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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Victor Klemperers LTI besorgniserregend aktuell

»Die Spra­che bringt es an den Tag«, schreibt Vic­tor Klem­pe­rer (1881 – 1960) im Abschnitt I. des Ban­des »LTI, Notiz­buch eines Phi­lo­lo­gen«. Jeder wird sagen: Das ist doch erst ein­mal eine ganz und gar beschau­li­che Aus­sa­ge. Aber – auf LTI bezo­gen – tritt die gan­ze Trag­wei­te des harm­lo­sen Sat­zes ins Blickfeld.

LTI, Lin­gua Ter­tii Impe­rii, das ist die Spra­che des »Drit­ten Reiches«.

Der vor 139 Jah­ren am 9. Okto­ber 1881 gebo­re­ne Klem­pe­rer schreibt in den drei­ßi­ger Jah­ren des zurück­lie­gen­den Jahr­hun­derts: »Ganz am Anfang, solan­ge ich noch kei­ne oder doch nur sehr gelin­de Ver­fol­gung erfuhr, woll­te ich so wenig als mög­lich von ihr hören. … Ich flüch­te­te, ich ver­grub mich in mei­nem Beruf, ich hielt mei­ne Vor­le­sun­gen und über­sah das Immer-lee­rer-Wer­den der Bän­ke vor mir …« (S. 17) Aber all­zu bald wur­de klar: Mit dem Ver­bot der Biblio­theks­be­nut­zung, mit dem Ent­zug des Lehr­stuhls, mit der Aus­trei­bung aus sei­nem Haus, aus Deutsch­land traf auch ihn die gan­ze Här­te der Juden­ver­fol­gung durch die Nazis.

».. als ein an mich sel­ber gerich­te­ter SOS-Ruf steht das Zei­chen LTI in mei­nem Tage­buch.« (S. 15) Vic­tor Klem­pe­rer hat sei­nen Lei­dens­weg, den Schreckens­weg der Juden im »Tau­send­jäh­ri­gen Reich« der Nazis in sei­nen Tage­bü­chern fest­ge­hal­ten. In die­sen Bän­den, die er über Ver­nich­tung, Krieg und Ver­trei­bung hat ret­ten kön­nen, ent­larvt er mit der detail­ge­treu­en Schil­de­rung der Unge­heu­er­lich­kei­ten des all­täg­lich Erleb­ten und Durch­lit­te­nen das Wesen der Nazi­herr­schaft. Das Auf­kom­men des Faschis­mus, sein Schritt für Schritt alle Lebens­be­rei­che erfas­sen­der Vor­marsch spie­gelt sich im Weg der Ver­ro­hung und Ent­mensch­li­chung der Spra­che. In »LTI« führt Klem­pe­rer minu­ti­ös vor Augen, wie die Nazis die deut­sche Spra­che, die Spra­che von Goe­the, Schil­ler und Hei­ne, miss­braucht haben zur gewis­sen­lo­sen Mani­pu­lie­rung der Mas­sen. Mit ihren Flos­keln und Sym­bo­len, mit ihren ideo­lo­gi­schen Phra­sen und Losun­gen, mit ihrem aggres­si­ven Feu­er­werk begriff­li­cher Ver­ein­fa­chun­gen und »volks­na­her« Wort­schöp­fun­gen haben die Nazis ein gan­zes Volk in die Irre geführt. Im Dien­ste der Herr­schafts­aus­übung haben sie die deut­sche Spra­che vergiftet:

Von Ein­topf und Win­ter­hil­fe über Volk und Gefolg­schaft, Her­ren­ras­se und Mas­se, natio­na­le Erhe­bung, Hel­den­tum, Hero­is­mus, Treue, Reich, Füh­rer und Volks­ge­nos­se, aber auch bis hin zu Volks­emp­fän­ger, Volks­wa­gen, Bom­ben­wet­ter und all den ande­ren von den Nazis mit Beschlag beleg­ten Begrif­fen und Ter­mi­ni – sie alle sind mit »neu­em Inhalt« aus­ge­füllt wor­den. Bis hin zu: Volks­schäd­lin­gen, Volks­ver­rä­tern, Juden­schwei­nen, Sip­pen­haft, Ver­gel­tungs­waf­fen, End­lö­sung, tota­ler Krieg, End­sieg und so weiter.

