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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von Schlemihl und Rosebud

»Die Schat­ten wan­deln nicht nur in den Hai­nen, /​ davor die Aspho­de­len­wie­se liegt, /​ sie wan­deln unter uns und schon in dei­nen /​ Umar­mun­gen, wenn noch der Traum dich wiegt.«

Gott­fried Benn schrieb die­se Zei­len 1954. Es ist der erste Vers von »Tri­stesse«.

Wir wer­den die Schat­ten nicht los. Weder jene, die sich als Nacht­mah­re, als Schreck­ge­spen­ster in unse­ren Träu­men ein­ni­sten, noch – was wir wohl auch nicht möch­ten – den eige­nen, der lie­be­voll uns ein Leben lang beglei­tet. Zu uns kommt kein grau­er Mann wie zu Cha­mis­sos Peter Schle­mihl mit der Ver­lockung, unse­ren Schat­ten gegen einen sich nie lee­ren­den Glücks­säckel vol­ler Geld zu tau­schen. Auch kön­nen wir getrost die Hoff­nung ver­ges­sen, falls wir sie über­haupt hegen soll­ten, dass sich unser Schat­ten von uns los­löst wie der von Peter Pan. Und des Western­hel­den Lucky Lukes Schieß­kün­ste wer­den wir nie errei­chen. Nur er ist und bleibt, und das seit inzwi­schen über 75 Jah­ren, l›homme qui tire plus vite que son ombre – der Mann, der schnel­ler zieht als sein Schatten.

Aber schon die­se weni­gen Zei­len zei­gen, dass das Leben und die Lite­ra­tur vol­ler Schat­ten sind. Der in Leip­zig leben­de Autor, Kri­ti­ker und Über­set­zer Joa­chim Kal­ka hat ihnen nach­ge­spürt und als Essenz aus »viel­fäl­ti­gen Lek­tü­ren« im Okto­ber eine Lite­ra­tur- und Kul­tur­ge­schich­te des Schat­tens vor­ge­legt – und uns damit eine Lese­freu­de in die­sen nebel­trü­ben Tagen berei­tet. Aller­dings, der Hin­weis sei erlaubt, Lese­rin­nen und Leser soll­ten schon ein Fai­ble für sol­che lite­ra­ri­schen und kul­tur­ge­schicht­li­chen »Mon­ta­ge-Essays« (Kal­ka) haben.

Ver­däch­ti­ge wer­den »beschat­tet«. Wer jeman­des Nähe auf Schritt und Tritt sucht, folgt ihm oder ihr »wie ein Schat­ten«. Doch spen­det der Schat­ten auch Lab­sal, wird gesucht, zum Bei­spiel im hei­ßen Som­mer unter Bäu­men oder Schir­men. Kal­ka wur­de auch bei Klaus Groth fün­dig, dem bekann­te­sten nie­der­deut­schen Lyri­ker, des­sen Gedicht »Mat­ten Has’« er zitiert. Die Ver­se han­deln von einem klei­nen, ver­trau­ens­se­li­gen Hasen, der vom hin­ter­li­sti­gen Fuchs zum Tan­ze auf­ge­for­dert wird, mit erwart­ba­rem Ende: »Lütt Mat­ten gev Pot, /​ De Voss beet em tot. /​ Un sett sik in Schat­ten, /​ Verspis’ de lüt­ten Mat­ten.« Ja, wozu der Schat­ten so alles gut ist…

Manch­mal aber ist »der Schat­ten die als unbe­quem emp­fun­de­ne Nega­ti­on des Son­nen­lichts«. Eine berühm­te Epi­so­de dazu ist die Begeg­nung des Erobe­rers Alex­an­der der Gro­ße mit dem Phi­lo­so­phen Dio­ge­nes in Korinth, wie sie der Geschichts­schrei­ber Plut­arch über­lie­fert hat. Kal­ka zitiert sie – ich habe sie gera­de vor Ort noch ein­mal aus dem Mun­de der ein­hei­mi­schen Rei­se­füh­re­rin gehört: Als die grie­chi­schen Stäm­me sich auf der Land­enge von Korinth ver­sam­melt und beschlos­sen hat­ten, Alex­an­der bei sei­nem Feld­zug gegen die Per­ser zu unter­stüt­zen, wur­de die­ser von vie­len Staats­män­nern und Phi­lo­so­phen beglück­wünscht. Nicht jedoch von Dio­ge­nes. Alex­an­der mach­te sich dar­auf­hin auf den Weg zu die­sem in den korin­thi­schen Vor­ort Cran­ei­on und fand den Gesuch­ten, der sich in aller Ruhe sonn­te. Nach der Begrü­ßung frag­te der Feld­herr den berühm­ten Mann, ob er ihm eine Bit­te erfül­len kön­ne, und die­ser erwi­der­te: »Eine klei­ne (…), tritt mir aus der Sonne.«

Hier müs­sen wir die Schat­ten-Welt, das Dun­kel, ver­las­sen, denn das Buch besteht noch aus einem zwei­ten, dop­pelt so lan­gen Teil, aus der Lite­ra­tur- und Kul­tur­ge­schich­te der hel­len Gegen­welt des Schnees. Dem Schwar­zen folgt das Weiße.

