Hätte sich jemand in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in einen kontrollierten Tiefschlaf versetzen lassen, aus dem er oder sie heute wieder erwachte, müsste sich der Eindruck aufdrängen, die Welt sei in der Zwischenzeit von Cyborgs besiedelt worden, jenen Mischkreaturen aus lebendigem Organismus und Maschine, die in der Zeit vor dem Tiefschlaf das Science-Fiktion-Genre beherrscht hatten. Überall – auf Straßen und öffentlichen Plätzen, in U-Bahnen und Bussen, in Cafés und Restaurants – sind äußerlich menschlich anmutende Wesen zu sehen, die mit einem handtellergroßen Gerät verwachsen zu sein scheinen. Sie sprechen mit ihm, tippen darauf herum und nehmen ihre Umwelt offenbar vorwiegend über einen darin integrierten Bildschirm wahr. Seltsam. Und die Verwunderung steigert sich noch. Neugierig geworden, fragt der frisch Erwachte seine neuen Zeitgenossen sogleich, wie das, was sie da in Händen halten, in die Welt gekommen sei – und erntet zumeist verlegenes Schweigen. Nur wenig ist über die Herkunft des Wunderwerks herauszubekommen, eine Menge hingegen über seine vielfältigen Dienste. Das ist kein Werkzeug, kein Hammer, der nur hämmert, soviel wird dem Fragenden schnell klar, sondern offenbar eine komplette Werkstatt, mit deren Hilfe alle möglichen Aufgaben bewältigt werden können, auch solche, die sich uns heute noch gar nicht stellen. Wie sagte Steve Jobs einmal so treffend: »Der Computer ist die Lösung. Was wir brauchen, ist das Problem.«
Aber noch einmal: Wie ist dieses Allround-Talent entstanden? Woher kommt es? Wer hat es erdacht? Einige Kundige werfen dann doch Namen in den Raum: John von Neumann, Alan Turing, Konrad Zuse. Andere, nicht so Kundige, sprechen von genialischen Garagen-Tüftlern und nennen Bill Gates oder den gerade zitierten Steve Jobs. Wieder andere, ganz Eingeweihte, raunen vom Manhattan-Projekt. Und die echten Freaks kommen dann noch mit Namen um die Ecke, von denen die meisten von uns noch nie etwas gehört haben dürften: George Boole und Charles Babbage – und die haben beide nicht im letzten, sondern schon im vorletzten Jahrhundert gewirkt. Bitte? Der Computer eine Erfindung des 19. Jahrhunderts?
Ja und Nein, die Sache ist etwas verzwickter. Alle diese Hinweise sind nicht etwa falsch, sie führen aber in die Irre. Für die Digitalisierung wie für den Computer werden wir kein individuelles Copyright finden. Es handelt sich hierbei vielmehr um kollektive Schöpfungen, um den Zusammenfluss und das Zusammenwirken verschiedener Ideen. Die Geschichte der Digitalisierung lässt sich deshalb nicht – oder nur sehr unzureichend – als Technikgeschichte erzählen, sondern nur als ein kulturelles Geschehen beschreiben, an dem wir und viele Generationen vor uns ebenso beteiligt sind und waren wie einige außergewöhnliche Einzelne. Wobei der Begriff »Geschehen« viel zu undramatisch daherkommt. In Wahrheit vollzieht sich in der Digitalisierung eine kulturelle Revolution, wie sie zuvor nur durch wenige Einschnitte in der Menschheitsgeschichte – etwa durch die Einführung des Alphabets, der Uhr, des Geldes oder der Dampfmaschine – ausgelöst wurde.
