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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Virtuelle Demokratie

Anläss­lich sei­ner Wie­der­wahl wag­te Bun­des­prä­si­dent Stein­mei­er die Behaup­tung: »Unse­re Demo­kra­tie ist stark, weil sie getra­gen wird von ihren Bür­ge­rin­nen und Bür­gern.« Nach 33 Jah­ren Tätig­keit als SPD-Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter stell­te dem Gert Weiss­kir­chen schon vor Jah­ren eine ande­re Erfah­rung ent­ge­gen: »In unse­rer Gesell­schaft wird doch Demo­kra­tie nur noch vor­ge­gau­kelt und die gesell­schaft­li­che Teil­ha­be auf den Mei­nungs­aus­tausch von Eli­ten redu­ziert.« Stim­men die Bür­ge­rIn­nen dem Bun­des­prä­si­den­ten zu – oder doch eher dem Kri­ti­ker, der ein bit­te­res Fazit zieht? Wie stark ist das Ver­trau­en in den Staat und die real exi­stie­ren­de Demokratie?

Kürz­lich wur­de berich­tet, ein tür­ki­scher Land­wirt spie­le sei­nen Kühen im Stall – um die Milch­pro­duk­ti­on zu erhö­hen – Musik von Mozart oder Vogel­ge­zwit­scher vor und gau­ke­le ihnen über Vir­tu­al-Rea­li­ty-Bril­len vor, auf saf­ti­gen Wie­sen zu wei­den. Es heißt, er habe Erfolg damit. Bei Men­schen scheint es kom­ple­xe­re Aus­wir­kun­gen zu haben, spielt man ihnen einen schö­nen Schein nur vor. Die Getäusch­ten ver­lie­ren das Ver­trau­en in den Staat und das System.

Ende letz­ten Jah­res ver­öf­fent­lich­te die Kör­ber-Stif­tung die Ergeb­nis­se einer Umfra­ge mit dem Titel »Demo­kra­tie in der Kri­se«. Danach hat nur noch die Hälf­te der Befrag­ten Ver­trau­en in die Demo­kra­tie, fast ein Drit­tel hin­ge­gen ver­neint das aus­drück­lich. Der Ver­trau­ens­ver­lust mag sich in der Pan­de­mie ver­stärkt haben, er wur­de aber auch schon 2019, also vor Coro­na und den chao­ti­schen Regie­rungs­maß­nah­men, in einer gro­ßen Stu­die der Fried­rich-Ebert-Stif­tung (»Ver­trau­en in die Demo­kra­tie«) fest­ge­stellt. Weni­ger als die Hälf­te der Befrag­ten gab damals an, mit dem Funk­tio­nie­ren der Demo­kra­tie zufrie­den zu sein; in Ost­deutsch­land nur etwas mehr als ein Drit­tel. In den Umfra­gen soll­ten wohl­ge­merkt nicht Regie­rungs­po­li­tik und Par­tei­en beur­teilt wer­den, viel­mehr wur­de die System­fra­ge gestellt.

Das schlech­te Anse­hen der Demo­kra­tie beruht auf Erfah­run­gen, die kei­nes­wegs vir­tu­ell sind. Die Tages­zei­tung BNN berich­te­te Ende 2021 über die Sor­gen der Men­schen. 85 Pro­zent nann­ten in einer Umfra­ge die wach­sen­de sozia­le Kluft als größ­tes Pro­blem, 80 Pro­zent fürch­te­ten die schrump­fen­de Zahl bezahl­ba­rer Woh­nun­gen. Die Sta­ti­sti­ken geben sol­chen Sor­gen bekannt­lich Nah­rung genug. Als guter Indi­ka­tor des Ver­trau­ens in die Poli­tik gilt auch die Zuver­sicht, die Kin­der wür­den es mal bes­ser haben. Beson­ders hier zei­gen sich Äng­ste: Fast 80 Pro­zent der Eltern sind in Sor­ge, wenn sie an die Zukunft ihrer Kin­der den­ken; Men­schen auf dem Land sogar zu über 90 Pro­zent, berich­te­te das Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land im letz­ten Oktober.