Die Metho­de bleibt natür­lich die glei­che. Schatz­grä­ber Kal­ka durch­for­stet die Lite­ra­tur nach ent­spre­chen­den Fund­stel­len, sei es bei Geor­ges Sime­non (»Es war ein fei­ner wei­ßer Staub, der vom Him­mel rie­sel­te, aber die­ser erin­ner­te Mai­gret dar­an, dass er als klei­nes Kind die Zun­ge her­aus­ge­streckt hat­te, um ein paar von den win­zi­gen Flocken auf­zu­lecken.«), sei es bei Tania Bli­xen (»Um die gas­lich­ter­hell­ten Later­nen war (der Schnee) plötz­lich auch zu sehen, ein Wir­bel klei­ner, durch­schei­nend hel­ler Flü­gel, die auf­wärts und abwärts zu tan­zen schie­nen…«), sei es bei Patri­cia Highsmith (»Am näch­sten Mor­gen lagen drei Zoll Schnee auf dem Boden, locker und weich wie eine her­ab­ge­sun­ke­ne Wol­ke. David lieb­te den Schnee, eher die leich­ten Schnee­fäl­le als die schwe­ren. Sie ver­wan­del­ten die Sze­ne­rie, die er kann­te, sie ver­bar­gen den Schmutz, ver­wisch­ten die schar­fen Kan­ten, die an alte Gedan­ken und Ent­täu­schun­gen erin­ner­ten und an die Öde täg­li­cher Rou­ti­ne. Der Schnee frisch­te sei­ne Hoff­nun­gen auf«).

Das Highsmit­hs Roman »Der süße Wahn« ent­nom­me­ne Zitat führt uns direkt hin­ein in die Zau­ber­welt des Schnees. Obwohl der Schnee ledig­lich gefro­re­nes Was­ser ist, ist er mit »Erin­ne­rungs­ma­gie« (Kal­ka) auf­ge­la­den, die bis in die Kind­heit mit ihren Schnee­män­nern und Schnee­ball­schlach­ten zurück­reicht, mit der der Schnee »unauf­lös­lich ver­bun­den ist«. Kal­ka: »Wenn wir die Stra­ße ent­lang­ge­hen, kön­nen wir manch­mal zuse­hen, wie der gefal­le­ne Schnee wie­der zu Was­ser wird, trotz­dem bleibt die Iden­ti­tät die­ser bei­den Sub­stan­zen (…) etwas Abstrak­tes. Die Beson­der­heit des Schnees – das Pul­veri­ge oder Kleb­ri­ge, das Wei­ße, das vom Him­mel Fal­len­de – will nicht in Was­ser aufgehen.«

Kal­ka, »des­sen Wis­sen die Welt­li­te­ra­tur eben­so umfasst wie alle strah­len­den und dunk­len Berei­che künst­le­ri­schen Aus­drucks­wil­lens, die absei­ti­ge­ren zumal«, wie ein Rezen­sent ein­mal schrieb, zeigt in sei­nen Minia­tu­ren zu den ein­zel­nen Fund­stücken, dass der Schnee »wie durch die Lite­ra­tur, Male­rei, Musik auch (und viel­leicht mit beson­de­rer Insi­stenz) durch den Film« weht. Sein Para­de­bei­spiel ist Citi­zen Kane von Orson Wel­les: ein Film, der nach einem lan­gen Vor­spann »im Schnee einer Kind­heit beginnt« und schließ­lich mit Kanes letz­tem Wort auf dem Toten­bett endet: Rose­bud.

Wer als Zuschaue­rin oder Zuschau­er nicht auf­passt, kann die Lösung des Ster­be-Rät­sels ver­säu­men, denn im Film selbst wird sie von den han­deln­den Per­so­nen nicht gefun­den. Es gibt nur einen Moment, in dem sie im wahr­sten Sin­ne des Wor­tes »auf­glüht«.

Viel­leicht ein Anlass, den bewun­derns­wer­ten Film noch ein­mal anzu­schau­en? Oder die­ses Buch zu lesen, denn Kal­ka löst das Rät­sel auf sei­ne Art: Er schil­dert, wie die Pea­nuts Linus und Lucy vor dem Fern­se­her sit­zen, in dem Citi­zen Kane läuft, den Linus zum ersten Mal sieht. Und wie die gar­sti­ge Schwe­ster im Hin­aus­ge­hen ihm die Lösung des Rät­sels Rose­bud zuruft, womit sie die Span­nung zer­stört: »Lan­ger fru­strier­ter Auf­schrei des klei­nen Bruders.«

So fies will ich jedoch nicht sein. Ich zie­he statt­des­sen eine uralte Schall­plat­te aus dem Regal mit der von Irving Ber­lin kom­po­nier­ten Musik und träu­me mit Bing Crosby von Schnee und »a white Christmas«.

 Joa­chim Kal­ka: Schat­ten und Schnee, Beren­berg Ver­lag, Ber­lin 2022, 144 S., 24 €.