»Die Schatten wandeln nicht nur in den Hainen, / davor die Asphodelenwiese liegt, / sie wandeln unter uns und schon in deinen / Umarmungen, wenn noch der Traum dich wiegt.«
Gottfried Benn schrieb diese Zeilen 1954. Es ist der erste Vers von »Tristesse«.
Wir werden die Schatten nicht los. Weder jene, die sich als Nachtmahre, als Schreckgespenster in unseren Träumen einnisten, noch – was wir wohl auch nicht möchten – den eigenen, der liebevoll uns ein Leben lang begleitet. Zu uns kommt kein grauer Mann wie zu Chamissos Peter Schlemihl mit der Verlockung, unseren Schatten gegen einen sich nie leerenden Glückssäckel voller Geld zu tauschen. Auch können wir getrost die Hoffnung vergessen, falls wir sie überhaupt hegen sollten, dass sich unser Schatten von uns loslöst wie der von Peter Pan. Und des Westernhelden Lucky Lukes Schießkünste werden wir nie erreichen. Nur er ist und bleibt, und das seit inzwischen über 75 Jahren, l›homme qui tire plus vite que son ombre – der Mann, der schneller zieht als sein Schatten.
Aber schon diese wenigen Zeilen zeigen, dass das Leben und die Literatur voller Schatten sind. Der in Leipzig lebende Autor, Kritiker und Übersetzer Joachim Kalka hat ihnen nachgespürt und als Essenz aus »vielfältigen Lektüren« im Oktober eine Literatur- und Kulturgeschichte des Schattens vorgelegt – und uns damit eine Lesefreude in diesen nebeltrüben Tagen bereitet. Allerdings, der Hinweis sei erlaubt, Leserinnen und Leser sollten schon ein Faible für solche literarischen und kulturgeschichtlichen »Montage-Essays« (Kalka) haben.
Verdächtige werden »beschattet«. Wer jemandes Nähe auf Schritt und Tritt sucht, folgt ihm oder ihr »wie ein Schatten«. Doch spendet der Schatten auch Labsal, wird gesucht, zum Beispiel im heißen Sommer unter Bäumen oder Schirmen. Kalka wurde auch bei Klaus Groth fündig, dem bekanntesten niederdeutschen Lyriker, dessen Gedicht »Matten Has’« er zitiert. Die Verse handeln von einem kleinen, vertrauensseligen Hasen, der vom hinterlistigen Fuchs zum Tanze aufgefordert wird, mit erwartbarem Ende: »Lütt Matten gev Pot, / De Voss beet em tot. / Un sett sik in Schatten, / Verspis’ de lütten Matten.« Ja, wozu der Schatten so alles gut ist…
Manchmal aber ist »der Schatten die als unbequem empfundene Negation des Sonnenlichts«. Eine berühmte Episode dazu ist die Begegnung des Eroberers Alexander der Große mit dem Philosophen Diogenes in Korinth, wie sie der Geschichtsschreiber Plutarch überliefert hat. Kalka zitiert sie – ich habe sie gerade vor Ort noch einmal aus dem Munde der einheimischen Reiseführerin gehört: Als die griechischen Stämme sich auf der Landenge von Korinth versammelt und beschlossen hatten, Alexander bei seinem Feldzug gegen die Perser zu unterstützen, wurde dieser von vielen Staatsmännern und Philosophen beglückwünscht. Nicht jedoch von Diogenes. Alexander machte sich daraufhin auf den Weg zu diesem in den korinthischen Vorort Craneion und fand den Gesuchten, der sich in aller Ruhe sonnte. Nach der Begrüßung fragte der Feldherr den berühmten Mann, ob er ihm eine Bitte erfüllen könne, und dieser erwiderte: »Eine kleine (…), tritt mir aus der Sonne.«
Hier müssen wir die Schatten-Welt, das Dunkel, verlassen, denn das Buch besteht noch aus einem zweiten, doppelt so langen Teil, aus der Literatur- und Kulturgeschichte der hellen Gegenwelt des Schnees. Dem Schwarzen folgt das Weiße.
