»Die Sprache bringt es an den Tag«, schreibt Victor Klemperer (1881 – 1960) im Abschnitt I. des Bandes »LTI, Notizbuch eines Philologen«. Jeder wird sagen: Das ist doch erst einmal eine ganz und gar beschauliche Aussage. Aber – auf LTI bezogen – tritt die ganze Tragweite des harmlosen Satzes ins Blickfeld.
LTI, Lingua Tertii Imperii, das ist die Sprache des »Dritten Reiches«.
Der vor 139 Jahren am 9. Oktober 1881 geborene Klemperer schreibt in den dreißiger Jahren des zurückliegenden Jahrhunderts: »Ganz am Anfang, solange ich noch keine oder doch nur sehr gelinde Verfolgung erfuhr, wollte ich so wenig als möglich von ihr hören. … Ich flüchtete, ich vergrub mich in meinem Beruf, ich hielt meine Vorlesungen und übersah das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir …« (S. 17) Aber allzu bald wurde klar: Mit dem Verbot der Bibliotheksbenutzung, mit dem Entzug des Lehrstuhls, mit der Austreibung aus seinem Haus, aus Deutschland traf auch ihn die ganze Härte der Judenverfolgung durch die Nazis.
».. als ein an mich selber gerichteter SOS-Ruf steht das Zeichen LTI in meinem Tagebuch.« (S. 15) Victor Klemperer hat seinen Leidensweg, den Schreckensweg der Juden im »Tausendjährigen Reich« der Nazis in seinen Tagebüchern festgehalten. In diesen Bänden, die er über Vernichtung, Krieg und Vertreibung hat retten können, entlarvt er mit der detailgetreuen Schilderung der Ungeheuerlichkeiten des alltäglich Erlebten und Durchlittenen das Wesen der Naziherrschaft. Das Aufkommen des Faschismus, sein Schritt für Schritt alle Lebensbereiche erfassender Vormarsch spiegelt sich im Weg der Verrohung und Entmenschlichung der Sprache. In »LTI« führt Klemperer minutiös vor Augen, wie die Nazis die deutsche Sprache, die Sprache von Goethe, Schiller und Heine, missbraucht haben zur gewissenlosen Manipulierung der Massen. Mit ihren Floskeln und Symbolen, mit ihren ideologischen Phrasen und Losungen, mit ihrem aggressiven Feuerwerk begrifflicher Vereinfachungen und »volksnaher« Wortschöpfungen haben die Nazis ein ganzes Volk in die Irre geführt. Im Dienste der Herrschaftsausübung haben sie die deutsche Sprache vergiftet:
Von Eintopf und Winterhilfe über Volk und Gefolgschaft, Herrenrasse und Masse, nationale Erhebung, Heldentum, Heroismus, Treue, Reich, Führer und Volksgenosse, aber auch bis hin zu Volksempfänger, Volkswagen, Bombenwetter und all den anderen von den Nazis mit Beschlag belegten Begriffen und Termini – sie alle sind mit »neuem Inhalt« ausgefüllt worden. Bis hin zu: Volksschädlingen, Volksverrätern, Judenschweinen, Sippenhaft, Vergeltungswaffen, Endlösung, totaler Krieg, Endsieg und so weiter.
Klemperer beweist bis ins Einzelne: Sprache war den Nazis Instrument zur Verführung, zum Gefügigmachen der Menschen für die Ausübung von Gewalt und Verbrechen, bis hin zum Völkermord. Die Propagandasprache der Nazi-Partei, der NSDAP, wurde nach der Machtübernahme zur Sprache der Herrschenden, zur Herrschaftssprache. Und die Nazis unternahmen alles Erdenkliche, ihre Herrschaftssprache auch zur Alltagssprache der Massen zu machen. Klemperer führt eindrucksvoll vor Augen, dass die Hitler & Co dabei erschreckend viel erreicht haben!
»Keiner war ein Nazi, aber vergiftet waren sie alle.« (S. 105) Wer sich der Nazisprache verweigerte, wer »den Führer, die Symbole und die Einrichtungen des Dritten Reiches beleidigt«, wurde verfolgt und gnadenlos bestraft. (S. 285)
Bei der Maßregelung und Vernichtung des jüdischen Volkes und Andersdenkender beriefen sich die Nazis auf das »gesunde Rechtsempfinden des Volkes«, auf »die kochende Volksseele«. Und das »Heim ins Reich!« – das war die Losung, mit der die Nazis ganze Völkerschaften der von ihnen eroberten Nachbarländer betören wollten.
