Der Thomas-Altar von um 1500, ausgestellt im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, birgt an der rechten Flügelinnenseite ein beiläufig meisterliches Detail, eine aufs Feinste gepinselte Fliege, die eine winzige Fliegendreckspur hinterlässt.
Freitag in Berlin, Bahnhof Zoologischer Garten, im 145er singt und lärmt ein Betrunkener, der sich weigert, den Bus zu verlassen. Alles ist genervt. Der Fahrer informiert schließlich über Funk die Polizei. Da verkündet der fröhliche Lärmer: »Wenn jemand ›Fliege‹ ruft, gehe ich!« Eine junge Frau baut sich vor ihm auf, sagt »Fliege« – und der Mann schwankt singend von dannen.
Ein halbes Jahrhundert zuvor schlug ich an einem frühen Dezemberabend vergeblich nach einer Stubenfliege, und mein Vater hielt meinen Arm in der Bewegung fest. Er verteidigte die letzte Fliege des Jahres im Haus, der nichts zu Leide getan werden dürfe, so viele sommers auch auf Fliegenleimfängern verendet sein mögen.
Es lebe die Stubenfliege, musca domestica! Die geflügelte Muse der Dichter, Ausweichkünstlerin auch sie, die die Lampen ihrer Einfälle ewig umkreist. Oh, ihr Fliegen, wahre Musageten der Poeten, meinte schon Goethen. Leinwandgroß sehe ich sie mit Kugelaugen starren, facettenäugig und kalten Blicks aus einem Horrorfilm in den »Löns-Lichtspielen« meines Dorfes. Da war mir die Poesie der Eintagsfliege noch gänzlich unbekannt, das von Ringelnatz so fein mitgefühlte Zeit- und Schmerzempfinden ihres ganzen Lebens.
Doch, Fliegenschiss und Augenpulver, ich wusste auch nichts von im Bleisatz der Druckereien sich verbergenden »Fliegenköpfen«, einem Fachbegriff der Druckersprache. Lexikalisch stehen sie dort verloren zwischen »Fliegendes Blatt« und »FM Raster«, werden aber heute kaum noch begrifflich vermerkt, weil es die einst versehentlich verkehrt herum gesetzten Buchstaben so gut wie nicht mehr gibt, die Lettern des klassischen Bleisatzes. So wurde bereits nostalgisch eine in den 1990er Jahren in Hannover erschienene Reihe von Prosablättern »Fliegenköpfe« benannt, nach den Leseabenden literarischer Kleinkunst unter gleichem Namen, die die Druckerei Interdruck hin und wieder veranstaltete. Über gut zwölf Jahre hinweg erschien die Fliegenköpfe-Prosa* eines bunten hannoverschen Schreibvölkchens. An Freitagabenden fand es sich mit Publikum in der geöffneten Druckereiwerkstatt bei Wasser, Wein und Worten vor einer improvisierten Lese-Bühne ein. Der damalige Druckereibetreiber (Matthias Berger, heute in Dähre/Sachsen-Anhalt, Ossietzky Verlag) zog fort aus der Leinestadt, und es mutierten die luftigen Fliegenköpfe mehr und mehr zur ambitioniert performten Kleinkunstbühnenwelt Hannovers. Die literarischen Inszenierungen nahmen an Fahrt auf, waren fortan kein Podium mehr allein für ausgeklügelte Bleisätze poetischer Fliegenköpfe, die hier nur noch Geschichte sind.
In den »Terzinen auf eine Fliege« sinnierte einmal Herbert Eulenberg: Nun lass ich dich, du liebe Fliege, fliegen! / Wir buhlten diesen heißen Sommer lang. / Wie gern sah ich dich schwingen und dich wiegen. Katinka, heißt seine Fliege, der er 1911 einen 326 Seiten umfassenden »zeitgenössischen Roman« gewidmet hat, ein Roman, der Waldemar Bonsels wiederum zu seinem Weltbestseller über die Biene Maja inspirierte. So geht es.
Doch das war einmal. Der geflügelten Spezies steht in Zukunft noch so einiges bevor, wenn ich etwa an das aufkommende und rasant sich verbreitende »Novel Food« denke, wo entsprechend zart zubereitete Fliegen – neben allerlei Grillen und anderem Getier – auf dem Speiseplan stehen; die Schwarze Soldatenfliege zum Beispiel.
Da fliegt mir das »Fliegenlied« von Paul Scheerbart aus der Erinnerung zu: Fliege, fliege, kleine Fliege! / Fliege, fliege in die Wiege! / Siege! Siege!, reimte er in seiner »Kater-Poesie« um 1900. Ob er die Schwarze Soldatenfliege im Blick hatte? Es lässt sich nicht mehr sagen. Scheerbart starb im Oktober 1915, da war der 1. Teutonische Weltkrieg schon ein Jahr im Gange. Diese Gefahr und das ultramilitärische Gehabe in deutschen Landen, mögen ihm die hinterhältig-bissige, klitzekleine geflügelte Strophe eingegeben haben.
* In Erinnerung an Matthias Göke (1962 – 2021) und seine Textreihe »Fliegenköpfe« oder »FliegenFalter«.