Die Methode bleibt natürlich die gleiche. Schatzgräber Kalka durchforstet die Literatur nach entsprechenden Fundstellen, sei es bei Georges Simenon (»Es war ein feiner weißer Staub, der vom Himmel rieselte, aber dieser erinnerte Maigret daran, dass er als kleines Kind die Zunge herausgestreckt hatte, um ein paar von den winzigen Flocken aufzulecken.«), sei es bei Tania Blixen (»Um die gaslichterhellten Laternen war (der Schnee) plötzlich auch zu sehen, ein Wirbel kleiner, durchscheinend heller Flügel, die aufwärts und abwärts zu tanzen schienen…«), sei es bei Patricia Highsmith (»Am nächsten Morgen lagen drei Zoll Schnee auf dem Boden, locker und weich wie eine herabgesunkene Wolke. David liebte den Schnee, eher die leichten Schneefälle als die schweren. Sie verwandelten die Szenerie, die er kannte, sie verbargen den Schmutz, verwischten die scharfen Kanten, die an alte Gedanken und Enttäuschungen erinnerten und an die Öde täglicher Routine. Der Schnee frischte seine Hoffnungen auf«).
Das Highsmiths Roman »Der süße Wahn« entnommene Zitat führt uns direkt hinein in die Zauberwelt des Schnees. Obwohl der Schnee lediglich gefrorenes Wasser ist, ist er mit »Erinnerungsmagie« (Kalka) aufgeladen, die bis in die Kindheit mit ihren Schneemännern und Schneeballschlachten zurückreicht, mit der der Schnee »unauflöslich verbunden ist«. Kalka: »Wenn wir die Straße entlanggehen, können wir manchmal zusehen, wie der gefallene Schnee wieder zu Wasser wird, trotzdem bleibt die Identität dieser beiden Substanzen (…) etwas Abstraktes. Die Besonderheit des Schnees – das Pulverige oder Klebrige, das Weiße, das vom Himmel Fallende – will nicht in Wasser aufgehen.«
Kalka, »dessen Wissen die Weltliteratur ebenso umfasst wie alle strahlenden und dunklen Bereiche künstlerischen Ausdruckswillens, die abseitigeren zumal«, wie ein Rezensent einmal schrieb, zeigt in seinen Miniaturen zu den einzelnen Fundstücken, dass der Schnee »wie durch die Literatur, Malerei, Musik auch (und vielleicht mit besonderer Insistenz) durch den Film« weht. Sein Paradebeispiel ist Citizen Kane von Orson Welles: ein Film, der nach einem langen Vorspann »im Schnee einer Kindheit beginnt« und schließlich mit Kanes letztem Wort auf dem Totenbett endet: Rosebud.
Wer als Zuschauerin oder Zuschauer nicht aufpasst, kann die Lösung des Sterbe-Rätsels versäumen, denn im Film selbst wird sie von den handelnden Personen nicht gefunden. Es gibt nur einen Moment, in dem sie im wahrsten Sinne des Wortes »aufglüht«.
Vielleicht ein Anlass, den bewundernswerten Film noch einmal anzuschauen? Oder dieses Buch zu lesen, denn Kalka löst das Rätsel auf seine Art: Er schildert, wie die Peanuts Linus und Lucy vor dem Fernseher sitzen, in dem Citizen Kane läuft, den Linus zum ersten Mal sieht. Und wie die garstige Schwester im Hinausgehen ihm die Lösung des Rätsels Rosebud zuruft, womit sie die Spannung zerstört: »Langer frustrierter Aufschrei des kleinen Bruders.«
So fies will ich jedoch nicht sein. Ich ziehe stattdessen eine uralte Schallplatte aus dem Regal mit der von Irving Berlin komponierten Musik und träume mit Bing Crosby von Schnee und »a white Christmas«.
Joachim Kalka: Schatten und Schnee, Berenberg Verlag, Berlin 2022, 144 S., 24 €.