Ach, wie soll ich nur anfangen, ohne vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen? Es gäbe so viel zu erzählen, in Nebenwege hinein, aus Verästelungen heraus, bis wir endlich in den Herbst 2020 gelangten und nach Innichen kämen in Südtirol, womit wir dann beim eigentlichen Thema wären.
Ich probiere es mal so, in Etappen:
Etappe 1: 1810 war es, zu Mantua, einer Stadt in der norditalienischen Lombardei, in deren Nähe der römische Dichter Vergil geboren wurde, der Ort, wohin Shakespeare seinen Romeo in die Verbannung schickte und in dem Verdi seinen »Rigoletto« spielen ließ. Diese kulturellen Implikationen wurden mir allerdings erst nach und nach bekannt. Von Jugend an, vielleicht gar von Kindheit an, wusste ich dagegen von einem anderen geschichtlichen Ereignis aus dem erwähnten Jahr 1810. Das Hausbuch mit deutscher Dichtung hatte es mir nahegebracht:
»Zu Mantua in Banden / der treue Hofer war. / In Mantua zum Tode / führt ihn der Feinde Schar. / Es blutete der Brüder Herz, / ganz Deutschland, ach in Schmach und Schmerz, / mit ihm das Land Tirol.«
Der im Vogtland geborene Dichter Julius Mosen (1803 – 1867) hatte 1832 mit dieser Ballade dem von den Truppen Napoleon Bonapartes gefangengenommenen und 1810 in einer Zitadelle zu Mantua auf dessen Anweisung erschossenen Führer des im Jahr zuvor begonnenen Tiroler Aufstandes, Andreas Hofer, ein literarisches Denkmal gesetzt. Und sich gleich mit, denn viel mehr ist heute von ihm nicht mehr bekannt. Das Andreas-Hofer-Lied – historisches Stichwort: Koalitionskriege – ist seit 1948 offizielle Hymne des österreichischen Landes Tirol.
Nach seiner Melodie werden übrigens noch andere Lieder gesungen, Ossietzky-Leserinnen und -Leser werden ein Lied besonders kennen:
»Dem Morgenrot entgegen, / Ihr Kampfgenossen all! / Bald siegt ihr allerwegen, / Bald weicht der Feinde Wall! / Mit Macht heran und haltet Schritt! / Arbeiterjugend? Will sie mit? / Wir sind die junge Garde / Des Proletariats!«
Der Südtiroler Landtag spielte zwar ebenfalls mit dem Gedanken, das Hofer-Lied zur Landeshymne zu erheben, hielt es aber in Anbetracht des italienischen Bevölkerungsanteils bei der Abstimmung im Jahr 2004 doch lieber mit dem seligen Karl Valentin: »Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut!« Gesungen wird das Lied dennoch auch heute noch bei offiziellen Anlässen, und dann mit großer Inbrunst. Aber genug der Um- und Nebenwege.
Etappe 2: Franz von Defregger (1835 – 1921) war ein Osttiroler Bauernsohn und wurde als österreichisch-bayerischer Genre- und Historienmaler bekannt. 1874 malte er in Öl auf Leinwand, 53,4 cm x 70,2 cm hoch und breit, sein Historienbild »Das letzte Aufgebot«, heute in der Alten Pinakothek in München zu besichtigen. Sein Thema: die Kämpfe der Tirolerinnen und Tiroler gegen Napoleon im Jahr 1809. Schon der Titel bezeugt: Der Kampf ist in seine Endphase getreten. Die Alten aus den Bergdörfern und von den Almen, knorrige, bärtige Gestalten mit Morgensternen, Sensen, Heugabeln und Armbrüsten machen sich auf in den Kampf. Bange Blicke von Frauen und Kindern begleiten sie.
Ich gestatte mir noch einmal eine kleine Abschweifung: Unser Maler Defregger ist der Großvater von Matthias Defregger (1915 – 1995), Weihbischof von München und Freising. Eben dieser Defregger ließ im Zweiten Weltkrieg als Kommandeur der Nachrichtenabteilung einer Jägerdivision auf Befehl des Divisionskommandeurs zur Vergeltung für einen Partisanenangriff am Gran Sasso in den Abruzzen 17 Einwohner zwischen 17 und 69 Jahren erschießen und das Dorf niederbrennen. Zur Belohnung wurde er zum Major befördert. Nach Kriegsende verschwieg Defregger die Tat. Ende der 60er Jahre kam es zwar zu Gerichtsverfahren, die jedoch wegen Verjährung eingestellt wurden. Nachdem Der Spiegel 1969 darüber berichtet hatte, kam es erneut zu einem Verfahren, das 1970 endgültig eingestellt wurde. Defregger habe den »verbrecherischen Charakter« des Befehls und seines Vorgehens nicht erkennen können. Nach seinem Tod wurde der Weihbischof auf eigenen Wunsch in Osttirol unweit von Lienz beigesetzt, nur 40 Kilometer entfernt von dem jenseits der Staatsgrenze gelegenen Innichen. Womit wir endlich im Pustertal angekommen sind, dem Ziel unserer historischen Reise, und somit in der Gegenwart des Corona-Herbstes 2020.
