Graz ist die Hauptstadt des österreichischen Bundeslandes Steiermark und dazu mit fast 300 000 Einwohnerinnen und Einwohnern die zweitgrößte Stadt Österreichs. ÖVP und FPÖ haben über Jahrzehnte in dieser Stadt, mit ihren sehr hohen Feinstaubbelastungen, die Politik bestimmt. Bei der letzten Gemeinderatswahl im Jahre 2017 erzielte die rechtsbürgerliche ÖVP 37,78 Prozent der Stimmen; sie stellte mit Siegfried Nagl schon seit 2003 den Bürgermeister. Nun, am 26.9.2021, hat er seinen Rückstritt bekannt gegeben. Einen Tag vor der Wahl 2021 in Graz erschien in der liberalen Tageszeitung Der Standard unter der Überschrift »Die rote Zelle in Graz« ein Text, in dem der Autor Walter Müller meinte: »Ob die KPÖ überhaupt die Gelegenheit bekommt, eine Regierungsbildung zu versuchen, ist angesichts der Ausgangslage nach der Wahl 2017 illusorisch.« Da sind dem Kommentator wohl seine ansonsten nicht unbedingt antikommunistisch aufgestellten Pferde durchgegangen. Solch beschönigende, einem Wunschdenken entsprechende Selbsttäuschung über den nun in Wirklichkeit völlig anderen Wahlausgang, lässt den Autor zum Makulatur-Schreiber schrumpfen.
Frauen und Männer in Graz haben gewählt, und mit 28,9 Prozent wurde die KPÖ in Graz stärkste Kraft, die ÖVP kam auf 25,7 Prozent, die Grünen erzielten 17,3 Prozent und die rechtsnationale FPÖ, die früher in Graz sogar den Bürgermeister stellte, schrumpfte auf 5,3 Prozent. Im Gemeinderat ist nun die KPÖ mit 15 Mandaten vertreten, während die ÖVP nur noch über 13 Sitze verfügt. Die GRÜNEN haben 8 Sitze, die kaum noch vorhandene SPÖ 4 Sitze, die FPÖ 5, und die »liberalen« Neos erreichten 2 Sitze.
Eine LINKE, die in Deutschland eben nur noch mit Müh & Not, dank Direktmandaten, im Bundestag vertreten sein wird, müsste sich schon lange die politische Arbeit der Grazer Genossinnen und Genossen zum Vorbild machen.
In Graz begann es mit Ernest Kaltenegger: In der Oststeiermark aufgewachsen, in einer sozialdemokratischen Familie, ging er in jungen Jahren zur SJÖ (Sozialistische Jugend Österreichs) – die dort erlebten, festgefahrenen Strukturen ließen ihn zur KPÖ wechseln. Nach Graz gezogen, putzte Kaltenbrunner Tag für Tag die Klinken der Gemeindewohnungen, hörte gut zu und hielt Versprechungen ein. Als Stadtrat ließ er in vielen, vernünftigen Wohnansprüchen längst nicht mehr entsprechenden Substandardwohnungen Bad und WC einbauen. Die Grazer KPÖ machte über viele Jahre bis zum heutigen Tag soziale Parteiarbeit auf Augenhöhe mit der Bevölkerung. Sie konzentrierte sich auf lokalpolitische Themen und spezialisierte sich auf Wohnungspolitik. Eine Mieter-Notrufstelle half Mieterinnen und Mietern in Wohnungsangelegenheiten, und so wurden die Missstände der Grazer Wohnungspolitik öffentlich. In der Wiener Parteizentrale war man anfangs nicht begeistert von solcher »unpolitischen« Arbeit. Über Inhalte von Gemeinderatssitzungen und andere wichtige Entwicklungen in der Stadt wird per Zeitung und Internet ausführlich berichtet.
