Anlässlich seiner Wiederwahl wagte Bundespräsident Steinmeier die Behauptung: »Unsere Demokratie ist stark, weil sie getragen wird von ihren Bürgerinnen und Bürgern.« Nach 33 Jahren Tätigkeit als SPD-Bundestagsabgeordneter stellte dem Gert Weisskirchen schon vor Jahren eine andere Erfahrung entgegen: »In unserer Gesellschaft wird doch Demokratie nur noch vorgegaukelt und die gesellschaftliche Teilhabe auf den Meinungsaustausch von Eliten reduziert.« Stimmen die BürgerInnen dem Bundespräsidenten zu – oder doch eher dem Kritiker, der ein bitteres Fazit zieht? Wie stark ist das Vertrauen in den Staat und die real existierende Demokratie?
Kürzlich wurde berichtet, ein türkischer Landwirt spiele seinen Kühen im Stall – um die Milchproduktion zu erhöhen – Musik von Mozart oder Vogelgezwitscher vor und gaukele ihnen über Virtual-Reality-Brillen vor, auf saftigen Wiesen zu weiden. Es heißt, er habe Erfolg damit. Bei Menschen scheint es komplexere Auswirkungen zu haben, spielt man ihnen einen schönen Schein nur vor. Die Getäuschten verlieren das Vertrauen in den Staat und das System.
Ende letzten Jahres veröffentlichte die Körber-Stiftung die Ergebnisse einer Umfrage mit dem Titel »Demokratie in der Krise«. Danach hat nur noch die Hälfte der Befragten Vertrauen in die Demokratie, fast ein Drittel hingegen verneint das ausdrücklich. Der Vertrauensverlust mag sich in der Pandemie verstärkt haben, er wurde aber auch schon 2019, also vor Corona und den chaotischen Regierungsmaßnahmen, in einer großen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (»Vertrauen in die Demokratie«) festgestellt. Weniger als die Hälfte der Befragten gab damals an, mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden zu sein; in Ostdeutschland nur etwas mehr als ein Drittel. In den Umfragen sollten wohlgemerkt nicht Regierungspolitik und Parteien beurteilt werden, vielmehr wurde die Systemfrage gestellt.
Das schlechte Ansehen der Demokratie beruht auf Erfahrungen, die keineswegs virtuell sind. Die Tageszeitung BNN berichtete Ende 2021 über die Sorgen der Menschen. 85 Prozent nannten in einer Umfrage die wachsende soziale Kluft als größtes Problem, 80 Prozent fürchteten die schrumpfende Zahl bezahlbarer Wohnungen. Die Statistiken geben solchen Sorgen bekanntlich Nahrung genug. Als guter Indikator des Vertrauens in die Politik gilt auch die Zuversicht, die Kinder würden es mal besser haben. Besonders hier zeigen sich Ängste: Fast 80 Prozent der Eltern sind in Sorge, wenn sie an die Zukunft ihrer Kinder denken; Menschen auf dem Land sogar zu über 90 Prozent, berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland im letzten Oktober.
Demokratie zeichnet sich durch das Versprechen aus, Einfluss auf die Geschicke des Landes nehmen und wenn nötig, die Mandatsträger austauschen zu können. Auch hier scheint das Wahlvolk desillusioniert. Laut Ergebnissen der Körber-Stiftung meinen nur 39 Prozent, dass sich die Parteien in zentralen Fragen unterscheiden – im Jahr 2017 waren es noch 56 Prozent. Und auch die Medien können nicht auf Vertrauen bauen. Dass sie die Politik mit der nötigen Unabhängigkeit kontrollieren, wie es die Aufgabe einer freien Presse wäre, meinen gerade mal 35 Prozent der repräsentativ Befragten. Den einzigen Erfolg im Sinne der Machtelite verzeichnen Regierungsparteien und Presse nur beim Thema Bedrohung von außen. Hatten im Jahr 2018 noch 28 Prozent Russland und 15 Prozent China als Gefahr benannt, so ist die Zahl nach Angaben des »Centrums für Strategie und höhere Führung«, dem »führenden Dienstleister auf höchstem Niveau« für Aufsichtsräte und CEOs, auf 66 bzw. 60 Prozent in die Höhe geschnellt.
Grundlagen der Demokratie wie soziale Gerechtigkeit, Mitwirkung, sichere Daseinsvorsorge, Kontrolle der Macht scheinen zu erodieren. Alle erleben, dass die Gesellschaft entgegen den offiziellen Beteuerungen zutiefst gespalten ist und die hehren Werte Demokratie, Menschenwürde, sozialer Rechtsstaat sowie die Zusicherung »der Mensch steht im Mittelpunkt« zu hohlen Floskeln verkommen. Die Hälfte der Bundesbürger hat kein nennenswertes Vermögen. Dagegen besitzen die reichsten zehn Prozent mehr als zwei Drittel des Privatvermögens, das reichste Prozent noch 35 Prozent. Fast neun von zehn Befragten halten es laut Umfragen für notwendig, die Mittel und das Personal im Bereich Gesundheit und Pflege zu erhöhen – bekanntlich ohne Erfolg. Stattdessen grassieren Steuerflucht, gigantische Abzocke der Banken und horrende Profite der Digitalkonzerne in der Pandemie. Die Demokratie droht einem sanften Autoritarismus zu weichen, in dem die Machtelite darauf vertraut, durchregieren, das öffentliche Vermögen privatem Profitstreben ausliefern, politische Grundsatzentscheidungen dem Kapital überlassen zu können.