Etappe 3: Hotels mit dem Namen »Weißes Rössl« gibt es viele. Unser Hotel war früher mal ein Bauernhaus und liegt im Zentrum von Innichen im Pustertal. Da Südtirol zweisprachig ist, nennt es sich auch »Cavallino Bianco«. Das Hotel konfrontiert die Passanten mit einer Breitseite. An der Hausfront prangt eine riesige Reproduktion von Defreggers Bild »Das letzte Aufgebot« mit all den Alten aus den Dörfern und von den Almen, mit Morgensternen, Heugabeln, Sensen und so weiter – siehe oben. Quer über das Banner zieht sich in leuchtendem Gelb die Botschaft:
PFIATE »CORONA SCHWINDEL«
LEITLAN – ES ISCH ZEIT!!
WEHR MO INS!! FIR INSRE KINDER!!
Tschüss »Corona Schwindel«. Leute, es ist Zeit. Wehren wir uns. Für unsere Kinder.
Ich sitze nebenan in der nach Sicherheitsregeln aufgestellten Außengastronomie des traditionsreichen 4-Sterne-Hotels »Grauer Bär«, auf Italienisch »Orso Grigio«, trinke Tee und frage mich mit Brecht, was für eine Kälte über die Leute gekommen sein muss, welche Existenzangst, wer da so auf sie einschlug, was über sie hereinbrach, dass sie jetzt so durch und durch erkaltet sind. Dass sie solch ein mangelndes Gespür dafür haben, dass Gäste nur kommen, wenn sie großes Vertrauen in die Verlässlichkeit der Gastgeber haben.
Aber es gibt auch die gegenteilige Ansicht, denn schon entdecke ich die ersten Unterstützer in der Online-Rubrik »Rezensionen« des Hotels. Einer, der leider auch »Klaus« heißt, postet: »Meine 5 Sterne bekommt ihr für euren Banner auf der Hausfassade zum aktuellen Top Thema, das fast jedem schon zum Halse raushängt! Danke für euren Mut!« (Ein rotes Herzchen folgt.) Und »Adelinde« sekundiert: »Ich war erstaunt, dass eine Hoteliersfamilie den Mut hat, zudem einen gesunden Hausverstand sich getraut hat … etwas für den Corona Schwindel zu unternehmen. Hut ab … ich danke euch« (jeweils Originalschreibweise).
Teetrinkend zähle ich in der Fußgängerzone die Vorbeiflanierenden ohne Gesichtsmaske. In kurzer Zeit habe ich die Zahl 50 erreicht. Obwohl aus allen Richtungen am Anfang der Fußgängerzone darauf hingewiesen wird, dass das Tragen von Mund-/Nasenschutz Pflicht ist. Ich frage mich, ob sich die Hotelbesitzer und die Maskenverweigerer oder Maskenignorierer nicht mehr an Bergamo erinnern, an den nordöstlich von Mailand gelegenen Ort, kaum vier Autostunden entfernt, wo seit Beginn der Pandemie fast jeder einen Verwandten oder einen Freund verloren hat, wo schließlich vor noch nicht mal einem halben Jahr die Särge in der Kirche gestapelt werden mussten, weil das örtliche Krematorium überfüllt war, bis sie in schier endloser Kolonne von Militär-Lastwagen abtransportiert wurden. Apokalyptische Bilder von der Vergänglichkeit des Menschen, die eigentlich jedem zeigen müssten, dass sich das Virus und sein »Schnitter, der heißt Tod« (aus »Des Knaben Wunderhorn«) weder von Bannern noch von Aufrufen zur Unbotmäßigkeit noch von Sensenmännern aus den Bergen aufhalten lässt.
Die Angst vor einem neuerlichen Shutdown oder vor einer internationalen Einstufung als Risikogebiet mit allen verheerenden Folgen für die Menschen und den Wirtschaftszweig Tourismus, jetzt auch in Hinblick auf die bevorstehende Wintersaison, sitzt den Behörden Südtirols und dem Sanitätsbetrieb im Nacken. Penibel werden alle 24 Stunden die Statistiken über Abstriche, Neuinfektionen, Gesamtzahl der Abstriche und Infizierten und die Zahlen der Personen in Quarantäne, der positiv Getesteten, Geheilten und Verstorbenen veröffentlicht. Transparenz und rasches Handeln sind oberste Gebote.
Während ich dies schreibe, melden die Südtirol News, dass vier Mitglieder des Gemeinderats von Sexten und der Bürgermeister positiv getestet worden sind. Wenige Tage später kommt die Nachricht, dass wegen der Häufung von Corona-Infektionen alle Einheimischen, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Hotelbetrieben, überhaupt alle im Ort Beschäftigten sowie alle Gäste getestet werden, um eine lückenlose Nachverfolgung und effiziente Isolierung neuer Fälle zu ermöglichen. Sexten ist nur sechs Kilometer von Innichen entfernt.
Zwei Wochen später, am 22. Oktober, stuft das Robert-Koch-Institut Südtirol als Risikogebiet ein.
»Der Zauber Südtirols, im Herbst entfaltet er sich besonders schön«, lese ich in einer Zeitschrift über Reisen in die Dolomiten, das UNESCO-Weltkulturerbe. Das stimmt. Aber um so manches Ziel mache ich einen Bogen. Mag da das Rössl auch noch so munter springen.