Demo­kra­tie zeich­net sich durch das Ver­spre­chen aus, Ein­fluss auf die Geschicke des Lan­des neh­men und wenn nötig, die Man­dats­trä­ger aus­tau­schen zu kön­nen. Auch hier scheint das Wahl­volk des­il­lu­sio­niert. Laut Ergeb­nis­sen der Kör­ber-Stif­tung mei­nen nur 39 Pro­zent, dass sich die Par­tei­en in zen­tra­len Fra­gen unter­schei­den – im Jahr 2017 waren es noch 56 Pro­zent. Und auch die Medi­en kön­nen nicht auf Ver­trau­en bau­en. Dass sie die Poli­tik mit der nöti­gen Unab­hän­gig­keit kon­trol­lie­ren, wie es die Auf­ga­be einer frei­en Pres­se wäre, mei­nen gera­de mal 35 Pro­zent der reprä­sen­ta­tiv Befrag­ten. Den ein­zi­gen Erfolg im Sin­ne der Macht­eli­te ver­zeich­nen Regie­rungs­par­tei­en und Pres­se nur beim The­ma Bedro­hung von außen. Hat­ten im Jahr 2018 noch 28 Pro­zent Russ­land und 15 Pro­zent Chi­na als Gefahr benannt, so ist die Zahl nach Anga­ben des »Cen­trums für Stra­te­gie und höhe­re Füh­rung«, dem »füh­ren­den Dienst­lei­ster auf höch­stem Niveau« für Auf­sichts­rä­te und CEOs, auf 66 bzw. 60 Pro­zent in die Höhe geschnellt.

Grund­la­gen der Demo­kra­tie wie sozia­le Gerech­tig­keit, Mit­wir­kung, siche­re Daseins­vor­sor­ge, Kon­trol­le der Macht schei­nen zu ero­die­ren. Alle erle­ben, dass die Gesell­schaft ent­ge­gen den offi­zi­el­len Beteue­run­gen zutiefst gespal­ten ist und die heh­ren Wer­te Demo­kra­tie, Men­schen­wür­de, sozia­ler Rechts­staat sowie die Zusi­che­rung »der Mensch steht im Mit­tel­punkt« zu hoh­len Flos­keln ver­kom­men. Die Hälf­te der Bun­des­bür­ger hat kein nen­nens­wer­tes Ver­mö­gen. Dage­gen besit­zen die reich­sten zehn Pro­zent mehr als zwei Drit­tel des Pri­vat­ver­mö­gens, das reich­ste Pro­zent noch 35 Pro­zent. Fast neun von zehn Befrag­ten hal­ten es laut Umfra­gen für not­wen­dig, die Mit­tel und das Per­so­nal im Bereich Gesund­heit und Pfle­ge zu erhö­hen – bekannt­lich ohne Erfolg. Statt­des­sen gras­sie­ren Steu­er­flucht, gigan­ti­sche Abzocke der Ban­ken und hor­ren­de Pro­fi­te der Digi­tal­kon­zer­ne in der Pan­de­mie. Die Demo­kra­tie droht einem sanf­ten Auto­ri­ta­ris­mus zu wei­chen, in dem die Macht­eli­te dar­auf ver­traut, durch­re­gie­ren, das öffent­li­che Ver­mö­gen pri­va­tem Pro­fit­stre­ben aus­lie­fern, poli­ti­sche Grund­satz­ent­schei­dun­gen dem Kapi­tal über­las­sen zu können.

Unge­rech­tig­keit und Miss­ach­tung der exi­sten­zi­el­len Bedürf­nis­se der Mehr­heit, aber auch die Betä­ti­gung mei­nungs­ma­chen­der Medi­en als Sprach­rohr der Exe­ku­ti­ve gehö­ren zu den All­tags­er­fah­run­gen. Dies lei­stet dem Gefühl Vor­schub, aus­ge­nutzt zu wer­den und der maß­lo­sen, auch kri­mi­nel­len Berei­che­rung der Macht-eli­te ohn­mäch­tig aus­ge­setzt zu sein: »Ich bin denen nichts wert. Bewir­ken kann ich nichts. Ich bin für die nur eine Figur, die sie aus­nut­zen und ver­ach­ten.« Eine bri­san­te Stim­mung: Ist das die Ursa­che für den anschwel­len­den Hass, die Mails voll sadi­sti­scher Fan­ta­sien und Mord­dro­hun­gen auf den mil­li­ar­den­fach genutz­ten Platt­for­men Face­book, Twit­ter oder Insta­gram, die gras­sie­ren­de Irra­tio­na­li­tät und die wach­sen­de faschi­sti­sche Bedrohung?

Die ent­hemm­te Domi­nanz wirt­schaft­li­cher Inter­es­sen und die dadurch ver­ur­sach­te schlei­chen­de Ver­än­de­rung aller Nor­men und Befind­lich­kei­ten ist die neue Nor­ma­li­tät. Die Men­schen füh­len sich als Objek­te einer tota­li­tä­ren Mani­pu­la­ti­on und Kon­trol­le. Sie haben nicht mehr die Kon­trol­le über ihr Leben, sind nicht mehr Sou­ve­rän, son­dern Kun­de und Kon­su­ment. Ihnen wird die Wür­de abge­spro­chen und der Ver­lust auch noch als Frei­heit verkauft.

