Seit gut einem Monat ist wieder Krieg in Europa. Es ist nicht der erste nach dem Zweiten Weltkrieg, was derzeit gern vergessen wird. Es ist auch nicht der erste in der Welt, an dem die Nato und insbesondere Deutschland beteiligt sind. Aber bei keinem dieser Kriege wurde so schnell nach der Hilfe des Völkerrechts und seiner internationalen Gerichte gerufen.
Am schnellsten reagierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der schon am 1. März 2022 »vorläufige Maßnahmen« gegen Russland ergriff. Er sah in den Angriffen der russischen Armee die nachhaltige Gefahr für die Verletzung einer Reihe von Rechten der Zivilbevölkerung wie das Recht auf Leben (Art. 2 Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK), Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art. 3 EMRK) und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK). Er verlangte von der russischen Regierung die Einstellung aller Angriffe gegen Zivilisten und zivile Einrichtungen und besonders geschützte Objekte wie Wohngebäude, Schulen und Krankenhäuser.
Aber auch der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in der Zwischenzeit schon entschieden – gemessen an der durchschnittlichen Verfahrensdauer seiner Entscheidungen, in preiswürdiger Geschwindigkeit. Am 16. März ordnete er die unverzügliche Einstellung aller militärischen Operationen an. Dies gelte auch für die irregulären Einheiten, Organisationen und Personen, die von Russland geführt oder kontrolliert werden. Normalerweise ist der IGH dafür gar nicht zuständig, da es an der beiderseitigen Zustimmung für ein solches Verfahren fehlt. Aber die Juristen fanden für die Ukraine einen trickreichen Weg. Da die russische Regierung ihren Angriff mit dem angeblichen Völkermord der Ukraine in der Donbass-Region begründete, möge der IGH erkennen, dass dies nicht zutreffe. Das eröffnete den Rechtsweg, und die Juristen erreichten, was sie wollten – aber den Krieg konnten sie nicht stoppen.
Das wird auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nicht schaffen, der sich ebenfalls mit ungewohnter Geschwindigkeit der Verfolgung der Verantwortlichen dieses Krieges angenommen hat. Schon am 28. Februar hat der Chefankläger Karim Khan eine Untersuchung zur Situation in der Ukraine angekündigt. Hier geht es um die strafrechtliche Verantwortung für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord nach dem Römischen Statut des Internationalen Gerichtshofs von 1998. Seit Juli 2018 kann gem. Art. 8 nun auch die »Aggression«, d. h. der Angriffskrieg strafrechtlich verfolgt werden. Er war zwar auch schon in dem Nürnberger Strafkatalog von 1945 enthalten, stieß aber vor allem auf Bedenken Frankreichs, da eine rückwirkende Bestrafung für eine Handlung (Angriffskrieg), die bis dahin nicht strafbar gewesen war, den anerkannten Grundsätzen des Strafrechts widerspricht. Doch ein Strafverfahren kann allenfalls präventive Wirkungen entfalten als Warnung für die Zeit nach dem Krieg. Für einen unmittelbaren Stopp der Kampfhandlungen ist es nicht geeignet.
Kann aber das Völkerrecht überhaupt in seinem gegenwärtigen Zustand ein sinnvolles und geeignetes Instrument der Friedenstiftung zwischen Gegnern/Feinden sein? Seit den ersten Kriegen nach dem Untergang der Sowjetunion ist das Völkerrecht dem Gespött der Kriegsmächte ausgeliefert. Es dauerte 15 Jahre, bis der ehemalige Kriegsherr und damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Sender Phönix entspannt plauderte, dass die Bombardierung Jugoslawiens vor genau 23 Jahren am 24. Februar 1999 wohl völkerrechtswidrig gewesen sei. Wer erinnert sich noch an die Rechtfertigung, eine humanitäre Katastrophe und Völkermord verhindern zu wollen? Es gab dafür kein Mandat des UNO-Sicherheitsrats, den man bewusst umgangen hatte. Die Nato-Staaten konnten sich auch nicht auf die Selbstverteidigung des Art. 51 UNO Charta berufen, sie waren nicht angegriffen worden. Was ihnen blieb, waren Lügen zur Begründung einer zweifelhaften »humanitären Intervention«. Der drohende »Völkermord« musste den Krieg begründen, eine »Rechtfertigung«, die nun von Präsident Putin als Grund für seinen Einmarsch in die Ukraine dankbar aufgegriffen wurde. Nur hat sich die russische Regierung von diesem offensichtlich abwegigen Vorwurf schon wieder getrennt, während Bundeskanzler Scholz die damalige Lüge auch heute noch bedient.
