshima war, als dort 1945 »Little Boy« das Leben Hunderttausender zerstörte. Die Japanerin hat mit Teilnehmenden des Aktionscamps eine berührende Performance einstudiert. Die macht das Grauen des nuklearen Feuersturms beklemmend anschaulich. Sie gibt den Verletzten und Getöteten, ihren Gesichtern und ihren Geschichten wieder Gestalt und Stimme. Das geht unter die Haut und lässt nicht mehr fragen, warum die Ächtung aller Atomwaffen zwingend geboten ist.
Für dieses Ziel arbeiten seit Jahren zwölf Frauen und Männer aus den USA. Sie sind aus Kalifornien, aus Georgia, Tennessee, Montana und Iowa angereist, um den deutschen Widerstand gegen die US-Atomwaffen zu ermutigen, am liebsten würden sie die Bomben in Büchel »einpacken und wieder mit nach Hause nehmen«. Die US-Amerikaner sind in erster Reihe mit dabei, als Friedensaktivisten am nächsten Tag die Eingangstore zur Militärbasis für Stunden gewaltfrei blockieren und als in den folgenden Tagen AtomgegnerInnen den Doppelzaun des Fliegerhorstes bei insgesamt fünf Go-in-Aktionen durchschneiden.
Auf zwei Minuten vor zwölf Uhr stehen die Zeiger eines großen altmodischen Weckers, den Roland Blach, Koordinator der Kampagne »Büchel ist überall! Atomwaffenfrei jetzt!«, auf der Bühne in die Höhe hält. Diese Zeit zeigt aktuell auch die Doomsday Clock an, mit der Wissenschaftler des Bulletin of the Atomic Scientists vor der akut gestiegenen Gefahr des Weltuntergangs warnen. Die Gefahr sei heute so groß wie zuletzt während des Koreakriegesanfang der 1950er Jahre.
Blach erinnert daran, dass die Friedensbewegung seit 1996 regelmäßig gegen die in Büchel gebunkerten Atombomben und für eine atomwaffenfreie Welt demonstriert: »Damals waren wir 70.« Nur ein einziger Polizist habe die Demonstranten begleitet. In diesem Jahr wimmelt es dagegen rund um den Fliegerhorst von Polizei.
Blach macht darauf aufmerksam, dass dieser 7. Juli »ein in jeder Hinsicht besonderer Tag« ist. Denn es wird der zweite Geburtstag eines völkerrechtlichen Vertrages gefeiert, der »möglicherweise zu einer Zäsur der Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg« führt, wie Blach hofft: Am 7. Juli 2017 wurde der Vertrag zur Ächtung aller Atomwaffen von den Vereinten Nationen in New York beschlossen.
»Was für eine »Revolution!«, freut sich Inga Blum, eine Aktivistin der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), über den Erfolg. »Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinten Nationen wurde demokratisch über Atomwaffen abgestimmt, ohne dass die Atomwaffenstaaten ein Veto einlegen konnten.« Der Vertrag verbietet den Einsatz und die Drohung mit Atomwaffen, deren Besitz, Lagerung, Erwerb, Entwicklung, Erprobung und Herstellung sowie einen Transfer und die Stationierung von Atomwaffen. 60 Staaten haben den Vertrag unterzeichnet. Er tritt in Kraft, sobald 50 Staaten ihn ratifiziert haben.15 haben das bisher getan. Die deutsche Bundesregierung gehört nicht zu den Unterzeichnern des Vertrages.
»Da ist ganz klar Widerspruch angesagt«, predigt Margot Käßmann in dem der Mittagspause folgenden ökumenischen Gottesdienst. Sie wendet sich gegen Politiker wie US-Präsident Donald Trump, der gemeint hat: »Wenn wir Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?« In ihren Aufruf zum Widerspruch schließt Käßmann ausdrücklich auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ein, der Deutschland drängt, an der »nuklearen Teilhabe«, wie sie in Büchel praktiziert wird, festzuhalten.
Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland predigt zu Lukas 1,79 (»… richte unsere Füße auf den Weg des Friedens«) und fragt: »Wenn wir die Geschichte Hiroshimas hören, wie kann da jemals wieder jemand Atomwaffen einsetzen wollen?« Und, so sagt die frühere Landesbischöfin weiter: »Gewalt und Krieg können nicht mit Gottes Willen legitimiert werden.« Das hätten die Kirchen inzwischen endlich begriffen. »Religion darf sich nicht missbrauchen lassen, um Öl in das Feuer ethnischer, religiöser, nationaler oder wirtschaftlicher Konflikte zu gießen«, sagt sie: »Es gibt keinen ›gerechten‹ Krieg, nur gerechten Frieden«. Und es sei »Aufgabe der Kirchen« zum Frieden zu rufen. »Wir dürfen uns »nicht in Verantwortungslosigkeit hineinschläfern lassen«, mahnt Kaßmann in ihrer mehrfach von Applaus unterbrochenen Predigt. Eigentlich sei heute »ganz klar, dass zivile Mittel immer Vorrang haben müssen vor militärischen«, meint sie. Wer aber sehe, »wie pazifistische Positionen in Frage gestellt sind, ja lächerlich gemacht werden, wie militärische Einsätze mit humanitären Zielen begründet werden, dass Deutschland zu einer Rüstungsexportnation aufgestiegen ist, die auch in Krisengebiete liefert, dem wird bewusst: Es gilt, wach und wachsam und widerständig zu bleiben.«
Und »wenn heute von mehr internationaler Verantwortung die Rede ist«, so Käßmann weiter, könne es doch »nicht um mehr militärische Verantwortung Deutschlands gehen, sondern allein um mehr Friedensverantwortung.«
Um diese Verantwortung politisch konkret werden zu lassen, hat eine Arbeitsgruppe der Evangelischen Landeskirche in Baden ein bis ins Jahr 2040 reichendes Szenario nicht-militärischer Sicherheitspolitik entwickelt, das Ralf Becker in Büchel erstmals vorstellt und damit auf großes Interesse stößt.
Den Schlusspunkt des »Aktionsfestivals« setzt am 7. Juli ein Ballett der besonderen Art. Zwanzig aufblasbare Nachbildungen der B-61-12-Atombomben, der modernisierten Version der derzeit in Büchel stationierten B-12-4-Atombomben, »tanzen« in Originalgröße bedrohlich durch die Reihen der Versammelten, umkreisen sie und formieren sich vor der Bühne wie zur Attacke. Schließlich wird den orange-silbrig glänzenden Bomben die Luft abgelassen. In Schwaden von Kunstnebel fallen sie in sich zusammen, um dann in einem großen Müllcontainer vor der Bühne unter Beifall verschrottet zu werden. Und wieder singen alle mit Nicole Mercier: »We shall live in peace some day …«