Wir lassen die besten »Wissenschaftler« – die wohl zugleich die bestbezahlten sind, obwohl, besser: weil sie nicht eigentlich »Wissen schaffen« – immer zerstörerischere Waffen entwickeln, um einen potenziellen oder tatsächlichen Gegner von feindlichen Aktivitäten »abzuschrecken«, wie es heißt. Das funktioniert scheinbar eine Weile, bis die andere Seite nachzieht. Die Realität lehrt uns aber zugleich auch einen anderen Schluss: Atombombe, Neutronenbombe, Präzisions- und Hyperschallraketen, Drohnen – was immer! – sind nicht für das »Magazin« – all das drängt, gewissermaßen aus sich heraus, auf Anwendung. Was denn sonst? Dieser »Geist« der Waffen, den die jüngere Geschichte nachdrücklich und grauslich belegt, ist nach wie vor weithin unbegriffen.
Immer wieder erleben und erleiden wir das Schicksal des berühmten Zauberlehrlings, der sich der Wirkungsmacht der eigenen Schöpfung nicht gewachsen zeigt. Automobilisierung, Industrialisierung elektronische Medien, moderne Telekommunikation – um nur wenige Großbereiche zu nennen – haben die soziale Wirklichkeit auf eine Weise und in einem Ausmaß verändert, wie es sich die Pioniere des Fortschritts ganz sicher nicht haben ausmalen können. Diese Veränderungen, die sich zwar beschreiben lassen, sind aber gar nicht so leicht auf den Begriff zu bringen, weil sich die entscheidenden Verwandlungen sozusagen subkutan ereignen. Das Wesen des Fortschritts besteht nicht so sehr in Beschleunigung, Rationalisierung, Qualitätsverbesserung und so fort. Das Wesen des Fortschritts ist eher darin zu suchen, was all die fortschreitenden Techniken mit uns machen.
Anders formuliert: Eines der Hauptmerkmale unserer Gegenwart besteht darin – und das meine ich durchaus buchstäblich –, dass der »Geist« der Maschine mittlerweile alle Poren des Gesellschaftlichen durchdrungen hat. Ob das gut oder schlecht ist, will ich hier gar nicht abschließend bewerten. Zunächst einmal ist es einfach so, es war von Anbeginn des Maschinenzeitalters so. Allerdings hat sich diese »Kontaminierung« bis heute nicht in ein offenes Denken übersetzt, sondern weitgehend unbemerkt vollzogen.
Wie solche Durchdringung funktioniert, ließe sich an zahllosen aktuellen Beispielen illustrieren – man denke an die Computer- oder die Handy-Generation. Aber nehmen wir, mit Blick auf die sich rasant entwickelnde Waffentechnik, hier mal ein anderes, weit zurückliegendes Beispiel – das allerdings alles andere als beliebig gewählt ist. Es ist praktisch der Anfang der ganzen janusköpfigen Geschichte unseres rühmlichen Fortschritts – und schon an diesem Anfang ist unser Zauberlehrlings-Dilemma offenkundig geworden.
Die Moderne beginnt mit einem kurzen, fließenden Geräusch. Es ist der 25. April des Jahres 1792. Ein schweres Metallmesser saust eine hölzerne Vorrichtung hinunter und prallt unten mit einem lauten Knall auf einen ebenfalls hölzernen Bock. Auf seinem Weg von oben nach unten freilich trennt das Fallbeil mit großer Präzision und kaum hörbar noch den Kopf vom Rumpf eines zuvor auf den Holzbock geschnallten Delinquenten; der abgeschnittene Kopf fällt vornüber in einen Ledersack, dann ist das Spektakel vorbei.
Die Menschenmenge, die sich am Pariser Place de Grève versammelt hatte, um der Einweihung dieses neuartigen, von einem gewissen Monsieur Guillotin entwickelten Instruments beizuwohnen, soll übrigens ziemlich enttäuscht gewesen sein. Die Hinrichtung war gar nicht nach dem Geschmack des Publikums, sie ging viel zu schnell, sodass die Guillotine nach dieser ersten Demonstration von den Leuten lauthals verschmäht wurde. Die wollten stattdessen ihren guten alten Galgen wiederhaben.
Nun, der Fortgang der Geschichte ist bekannt. Die Guillotine trat sozusagen ihren Siegeszug an und wurde geradezu zur Metapher der Revolution. Und mit der Zeit fanden auch die Leute schließlich sogar Geschmack an ihr. Zwar liefen die öffentlichen Hinrichtungen von nun an seltsam »sauber« und unspektakulär ab, aber der sprichwörtliche Gang zum Schafott wurde bald zu einem beliebten Schauspiel. Und an Aufführungen herrschte in jenen Tagen wahrlich kein Mangel, denn durch die Guillotine war der Tod gewissermaßen in Serie gegangen. Mit der Guillotine verließ die Hinrichtung die Sphäre des Handwerkers und ging über in die Welt der Maschine.
Tatsächlich lässt sich die Geschichte der Guillotine geradezu als ein Lehrstück moderner Rationalisierung lesen. Zunächst einmal waren es durchweg ehrenwerte, ja, humanitäre Gründe, die Monsieur Guillotin veranlasst hatten, sein fortschrittliches Instrument zu entwickeln. Zum einen sollte das grausige Todesgeschäft – die Henker müssen zum Teil fürchterlich gepfuscht haben –humaner betrieben und zum zweiten der Akt selbst rational und präzise ausgeführt werden. Dagegen gibt es wohl, unter den damals obwaltenden Umständen, auch gar nichts Kritisches einzuwenden.