Diabolisch hatte Goebbels 1934 verkündet: »Wir müssen die Sprache sprechen, die das Volk versteht. Wer zum Volke reden will, muß, wie Martin Luther sagt, dem Volk aufs Maul sehen.« So haben Hitler, Göring und Goebbels vor der Machtübernahme eine heuchlerische Friedensrede nach der anderen gehalten. Bis dann nach Stalingrad und den anderen verlorenen Schlachten gesungen wurde: »… Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt. Die Freiheit stand auf in Deutschland, und morgen gehört ihr die Welt!« (S. 248) Bis alles zusammenbrach und das »Tausendjährige Reich« in Schutt und Asche versunken war. Auf die Nazi-Weltherrschafts- und Siegersprache folgte das große erschütternde Schweigen der Täter – wie auch der Opfer. Das Nicht-Reden über Antisemitismus, Völkermord, Vertreibung und Schuld.
Victor Klemperer hat dann bald nach dem Untergang des faschistischen Staates, nach dem Ende der Naziherrschaft befremdet konstatiert, dass trotz einiger Aktivitäten zur Entnazifizierung in der Sprache der deutschen Bundesrepublik Elemente der Nazisprache weiter verwendet worden sind. Dass in Reden maßgebender Politiker und auch in der Alltagssprache der Bevölkerung Begriffe und Termini auftauchten, die als Relikte »weitergelebt« haben. Dass hier ganz eindeutig bestimmte Kontinuitäten zu beobachten sind. Das haben auch andere Forscher bestätigt, so Matthias Heine, Dolf Sternberger oder Klaus Bochmann.
Und heute kommt man nicht umhin festzustellen: Victor Klemperers LTI ist besorgniserregend aktuell. Die Sprache der Rechtsextremisten von heute knüpft in vielen Punkten ganz unverhohlen an die Nazisprache an.
Alexander Gauland, Vorsitzender der Bundestagsfraktion und Ehrenvorsitzender der AfD, hatte sich bekanntlich angemaßt, Hitlers »Tausendjähriges Reich« als »nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte« zu verniedlichen. (Juni 2018 – welt.de/politik/deutschland/article 176912600/AfD-Chef…) Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD im Thüringer Landtag, bezeichnete das Berliner Holocaustmahnmal als ein Denkmal der Schande (Januar 2017 – welt.de/politik/deutschland/article 161286915/was-Hoecke-…). Alice Weidel, zusammen mit Alexander Gauland Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, sagte im Bundestag im Mai 2018: »Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.« (Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Protokoll 32. Sitzung, S. 2972) Gottfried Curio, Bundestagsabgeordneter der AfD, ließ in der Aktuellen Stunde »Keine Toleranz für die Feinde der Demokratie« im Bundestag im September 2020 zur Besetzung des Portals des Reichstagsgebäudes mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen bei der Coronademonstration in Berlin verlauten: »Absperrungen zu durchbrechen ist natürlich inakzeptabel, aber nicht minder, das zum Putsch von Extremisten hochzustilisieren […] Diese Menschen, die Sie als rechtsextrem diffamieren, die wollen nur ihr Leben zurück. Diese Fahne gibt nämlich nichts her, Schwarz-Weiß-Rot ist nicht mal eine Ordnungswidrigkeit. 2010 stürmen Hunderte Atomkraftgegner die Reichstagstreppe – die Polizei lässt sie gewähren […] Dieses Belügen der Bevölkerung muss ein Ende haben! Der ›Sturm auf den Reichstag‹ war nur ein Sturm im Wasserglas. Aber es gibt eine sichere Methode, den Rechtsstaat zu zerstören: die alltägliche Straßengewalt gegen Recht und Ordnung zu bagatellisieren. Da wird die Ordnungsmacht des Staates bekämpft: in Stuttgart, Frankfurt, Leipzig […].« (Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Protokoll 173. Sitzung, S. 21688) Beatrix von Storch, Bundestagsabgeordnete der AfD, sagte am gleichen Tag im Bundestag: »Kommunisten sind rotlackierte Faschisten. Ja, diese Autonomen sind Faschisten […] Deutschland und Sachsen brauchen einen Politikwechsel und scheitern nicht an uns. Wenn die AfD an die Regierung kommt, werden wir den linksextremen Sumpf trockenlegen. Das machen wir in den ersten 100 Tagen.« (Ebd., S. 21696) Ähnlich Markus Frohnmaier, Bundestagsabgeordneter der AfD, während einer Demonstration in Erfurt im Oktober 2015: »Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht – denn wir sind das Volk, liebe Freunde.« (zitiert nach: https://www.youtube.com/watch?v=6znCu1VMr5Q)
Was ist das anderes als schlicht und einfach Wiederaufleben faschistischen Gedankenguts in Deutschland? In dem Land, von dem bereits zwei völkermordende Weltkriege ausgegangen sind! Davor kann und darf niemand Augen und Ohren verschließen. Niemand sollte verharmlosend sagen: »Ach, die AfD hat sicher bald abgewirtschaftet!« Niemand kann sagen, er habe nichts gewusst!
Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich die Seitenangaben im Text auf: Victor Klemperer: »LTI, Notizbuch eines Philologen«, Aufbau-Verlag, Berlin 1949.