Klem­pe­rer beweist bis ins Ein­zel­ne: Spra­che war den Nazis Instru­ment zur Ver­füh­rung, zum Gefü­gig­ma­chen der Men­schen für die Aus­übung von Gewalt und Ver­bre­chen, bis hin zum Völ­ker­mord. Die Pro­pa­gan­daspra­che der Nazi-Par­tei, der NSDAP, wur­de nach der Macht­über­nah­me zur Spra­che der Herr­schen­den, zur Herr­schafts­spra­che. Und die Nazis unter­nah­men alles Erdenk­li­che, ihre Herr­schafts­spra­che auch zur All­tags­spra­che der Mas­sen zu machen. Klem­pe­rer führt ein­drucks­voll vor Augen, dass die Hit­ler & Co dabei erschreckend viel erreicht haben!

»Kei­ner war ein Nazi, aber ver­gif­tet waren sie alle.« (S. 105) Wer sich der Nazispra­che ver­wei­ger­te, wer »den Füh­rer, die Sym­bo­le und die Ein­rich­tun­gen des Drit­ten Rei­ches belei­digt«, wur­de ver­folgt und gna­den­los bestraft. (S. 285)

Bei der Maß­re­ge­lung und Ver­nich­tung des jüdi­schen Vol­kes und Anders­den­ken­der berie­fen sich die Nazis auf das »gesun­de Rechts­emp­fin­den des Vol­kes«, auf »die kochen­de Volks­see­le«. Und das »Heim ins Reich!« – das war die Losung, mit der die Nazis gan­ze Völ­ker­schaf­ten der von ihnen erober­ten Nach­bar­län­der betö­ren wollten.

Dia­bo­lisch hat­te Goeb­bels 1934 ver­kün­det: »Wir müs­sen die Spra­che spre­chen, die das Volk ver­steht. Wer zum Vol­ke reden will, muß, wie Mar­tin Luther sagt, dem Volk aufs Maul sehen.« So haben Hit­ler, Göring und Goeb­bels vor der Macht­über­nah­me eine heuch­le­ri­sche Frie­dens­re­de nach der ande­ren gehal­ten. Bis dann nach Sta­lin­grad und den ande­ren ver­lo­re­nen Schlach­ten gesun­gen wur­de: »… Wir wer­den wei­ter mar­schie­ren, wenn alles in Scher­ben fällt. Die Frei­heit stand auf in Deutsch­land, und mor­gen gehört ihr die Welt!« (S. 248) Bis alles zusam­men­brach und das »Tau­send­jäh­ri­ge Reich« in Schutt und Asche ver­sun­ken war. Auf die Nazi-Welt­herr­schafts- und Sie­ger­spra­che folg­te das gro­ße erschüt­tern­de Schwei­gen der Täter – wie auch der Opfer. Das Nicht-Reden über Anti­se­mi­tis­mus, Völ­ker­mord, Ver­trei­bung und Schuld.

Vic­tor Klem­pe­rer hat dann bald nach dem Unter­gang des faschi­sti­schen Staa­tes, nach dem Ende der Nazi­herr­schaft befrem­det kon­sta­tiert, dass trotz eini­ger Akti­vi­tä­ten zur Ent­na­zi­fi­zie­rung in der Spra­che der deut­schen Bun­des­re­pu­blik Ele­men­te der Nazispra­che wei­ter ver­wen­det wor­den sind. Dass in Reden maß­ge­ben­der Poli­ti­ker und auch in der All­tags­spra­che der Bevöl­ke­rung Begrif­fe und Ter­mi­ni auf­tauch­ten, die als Relik­te »wei­ter­ge­lebt« haben. Dass hier ganz ein­deu­tig bestimm­te Kon­ti­nui­tä­ten zu beob­ach­ten sind. Das haben auch ande­re For­scher bestä­tigt, so Mat­thi­as Hei­ne, Dolf Stern­ber­ger oder Klaus Bochmann.

Und heu­te kommt man nicht umhin fest­zu­stel­len: Vic­tor Klem­pe­rers LTI ist besorg­nis­er­re­gend aktu­ell. Die Spra­che der Rechts­extre­mi­sten von heu­te knüpft in vie­len Punk­ten ganz unver­hoh­len an die Nazispra­che an.