Ungerechtigkeit und Missachtung der existenziellen Bedürfnisse der Mehrheit, aber auch die Betätigung meinungsmachender Medien als Sprachrohr der Exekutive gehören zu den Alltagserfahrungen. Dies leistet dem Gefühl Vorschub, ausgenutzt zu werden und der maßlosen, auch kriminellen Bereicherung der Macht-elite ohnmächtig ausgesetzt zu sein: »Ich bin denen nichts wert. Bewirken kann ich nichts. Ich bin für die nur eine Figur, die sie ausnutzen und verachten.« Eine brisante Stimmung: Ist das die Ursache für den anschwellenden Hass, die Mails voll sadistischer Fantasien und Morddrohungen auf den milliardenfach genutzten Plattformen Facebook, Twitter oder Instagram, die grassierende Irrationalität und die wachsende faschistische Bedrohung?
Die enthemmte Dominanz wirtschaftlicher Interessen und die dadurch verursachte schleichende Veränderung aller Normen und Befindlichkeiten ist die neue Normalität. Die Menschen fühlen sich als Objekte einer totalitären Manipulation und Kontrolle. Sie haben nicht mehr die Kontrolle über ihr Leben, sind nicht mehr Souverän, sondern Kunde und Konsument. Ihnen wird die Würde abgesprochen und der Verlust auch noch als Freiheit verkauft.
Die US-Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff schreibt: »Der Wettbewerb um Überwachungserträge zielt auf unsere Körper, unsere Kinder, unsere Zuhause, unsere Städte und fordert so in einer gewaltigen Schlacht um Macht und Profit die menschliche Autonomie und demokratische Souveränität heraus. (…) Überwachungskapitalisten wissen alles über uns; ihre Aktivitäten sind jedoch so angelegt, dass sie für uns nicht erkennbar sind. (…) Dieser Konflikt führt zu einer psychischen Abstumpfung, die uns dickfellig macht gegenüber der Realität, getrackt, analysiert, ausgewertet und modifiziert zu werden.«
Die allgegenwärtige Manipulation durch gezielte Botschaften von Konzernen und Parteien, Geheimdiensten und Influencern, die quasi subkutan auf Gefühle und Unterbewusstsein zielen, zerstört das Vertrauen in die Institutionen, die angeblich für das Wohlergehen aller verantwortlich sind. Nicht Selbstbestimmung, Autonomie und Emanzipation ist das Ziel, sondern Manipulation für fremde Interessen. Auf diesem globalen Markt sind alle Mittel – Lügen, Angst, Sex, Feindbilder – erlaubt, die Sinne, Gedanken und Gefühle beeinflussen können. Alternativen? Die hat man den »Verbrauchern« erfolgreich ausgetrieben. Man arrangiert sich mit der verrückt machenden Realität.
In den vielerorts entstandenen Revolten gegen staatliche Maßnahmen in der Pandemie könnte man ein Ventil für die Anspannung durch Vertrauensverlust erkennen. Zwar sind Kritik und Gegenwehr gegen chaotisches Agieren der Exekutive berechtigt und nötig, zumal dieses Agieren die Gefahr in sich birgt, das Durchregieren in Krisenzeiten zum Prinzip zu machen. Denn ein Ausnahmezustand kann immer ausgerufen werden, sei es bei Finanzkrisen, wachsenden Flüchtlingszahlen oder ausgelöst durch Putin, der – so das westliche Narrativ – gefährlich nahe an die Nato-Staaten heranrückt. Bedenklich stimmt, dass sich der Kampf für Grund- und Menschenrechte an Themen wie Maskentragen, Einkaufsmöglichkeiten und Lokalbesuchen entzündet, aber selten aufgeflammt ist, wenn es um massive Verletzung von Menschenrechten auf Gesundheit und Wohnen oder um den sozialen Rechtsstaat ging – von den Themen Angriffskriege und Bekämpfung der Flüchtlinge ganz zu schweigen. Hier zeigt sich der Erfolg der neoliberalen Zwangserziehung, die darauf zielte, Demokratie mit individuellen Freiheiten gleichzusetzen, soziale Sicherheit zu einer persönlichen Aufgabe zu machen und Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu einer kommunistischen Ideologie zu stempeln.
Die kommende Gefahr erkennen wir, wenn wir die materiellen Grundlagen der Vertrauenskrise wie Profitmaximierung um jeden Preis und die soziale Kluft ebenso untersuchen wie die Ursachen kriegerischer Konflikte und die wachsende Stimmung voll Groll und Hass, die aus der Entwertung, Entmündigung und der Ohnmacht resultiert. Gegen offene Unterdrückung in autoritären Systemen können mutige Aktivisten kämpfen; wie kämpft man aber gegen Manipulation und Entwertung, die sich als Freiheit, Demokratie und Eintreten für Menschenrechte maskiert? Die Würde des Menschen ist antastbar; es gilt, sie wieder zu entdecken und entsprechend zu leben.