Daneben aber hatte die Todesmaschine Folgewirkungen, die ihr Entwickler sicher nicht antizipiert hat – und womöglich auch nicht hat voraussehen können. Denn was passierte, wenn man eine Guillotine auf dem Marktplatz irgendeines südfranzösischen Departements aufstellte? Zunächst einmal erschien diese Maschine wie eine Verkörperung der Staatsgewalt. Darüber hinaus erschien sie aber auch auf durchaus anstößige Weise »untätig«. Das heißt, als Maschine bringt die Guillotine ein Konzept von Arbeit und Effizienz ins Spiel, das für die gut tausendköpfige Henkerschar, die die Revolution vom ancien régime übernommen hatte, noch nicht gegolten hatte. Vom staatlich bestallten Henker, dessen verdeckte Arbeitslosigkeit die Guillotine nun sichtbar machte, hatte zuvor niemand regelmäßige Proben seiner Arbeitskraft verlangt. Die Maschine hingegen, die nun untätig und nutzlos auf dem Marktplatz herumsteht, wird quasi gefräßig und verlangt, dass man ihr Futter zuführt. So kommt es, dass der Terreur binnen Wochen mehr Menschen hinrichtet als die gesamte Henkerschar über den Zeitraum eines ganzen Jahrhunderts.
Die Guillotine – diese Maschine, die nichts produziert und gleichwohl das Urbild einer seriellen Produktionsweise darstellt – markiert einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich aber weder mit rationalen noch mit moralischen Kategorien vollständig erfassen. Die Hinrichtung durch die Guillotine war zweifellos »sauberer«, und das Ansinnen des Monsieur Guillotin war ebenso zweifellos »gut gemeint«. Nein, die Gefräßigkeit der Guillotine entsteht dadurch, dass man ihr, als einer apersonalen, gleichsam übersubjektiven Instanz, Verantwortung übertragen kann. Die Maschine wird zu einer Art Blackbox, in die sich alle möglichen Motive und Wünsche projizieren lassen. Am Ende sind die menschlichen Träger dieser Motive und Wünsche nicht mehr zu erkennen. Etwas passiert, aber niemand ist es gewesen. Das heißt, die Maschine entlastet nicht nur von Arbeit – wobei man die Henker als erste Rationalisierungsopfer betrachten könnte –, sie entlässt den Menschen immer auch ein Stück weit aus der Verantwortung. Und diese Nebenwirkung verändert unser Denken, unsere Einstellungen, unsere Verhaltensweisen.
Genauso ist es mit den Waffen. (Man denke an die Drohnen, die jetzt im ukrainischen Widerstand gefeiert und seit Jahren, von Rammstein aus gesteuert, Menschen im Irak und anderswo töten.) Eine Maschine, eine technische oder technologische Neuerung lässt sich nicht auf ihre Funktion reduzieren. Sie ist nicht neutral. Sie enthält einen Wirkungsüberschuss. Sie beeinflusst immer auch den politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen oder ökologischen Kontext, in dem sie zum Einsatz kommt. Das meinte ich mit ihrem »Geist«, den sie verströmt.
Genau das macht die Entwicklung und Anwendung neuer Technik durch und durch prekär. Wer in den Entwicklungslabors oder in den »Leitzentralen« (oder an den Steuerknüppeln der Jagdbomber) trägt wofür Verantwortung? Wofür, um bei meinem Beispiel zu bleiben, wäre Monsieur Guillotin zur Verantwortung zu ziehen? Wofür wäre er gar haftbar zu machen? Welche Nebenfolgen hätte er bedenken müssen, welche Handlungsfolgen hätte er vermeiden können?
Eine Antwort darauf ist alles andere als trivial – und muss dennoch dringend gesucht werden. Meine eigene Ratlosigkeit steigert sich sogar noch, wenn ich solche Fragen nicht an das 18. Jahrhundert, sondern an die Gegenwart richte. Gegen die moderne, industrielle, arbeitsteilige Technik nimmt sich doch sogar die Guillotine wie ein Unschuldslamm aus, jedenfalls was die Verschleierung von Verantwortlichkeiten angeht. Es gibt heute kaum noch Produkte, für die ein Einzelner allein verantwortlich zeichnete. Und es gibt kaum noch Einzelne, die auch nur ihren Spezialbereich vollständig zu überblicken imstande sind – geschweige denn die anderen Wirklichkeitsbereiche, in die eine etwa im Team entwickelte, technische Lösung hineinwirkt. Wie soll ich da das Spektrum der Wirkungsmöglichkeiten noch bedenken können?
Solche Komplexität macht die Sache mit der Verantwortung ungeheuer vertrackt. Sie ist deshalb keineswegs hoffnungslos. Zunächst einmal müsste jedoch die Erkenntnis reifen und greifen: Dass Aufrüstung der Sicherheit durch Abschreckung dient, ist weniger als die halbe Wahrheit – es ist vielmehr eine hochriskante Wette, bei der auch völlig uneinsichtig ist, wann und wie sie enden soll. Mehr und leistungsstärkere Waffen – »effektiver« und »sauberer«, so wie die Guillotine im Vergleich zum Strick oder zum Henkersbeil – erhöhen die Wahrscheinlichkeit ihrer Anwendung. Das gilt insbesondere, je weniger direkt die Gewaltausübung erfolgt. Aus großer Distanz zu töten und den Akt selbst allenfalls am Monitor mitzuverfolgen, erstickt jede humane Regung, ist das Ende der Humanität. Diesen schlichten Zusammenhang zu erkennen und Widerstand dagegen zu artikulieren, wäre ein erster Schritt, um dem »Geist der Maschine« standzuhalten und uns die Menschlichkeit zu bewahren.