Die Ätzradierung auf Kupfer von Günter Grass auf dem Cover des von der Günter und Ute Grass Stiftung herausgegebenen Periodikums Freipass zeigt zwei Kampffische und führt damit direkt zu einem der Schwerpunkte dieser Schrift: die literarische Streitkultur.
Die aufsehenerregenden Literaturstreitfälle der 1990er Jahre im Kielwasser der durch den Zusammenbruch der politischen Systeme Osteuropas, vor allem der DDR, verursachten Turbulenzen analysiert Lothar Bluhm, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. Dabei kommt er zu der grundsätzlichen Anmerkung, Literaturwelt und Literaturkritik hätten sich »bemerkenswert robust erwiesen« gegen alle damaligen Versuche, eine engagierte Literatur als »gesinnungsästhetisch« zu marginalisieren.
Bluhm erörtert die zentralen Dispute jener Zeit, die vor allem in den deutschen Feuilletons für Aufregung sorgten: die publizistischen und politischen Auseinanderersetzungen um Christa Wolfs Erzählung »Was bleibt« (1990), mit der vor 30 Jahren der Tamtam begann, sowie um den Spiegel-Essay »Anschwellender Bocksgesang« von Botho Strauß (1993), um Peter Handkes Reisebericht »Gerechtigkeit für Serbien« (1996) und um Martin Walsers Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (1998). Weitere in dem Essay thematisierte Streitfälle der »Nachwendejahre« sind die Debatten um eine Stasi-Mitarbeit verschiedener Autoren, um W. G. Sebald und seine Veröffentlichung »Luftkrieg und Literatur« (1997/1999) sowie um den heftig umstrittenen Roman »Ein weites Feld« von Günter Grass: Das Spiegel-Titelbild vom 21. August 1995 mit dem das Buch zerreißenden Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki dürfte noch in Erinnerung sein.
Bei all den Auseinandersetzungen ging es, so Bluhm, um die Frage der künftigen Deutungsmacht. Er zitiert dazu, im Hinblick auf Christa Wolf, den ehemaligen Feuilletonchef der ZEIT, Ulrich Greiner: »Mit dem Ende der Zweiteilung Deutschlands ist auch das Ende der literarischen Teilung gekommen.« Jetzt gehe es »um die Deutung der literarischen Vergangenheit und um die Durchsetzung einer Lesart. Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird. Der Streit um die Vergangenheit ist ein Streit um die Zukunft.«
Wer bestimmt, was gewesen ist? Schon Hölderlin gab die Antwort: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.« Daher hält der Freipass Geschichten zur Geschichte der »Deutschen Einheit« bereit, fast alles Erstveröffentlichungen: von Judith Hermann, Jochen Laabs, Katja Lange-Müller (mit Gedichten des in Berlin lebenden Lyrikers Andreas Koziol), Andreas Maier, Robert Menasse, Anselm Neft und Hans Joachim Schädlich.
Dass jedoch nicht nur Autorinnen und Autoren, sei es auf künstlerischer oder persönlicher Ebene, sondern auch Verlage zunehmend in Konfliktfelder kommen können, schildert Verleger Christoph Links in seinem Beitrag über »Juristische Erfahrungen eines Sachbuchverlegers«. Das Spektrum der möglichen Auseinandersetzungen sei bei Sachbüchern besonders groß »und für die Betroffenen oft auch wirtschaftlich schmerzvoller, da es per einstweiliger Verfügung schnell zum Verbot ganzer Auflagen und anschließend zu hohen Schadenersatzforderungen kommt«. Dabei gehe es zumeist um den Wahrheitsgehalt von Tatsachenbehauptungen, um die Berichterstattungsfreiheit über Personen und um die Grenzen der Meinungsfreiheit.
Als Beispiele nennt Links u. a. die juristischen Auseinandersetzungen um einen Report zur »Treuhand«, um ein Buch über Scientologen und um ein Buch über neurechte Aktivisten, die im ländlichen Raum versuchen, möglichst unauffällig Einfluss zu gewinnen und »national-dominierte« Zonen zu schaffen. 16 Abmahnungen hätten den Verlag und die Autoren zum letztgenannten Buch erreicht, berichtet Links. Inzwischen versuchten spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien, die auch die AfD vertreten, »mit großer Vehemenz kritische Autoren einzuschüchtern«. Spannend zu lesen.
Die Günter und Ute Grass Stiftung hat ihr Projekt Freipass im März 2015 gestartet mit dem Ziel, »Raum zu bieten für die Behandlung wichtiger Fragen der Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts«. Mit wechselnden Themenschwerpunkten: In Band 1 stand die Schriftstellerin Irmtraud Morgner im Mittelpunkt, in den Folgebänden der Schriftsteller Heinrich Böll, der Bildende Künstler, Nazi-Gegner und Pazifist Otto Pankok und der Zeichner Horst Janssen. Ossietzky hat die einzelnen Veröffentlichungen begleitet (siehe zuletzt Ossietzky, Heft 19/2019, »Sülze kochen, Zunge zeigen«).
Die verblüffendste Information der Publikation jedoch steht gleich im Vorwort, ich zitiere: »Zwei namenlose Spaziergänger oder Cafégäste im Paris der späten 50er Jahre: Sie sind versunken in eine Unterhaltung, von deren Inhalten wir kaum etwas wissen und die wir uns nur schwer vorzustellen vermögen.« Der eine ist »ein jahrelang verfolgter osteuropäischer Jude des Jahrgangs 1920, der nach dem Holocaust, dem seine Eltern zum Opfer gefallen sind, nach Westeuropa floh«, der andere ein 1927 in der Freien Stadt Danzig geborener Halbkaschube, inzwischen ein »in Fachkreisen bereits hochverehrter Dichter«, der an einer berühmten École deutsche Sprache und Literatur lehrt und von Übersetzungen lebt.
Denn das ist die überraschendste Entdeckung in diesem Freipass: Paul Celan und Günter Grass haben sich nicht nur gekannt, sie waren Freunde, »über viele Jahre hinweg, was auch ihr Briefwechsel bezeugt«. Der Autor Helmut Böttiger hat Anfang Mai 1995 in der Werkstatt von Günter Grass in Behlendorf ein bisher nur in kurzen Auszügen veröffentlichtes Gespräch über Celan mit Grass geführt, das den Freipass eröffnet und in dem dieser über seine Beziehung zu dem Dichter der »Todesfuge« sagt: »Das war die schwierigste Freundschaft, die ich erlebt habe.« Wissenschaftliche Essays zu Celans Lyrik, bisher unveröffentlichte Briefe des Lyrikers und Würdigungen seines Werkes runden diesen Themenschwerpunkt ab.
Celan wäre in diesem Monat 101 Jahre alt geworden. Er nahm sich im April 1970 in Paris das Leben. Grass starb 2015 in Lübeck, ebenfalls im Monat April.
Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa (Hg.), Dieter Stolz (Redaktion): Freipass, Bd. 5, Ch. Links Verlag/Aufbau Verlage, Berlin 2020, 270 S., 20,60 €.