Die US-Wis­sen­schaft­le­rin Shosha­na Zuboff schreibt: »Der Wett­be­werb um Über­wa­chungs­er­trä­ge zielt auf unse­re Kör­per, unse­re Kin­der, unse­re Zuhau­se, unse­re Städ­te und for­dert so in einer gewal­ti­gen Schlacht um Macht und Pro­fit die mensch­li­che Auto­no­mie und demo­kra­ti­sche Sou­ve­rä­ni­tät her­aus. (…) Über­wa­chungs­ka­pi­ta­li­sten wis­sen alles über uns; ihre Akti­vi­tä­ten sind jedoch so ange­legt, dass sie für uns nicht erkenn­bar sind. (…) Die­ser Kon­flikt führt zu einer psy­chi­schen Abstump­fung, die uns dick­fel­lig macht gegen­über der Rea­li­tät, getrackt, ana­ly­siert, aus­ge­wer­tet und modi­fi­ziert zu werden.«

Die all­ge­gen­wär­ti­ge Mani­pu­la­ti­on durch geziel­te Bot­schaf­ten von Kon­zer­nen und Par­tei­en, Geheim­dien­sten und Influen­cern, die qua­si sub­ku­tan auf Gefüh­le und Unter­be­wusst­sein zie­len, zer­stört das Ver­trau­en in die Insti­tu­tio­nen, die angeb­lich für das Wohl­erge­hen aller ver­ant­wort­lich sind. Nicht Selbst­be­stim­mung, Auto­no­mie und Eman­zi­pa­ti­on ist das Ziel, son­dern Mani­pu­la­ti­on für frem­de Inter­es­sen. Auf die­sem glo­ba­len Markt sind alle Mit­tel – Lügen, Angst, Sex, Feind­bil­der – erlaubt, die Sin­ne, Gedan­ken und Gefüh­le beein­flus­sen kön­nen. Alter­na­ti­ven? Die hat man den »Ver­brau­chern« erfolg­reich aus­ge­trie­ben. Man arran­giert sich mit der ver­rückt machen­den Realität.

In den vie­ler­orts ent­stan­de­nen Revol­ten gegen staat­li­che Maß­nah­men in der Pan­de­mie könn­te man ein Ven­til für die Anspan­nung durch Ver­trau­ens­ver­lust erken­nen. Zwar sind Kri­tik und Gegen­wehr gegen chao­ti­sches Agie­ren der Exe­ku­ti­ve berech­tigt und nötig, zumal die­ses Agie­ren die Gefahr in sich birgt, das Durch­re­gie­ren in Kri­sen­zei­ten zum Prin­zip zu machen. Denn ein Aus­nah­me­zu­stand kann immer aus­ge­ru­fen wer­den, sei es bei Finanz­kri­sen, wach­sen­den Flücht­lings­zah­len oder aus­ge­löst durch Putin, der – so das west­li­che Nar­ra­tiv – gefähr­lich nahe an die Nato-Staa­ten her­an­rückt. Bedenk­lich stimmt, dass sich der Kampf für Grund- und Men­schen­rech­te an The­men wie Mas­ken­tra­gen, Ein­kaufs­mög­lich­kei­ten und Lokal­be­su­chen ent­zün­det, aber sel­ten auf­ge­flammt ist, wenn es um mas­si­ve Ver­let­zung von Men­schen­rech­ten auf Gesund­heit und Woh­nen oder um den sozia­len Rechts­staat ging – von den The­men Angriffs­krie­ge und Bekämp­fung der Flücht­lin­ge ganz zu schwei­gen. Hier zeigt sich der Erfolg der neo­li­be­ra­len Zwangs­er­zie­hung, die dar­auf ziel­te, Demo­kra­tie mit indi­vi­du­el­len Frei­hei­ten gleich­zu­set­zen, sozia­le Sicher­heit zu einer per­sön­li­chen Auf­ga­be zu machen und Soli­da­ri­tät und gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt zu einer kom­mu­ni­sti­schen Ideo­lo­gie zu stempeln.

Die kom­men­de Gefahr erken­nen wir, wenn wir die mate­ri­el­len Grund­la­gen der Ver­trau­ens­kri­se wie Pro­fit­ma­xi­mie­rung um jeden Preis und die sozia­le Kluft eben­so unter­su­chen wie die Ursa­chen krie­ge­ri­scher Kon­flik­te und die wach­sen­de Stim­mung voll Groll und Hass, die aus der Ent­wer­tung, Ent­mün­di­gung und der Ohn­macht resul­tiert. Gegen offe­ne Unter­drückung in auto­ri­tä­ren Syste­men kön­nen muti­ge Akti­vi­sten kämp­fen; wie kämpft man aber gegen Mani­pu­la­ti­on und Ent­wer­tung, die sich als Frei­heit, Demo­kra­tie und Ein­tre­ten für Men­schen­rech­te mas­kiert? Die Wür­de des Men­schen ist antast­bar; es gilt, sie wie­der zu ent­decken und ent­spre­chend zu leben.