Insbesondere die zuletzt genannte, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von James Watt entwickelte Dampfmaschine hatte eine einschneidende Transformation unserer gesamten Lebensart zur Folge – mit, wie wir heute wissen, sehr vielen positiven, aber auch überaus negativen Auswirkungen. In seinem Buch »Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden« (Frankfurt/New York 2012) unternimmt der britische Historiker Ian Morris den ehrgeizigen Versuch, mehr als 10.000 Jahre menschlicher Entwicklungsgeschichte mithilfe quantifizierbarer Merkmale zu beschreiben. Er misst »die Fähigkeit einer Gemeinschaft, mit sich und der Welt zurechtzukommen« anhand ihres Pro-Kopf-Energieverbrauchs, ihres Organisationsgrades (Verstädterung), ihrer Kriegsführungskapazitäten sowie ihrer Informationstechniken und kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass die Kurve der menschlichen Entwicklung über viele tausend Jahre allenfalls unmerklich anstieg. Weder der Einsatz von Nutztieren noch das Aufkommen der Landwirtschaft, weder der Aufstieg von Imperien noch die Ausbreitung von Religionen oder Philosophien führten demnach zu deutlich messbaren Entwicklungssprüngen. Nein, erst vor gut 200 Jahren knickt die Kurve sowohl der Bevölkerungszahl als auch der sozialen Entwicklung plötzlich um fast 90 Grad nach oben. Dies ereignete sich nicht alles von heute auf morgen, sondern brauchte einige Jahrzehnte, um sich zu entfalten, es war aber, in Morris’ Worten, »die größte und schnellste Transformation der gesamten Weltgeschichte« (S. 480).
Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft hatte einschneidende Konsequenzen von heute kaum mehr vorstellbaren Ausmaßen. Unerhörte Produktivitätssteigerungen und wachsender Wohlstand, aber auch Massenarbeitslosigkeit, eine Prekarisierung der Lebensverhältnisse und dadurch ausgelöste soziale Unruhen waren die Folge. Die industrielle Revolution, die Millionen Landarbeiter und Bauern, die sich und ihre Familien bis dahin weitgehend selbst versorgt hatten, in die Städte zog, wo sie zu abhängig Beschäftigten wurden und vom Wohl und Wehe ihrer Arbeitgeber abhängig waren, machte auch eine soziale Revolution notwendig. In der Fabrik arbeitende Menschen waren nicht mehr in der Lage, ihre Angehörigen, ihre Kinder und nicht mehr arbeitsfähigen Eltern, allein zu finanzieren. Armut und Elend trotz Arbeit – und erst recht bei Arbeitslosigkeit – waren gang und gäbe.
Otto von Bismarck hat daraufhin bekanntlich in den 1880er und 1890er Jahren ein umfassendes, zentral organisiertes staatliches Sozialsystem eingeführt: den Wohlfahrtsstaat. Auch wenn er dabei nicht in erster Linie das Wohlergehen der damaligen Reichsbürger im Auge hatte, er wollte sie vielmehr »bestechen«, um die Monarchie vor der »roten Gefahr« zu retten, denn die gesellschaftlichen Zustände hatten den Demokraten und Kommunisten großen Zulauf beschert, so waren nun erstmals in der jüngeren Geschichte Millionen Menschen jenseits von Familienverbänden und kleinen Schutzgemeinschaften gegen Krankheit und Alter finanziell abgesichert. Aus der Solidarität von Kleingruppen war gesellschaftliche Solidarität geworden. Das war nicht weniger als eine soziale, zivilisatorische Revolution mit befreiender Wirkung.
In einer mit der Industrialisierung durchaus vergleichbaren sowohl technologischen wie sozialen Transformationsphase befinden wir uns heute wieder. Die Digitalisierung hat auf unsere geistigen Fähigkeiten eine ähnliche Wirkung wie die Dampfmaschine und ihre Nachfolger auf die Muskelkraft. Und wie im Zuge der Industrialisierung werden wir uns auch im Zuge der Digitalisierung, soll sie nicht im Chaos münden, eine neue Sozialordnung, einen neuen Gesellschaftsvertrag geben müssen. Allerdings werden die anstehenden Veränderungen unser Leben diesmal erheblich schneller umkrempeln als die Fabrikarbeit das Leben der Menschen vor 150 Jahren – mit heute noch längst nicht absehbaren Folgewirkungen. Wie unsere Vorfahren mit der Dampfmaschine betreten wir mit unseren digitalen Maschinen gewissermaßen einen neuen Kontinent.