Alex­an­der Gau­land, Vor­sit­zen­der der Bun­des­tags­frak­ti­on und Ehren­vor­sit­zen­der der AfD, hat­te sich bekannt­lich ange­maßt, Hit­lers »Tau­send­jäh­ri­ges Reich« als »nur ein Vogel­schiss in über 1000 Jah­ren erfolg­rei­cher deut­scher Geschich­te« zu ver­nied­li­chen. (Juni 2018 – welt.de/politik/deutschland/article 176912600/AfD-Chef…) Björn Höcke, Frak­ti­ons­vor­sit­zen­der der AfD im Thü­rin­ger Land­tag, bezeich­ne­te das Ber­li­ner Holo­caust­mahn­mal als ein Denk­mal der Schan­de (Janu­ar 2017 – welt.de/politik/deutschland/article 161286915/­was-Hoecke-…). Ali­ce Wei­del, zusam­men mit Alex­an­der Gau­land Vor­sit­zen­de der AfD-Bun­des­tags­frak­ti­on, sag­te im Bun­des­tag im Mai 2018: »Bur­kas, Kopf­tuch­mäd­chen, ali­men­tier­te Mes­ser­män­ner und son­sti­ge Tau­ge­nicht­se wer­den unse­ren Wohl­stand, das Wirt­schafts­wachs­tum und vor allem den Sozi­al­staat nicht sichern.« (Deut­scher Bun­des­tag, 19. Wahl­pe­ri­ode, Pro­to­koll 32. Sit­zung, S. 2972) Gott­fried Curio, Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter der AfD, ließ in der Aktu­el­len Stun­de »Kei­ne Tole­ranz für die Fein­de der Demo­kra­tie« im Bun­des­tag im Sep­tem­ber 2020 zur Beset­zung des Por­tals des Reichs­tags­ge­bäu­des mit schwarz-weiß-roten Reichs­flag­gen bei der Coro­na­de­mon­stra­ti­on in Ber­lin ver­lau­ten: »Absper­run­gen zu durch­bre­chen ist natür­lich inak­zep­ta­bel, aber nicht min­der, das zum Putsch von Extre­mi­sten hoch­zu­sti­li­sie­ren […] Die­se Men­schen, die Sie als rechts­extrem dif­fa­mie­ren, die wol­len nur ihr Leben zurück. Die­se Fah­ne gibt näm­lich nichts her, Schwarz-Weiß-Rot ist nicht mal eine Ord­nungs­wid­rig­keit. 2010 stür­men Hun­der­te Atom­kraft­geg­ner die Reichs­tags­trep­pe – die Poli­zei lässt sie gewäh­ren […] Die­ses Belü­gen der Bevöl­ke­rung muss ein Ende haben! Der ›Sturm auf den Reichs­tag‹ war nur ein Sturm im Was­ser­glas. Aber es gibt eine siche­re Metho­de, den Rechts­staat zu zer­stö­ren: die all­täg­li­che Stra­ßen­ge­walt gegen Recht und Ord­nung zu baga­tel­li­sie­ren. Da wird die Ord­nungs­macht des Staa­tes bekämpft: in Stutt­gart, Frank­furt, Leip­zig […].« (Deut­scher Bun­des­tag, 19. Wahl­pe­ri­ode, Pro­to­koll 173. Sit­zung, S. 21688) Bea­trix von Storch, Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te der AfD, sag­te am glei­chen Tag im Bun­des­tag: »Kom­mu­ni­sten sind rot­lackier­te Faschi­sten. Ja, die­se Auto­no­men sind Faschi­sten […] Deutsch­land und Sach­sen brau­chen einen Poli­tik­wech­sel und schei­tern nicht an uns. Wenn die AfD an die Regie­rung kommt, wer­den wir den links­extre­men Sumpf trocken­le­gen. Das machen wir in den ersten 100 Tagen.« (Ebd., S. 21696) Ähn­lich Mar­kus Frohn­mai­er, Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter der AfD, wäh­rend einer Demon­stra­ti­on in Erfurt im Okto­ber 2015: »Wenn wir kom­men, dann wird auf­ge­räumt, dann wird aus­ge­mi­stet, dann wird wie­der Poli­tik für das Volk und nur für das Volk gemacht – denn wir sind das Volk, lie­be Freun­de.« (zitiert nach: https://www.youtube.com/watch?v=6znCu1VMr5Q)

Was ist das ande­res als schlicht und ein­fach Wie­der­auf­le­ben faschi­sti­schen Gedan­ken­guts in Deutsch­land? In dem Land, von dem bereits zwei völ­ker­mor­den­de Welt­krie­ge aus­ge­gan­gen sind! Davor kann und darf nie­mand Augen und Ohren ver­schlie­ßen. Nie­mand soll­te ver­harm­lo­send sagen: »Ach, die AfD hat sicher bald abge­wirt­schaf­tet!« Nie­mand kann sagen, er habe nichts gewusst!

Soweit nicht anders ver­merkt, bezie­hen sich die Sei­ten­an­ga­ben im Text auf: Vic­tor Klem­pe­rer: »LTI, Notiz­buch eines Phi­lo­lo­gen«, Auf­bau-Ver­lag, Ber­lin 1949.