Sechs weitere Jahre später, 2021, veröffentlichte die ehemalige Chefanklägerin Carla del Ponto ein autobiografisches Buch über ihre Zeit bei den Sondertribunalen zu Jugoslawien und Ruanda. Man merkt, wie es sie heute noch quält, dass ihr damals die notwendigen Dokumente und Beweismaterialien für ihre Untersuchungen möglicher Kriegsverbrechen der Nato verweigert wurden. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Untersuchungen einzustellen – das Tribunal wurde schließlich von den USA und der Nato finanziert. Auch ihr Versuch, nach erfolgreicher Anklage zahlreicher Hutu wegen schwerer Kriegsverbrechen nun auch Untersuchungen gegen Tutsi wegen ebenfalls begangener Verbrechen zu starten, scheiterte, ihr wurde aus den USA und Großbritannien bedeutet, dass dies nicht opportun sei. Das Mandat von Carla Del Ponte wurde nicht verlängert.
Weder in den Kriegen gegen Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003, noch Libyen 2011 oder Syrien 2014 wurde der Ruf nach dem Völkerrecht so laut und nachdrücklich wie jetzt. Und vor allem richtete er sich nicht gegen die Angreifer, sondern gegen die Opfer, ob berechtigt oder nicht: Milosevic, Saddam, Gaddafi, Assad. Drei sind tot, in der Haft verstorben, ohne Gerichtsverfahren exekutiert oder ermordet. Wie die Zukunft Assads aussehen wird, ist ungewiss. Auch ist ungewiss, ob Putin je vor ein internationales Strafgericht, wo er zweifellos hingehört, kommt. Die Untersuchungen, die der IStGH jetzt gegen Putin aufgenommen hat, werden auf jeden Fall nicht so enden, wie die Untersuchungen der vorletzten Chefanklägerin Fatou Bensouda gegen britische Soldaten wegen ihrer Gräueltaten im Gefängnis Abu Graib, Irak – alles schwere Menschenrechts- und Kriegsverbrechen. Sie stellte die Untersuchungen ein, da die Behörden des Vereinigten Königreiches alle notwendigen Verfolgungsmaßnahmen selbst vorgenommen hätten. Außerdem seien etliche Vorwürfe zu geringfügig. Sie überließ es also den britischen Gerichten, über britische Soldaten zu urteilen. Die Soldaten werden es ihr gedankt haben.
Für alle Fälle haben nun auch mit großer Medienresonanz die ehemaligen FDP-Abgeordneten Gerhard Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberg Strafanzeige gegen Putin bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe eingelegt. Sie listen eine Summe schwerer Kriegsverbrechen auf, die ständig erweitert wird. Ein Strafverfahren vor einem deutschen Gericht ist aufgrund des sogenannten Weltrechtsprinzips im deutschen Völkerstrafgesetzbuch möglich, sodass auch Straftaten ohne Bezug zu Deutschland verfolgt werden können. Ein kühnes Prinzip, das zu schweren diplomatischen Verwicklungen führen kann.
Was wäre z. B. geschehen, wenn die Anwaltschaft einer Strafanzeige der deutschen Teilnehmerinnen an der sog. Free Gaza Flottille im Mai 2010 stattgegeben hätte? Sie wollten die illegale israelische Seeblockade gegen Gaza mit humanitären Gütern für die eingeschlossene Bevölkerung durchbrechen. Sie wurden aber in internationalen Gewässern von der israelischen Armee aufgebracht, in den Hafen von Ashdod verschleppt und aller persönlichen Sachen beraubt, bis auf das, was sie am Leibe hatten, es gab sogar Tote. Ihre Anzeige »gegen Unbekannt« lautete auf Freiheitsberaubung, Nötigung, Diebstahl etc. Es dauerte vier Jahre, bis der Generalbundesanwalt die Klage der Entführten mit der Begründung abwies, die Armee habe sich keines Gesetzesverstoßes schuldig gemacht. Statt eines derart derben »Justizirrtums« hätte er sich eleganter mit der Formel von Fatou Bensouda aus der Affäre ziehen und das Verfahren den israelischen Gerichten überlassen können; sie hätten genauso entschieden.
Staatsanwaltschaften, ob international oder national, sind weisungsgebunden und politisch abhängig von denen, die sie eingerichtet haben und finanzieren. Sie gehören zwar zur Justiz, genießen aber nicht deren Unabhängigkeit. Es macht eben einen Unterschied aus, ob man Netanjahu oder Putin heißt. Baum und Leutheusser-Schnarrenberger sind nie mit einer Strafanzeige gegen Bush, Rumsfeld, Blair, Erdoğan oder gar Netanjahu auffällig geworden. Sie kennen den richtigen Verbrecher. Auch Strafgerichte sind die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
Vergessen sind die Worte des US-amerikanischen Anklägers Robert Jackson, die er am 21. November 1945 in Nürnberg sagte: »Denn wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher zu reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.« Worte aus einer fernen Welt.