Und die Zäsur, diese Lektion sollten wir aus der industriellen Revolution gelernt haben, ist eben nicht nur ingeniöser, maschineller Natur. Sie stellt uns vor individuelle und soziale Herausforderungen, die denen zu Zeiten der Industrialisierung in nichts nachstehen. Um den Umbruch zu beschreiben und zu verstehen, was gegenwärtig vor sich geht, reicht es deshalb bei weitem nicht hin, die technologischen und theoretischen Aspekte des Wandels zu beleuchten. Das würde viel zu kurz greifen und ist für ein erstes Verständnis auch schnell erledigt: Digitalisierung meint einen Prozess, in dessen Verlauf Bilder, Töne, Texte und alle anderen etwa von Sensoren erfassbare Daten (wie zum Beispiel Temperaturen und Geschwindigkeiten) in distinkte Signale, in einzelne Bits, umgewandelt werden, die sich jederzeit wieder in ihre Ausgangsgestalt rückübersetzen lassen, und zwar – anders als bei analogen Kopien oder Übertragungen – ohne jeden Qualitätsverlust, ohne eine einzige Abweichung vom »Original«. Das ist zunächst einmal schon alles.
Viel wichtiger als solche technischen Details ist aber die Frage, wie wir durch die neuartigen, infomationsverarbeitenden Maschinen geprägt werden: Wie verändert die Digitalisierung unser individuelles, soziales und wirtschaftliches Denken und Handeln? Schon in den 1960er Jahren hat sich der Kommunikationsphilosoph Vilém Flusser in diesen Fragen als äußerst hellsichtig erwiesen, als er davon sprach, dass die neuen Medien – und das Internet war ihm noch völlig unbekannt – die Menschen zwangsläufig verändern würden: Aus Subjekten werden Projekte.
Und so ist es heute. In den sogenannten sozialen Medien, auf Dating- oder Karriereportalen, bei Nachrichten- oder Streaming-Diensten lösen sich die Individuen auf und werden zu einer jederzeit gestaltbaren und zu gestaltenden Plastik, die sich im Prinzip jede beliebige Identität – Alter, Geschlecht, Vorlieben – zulegen kann. Wahrheit wird zu einer Skalierungsgröße: Je mehr »Likes« eine Aussage erhält, desto zutreffender ist sie. Die Waren- und Dienstleistungswirtschaft wird zur Aufmerksamkeitsökonomie, die Arbeitsgesellschaft zu einem Auslaufmodell, der Sozialstaat zu einem Relikt des Industriezeitalters.
Aber was ist dieses Neue, das da, zunächst unbemerkt, alle Lebensäußerungen durchdringt? Was macht die Digitalisierung mit uns? Und wie steuern wir diesen Einfluss? Wo wollen wir hin? Wie wollen wir leben? Das sind die Fragen, die wir uns entschieden stellen und auf die wir Antworten finden müssen. Denn wir sind nicht etwa nur Zeugen einer fortschreitenden Entwicklung, die sich »irgendwie« ohne unser Zutun vollzieht. Nein, wir sind aktive Teilnehmer an einer nur auf den ersten Blick technologischen Revolution, die auch einen sozialen und ökonomischen »Programmwechsel« erfordert; man könnte auch »Systemwechsel« sagen oder »echter Lockdown« (siehe den Beitrag von Georg Fülberth in diesem Heft). Und die Anfänge und Ankündigungen dieses Umbruchs sind sehr viel älter, als wir denken, wie Teresa Sciacca in ihrem Beitrag in Ossietzky 22/2021 (»Am Nullpunkt der Digitalisierung«) gezeigt hat.