Der Landesparteichef Franz Parteder, Ehemann der soeben erfolgreichen Wahlgewinnerin Else Kahr: »Wir haben uns bemüht, die Ideologie alltagstauglich zu machen und zu schauen, was den Menschen real hilft. Uns geht es ums Handeln und nicht um irgendwelche scholastischen Diskussionen. Der Marxismus ist in der Krise, und der Osten war ein abschreckendes Beispiel. Die Theorie muss endlich den Praxistest bestehen.«
Eine aktive Mitgliedschaft begleitet diese Arbeit und die bei der LINKEN in Deutschland so beliebten »Grabenkämpfe« gibt es nicht. »Wir haben eine Koalition mit unseren Wählerinnen und Wählern«, beteuert die KPÖ Wahlsiegerin Elke Kahr. »Für sie sind wir da.«
Der Erfolg der Grazer KPÖ bei den Gemeinderatswahlen hat auch die Bundes-KPÖ überrascht. »Wir haben mit einem guten Ergebnis gerechnet – aber in dieser Größenordnung und in dieser politischen Tragweite nicht«, so Sprecher Tobias Schweiger. »Für uns ist klar, dass das nicht nur ein Sieg in Graz war, sondern auch ein starkes Signal für eine starke Linke in ganz Österreich.«
Für deutsche Leserinnen und Leser mag interessant sein, wie viel die Mandatsträger in Graz verdienen. Seit 1.1.2021 belaufen sich die monatlichen Bruttobezüge (14-mal im Jahr) nach dem Steiermärkischen Gemeinde-Bezüge Gesetz wie folgt: Bürgermeister: 14.303,42 €, Bürgermeisterstellvertreter: 11.996,41 €, Stadträtin/Stadtrat: 11.073,61 €, Klubobleute: 4.244,88 €, Gemeinderatsmitglieder: 2.122,44 €, Bezirksvorsteher und -vorsteherinnen: 1.845,60 €.
Die derzeit aktiven MandatarInnen haben keinen Anspruch auf eine Abfindung oder »Politikerpension«. Die »Bezügetabelle« wurde natürlich von einer anderen Mehrheit beschlossen, die gewiss nicht daran gedacht hat, dass KPÖ-Mitglieder einmal davon profitieren würden.
In Graz gibt es darüber hinaus, dank KPÖ, noch eine soziale und politische Besonderheit. Eine Brille, Zuschuss für einen Herd, Heizöl: Ein Sozialfonds der KPÖ hilft armen Menschen, die keine gesetzlichen Zuschüsse erhalten. Penibel verzeichneten die bisherigen zwei Stadträte und die zwei Landtagsabgeordneten der KPÖ in einem Kassabuch, wofür sie auf zwei Drittel ihrer Politikergagen verzichten. 1192 Steirer bekamen im Jahr 2021 finanzielle Unterstützung aus dem Sozialfonds der KPÖ, der mit 135.283 Euro gefüllt war. Durchschnittlich geht es um Summen zwischen 40 und 250 Euro pro Person.
Seit 20 Jahren betreibt die KPÖ diesen Fonds. Erstmals eingerichtet wurde er 1998, als Ernest Kaltenegger den Sprung in den Grazer Stadtsenat schaffte. Er verzichtete auf einen Teil seines Gehalts, seither halten sich alle KPÖ-Mandatare daran: Die Grazer KPÖ-Chefin Elke Kahr als bisherige Stadträtin und ihr Stadtratskollege Robert Krotzer etwa behalten von den 5910 Euro netto, die ihnen jeweils monatlich zustehen, 1950 Euro.
Auf die Frage, ob es sie nerve, »seit 30 Jahren immer nach dem Kommunismus im Namen KPÖ gefragt zu werden«, antwortete Elke Kahr: »Nerven weniger. Den Medien ist es wichtiger als den Leuten. (…) Weil sie uns kennen. Das war schon bei Ernest Kaltenegger so. (…) ich habe nie etwas von einem Stalin gehalten, habe die Menschenrechtsverbrechen in kommunistischen Regimen schrecklich gefunden, den Einmarsch in die ČSSR auch, ich bin auch kein Fan Nordkoreas. Das ist Despotismus und hat nichts mit meiner Weltanschauung zu tun. Ich bin Marxistin, und wir gehen in der steirischen KPÖ seit über 30 Jahren einen komplett eigenen Weg. Wenn man aber das Arbeiten für eine sozial gerechtere Welt unbedingt verteufeln will, dann weiß ich auch nicht. Immer vergleicht man uns nur mit Regimen aus dem Osten, die aus einer Idee des Kommunismus etwas ganz anderes gemacht haben.«
Ob bei der nun »abgespeckten« LINKEN in Deutschland ein Lernprozess beginnt? Es ist zu befürchten, dass der Slogan »Von Graz lernen, heißt siegen lernen« auf die verstopften Ohren der »verbeamteten« Parteiführung treffen dürfte. Wirkungslos verpuffend!