Wie ist es zu erklären, dass die beiden prominentesten Romanisten der DDR der 1950er Jahre, Victor Klemperer und Werner Krauss, die beide – in unterschiedlicher Weise – schwer im Faschismus gelitten hatte, miteinander so heftig in Konflikt geraten sind, dass die Staatsgewalt sich zum Eingreifen veranlasst sah?
Es gibt eine ganze Reihe von Antworten auf diese Frage: Da ist zunächst der Generationenunterschied (Klemperer Jg. 1881, Krauss Jg. 1900), dann aber vor allem die Ausgangssituation im Faschismus: Für Klemperer verengte sich die berufliche und private Welt radikal: vom Universitätskatheder ins »Judenhaus«, unter der ständigen Gefahr, deportiert und vernichtet zu werden. Krauss, schon in den 1920er Jahren ein Linker, konnte seine Universitätskarriere bis in die 1940er Jahre fortsetzen, sogar mit befremdlichen Versuchen der Tarnung, die äußerlich wie Anpassung wirken mussten. Dann aber entschied er sich zur Teilnahme am Widerstand (im Rahmen der weitverzweigten Organisation, die die Nazis als »Rote Kapelle« bezeichneten). Er wurde zum Tode verurteilt, überlebte aber die Todeszellen.
In der DDR galt Klemperer als »Opfer des Faschismus«, Krauss als »Kämpfer gegen den Faschismus«. Diese Bezeichnungen waren mit einem unterschiedlichen Status in der DDR-Gesellschaft verbunden. Bei der Befreiung vom Faschismus war Klemperer fast schon im Rentenalter und hatte das verständliche, fast schon verzweifelte Bestreben, in seiner Universitätskarriere nachzuholen, was ihm nach der Entlassung durch die Nazis versagt worden war. Krauss stand am Beginn einer neuen Karriere in der DDR, nachdem er die Westzonen verlassen hatte. Klemperer sah sich als bürgerlichen Wissenschaftler, schloss sich aber der KPD an, weil er von der SBZ/DDR erwartete, vor dem Faschismus geschützt zu sein. Krauss war mit seiner Vita von vornherein willkommen, wenn sich auch zeigen sollte, dass sein Verständnis von Sozialismus nicht immer mit dem in der DDR herrschenden in Übereinklang stand und er sich zeitweise zu einer gewissen Anpassung gezwungen sah (einige seiner Schüler wurden sogar inhaftiert). Das Ergebnis: Klemperer fühlte sich Krauss wissenschaftlich und ideologisch unterlegen und sah ihn als Konkurrenten. Krauss‘ Selbstsicherheit irritierte ihn. So spitzte sich die Auseinandersetzung, letztlich von beiden Seiten, zu.
Nach dem Erscheinen meines Buches »Eine lebenslange Rivalität?« (s. u.), in dem ich dieser Thematik nachgegangen bin, möchte ich mich hier einer speziellen Frage widmen, die von einer mir auffällig erscheinenden Beobachtung ausgeht: Hinsichtlich des Verhältnisses Klemperers zu Krauss fiel mir nämlich auf, dass er in seinen Tagebüchern Krauss’ Namen auffällig häufig falsch (»Kraus« oder »Krauß«) schreibt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Klemperers Bänden »So sitze ich denn zwischen allen Stühlen« und »Tagebücher 1950-1959« (1999) kaum ein Name außerhalb des Familienkreises Klemperers so häufig genannt wird wie dieser (er taucht bis zu fünf Mal auf einer Seite auf).
Wie ist diese Auffälligkeit zu deuten? Grundlage für meine Hypothese ist – natürlich? – Freuds Lehre von den Fehlleistungen der Psyche, wie er sie im I. Teil der »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1916-17) dargelegt hat. Darin geht er der Frage nach, ob Versehen beim Schreiben oder Lesen oder Hörfehler nur auf Flüchtigkeit zurückgeführt werden oder als Ausdruck psychischer Mechanismen interpretiert werden können bzw. müssen.
Die genannten beiden Tagebuchbände umfassen 713 S. bzw. 753 Seiten Text. Im ersten Band (1945-9) wird Krauss’ Name an 31 Stellen korrekt genannt, 4-mal schreibt Klemperer »Kraus«, ebenso oft »Krauß«. Dieser Befund ist unauffällig. Diese Unauffälligkeit in diesen Jahren entspricht sowohl der Situation der gerade aufgenommenen Beziehungen der beiden Gelehrten als auch deren entspanntem Verhältnis: Ja, Victor Klemperer (Jg. 1881) geht – bildlich gesprochen – auf den jüngeren Kollegen Werner Krauss (Jg. 1900) zu, der aber im Gegensatz zu ihm noch bis in die 1940er Jahre hatte forschen können und der ihm auch, z. B. bei der Beschaffung von Literatur, behilflich war, ein Bedarf, der sich für Klemperer immer wieder ergab, da er ab 1933 schrittweise völlig aus dem universitären Bereich verdrängt worden war.
Anders verhält es sich mit den Zahlenverhältnissen im zweiten Band: Während die korrekte Schreibung hier nicht einmal 4-mal so oft wie im ersten Band auftaucht (118-mal), kommen die Verschreibungen »Kraus« (33-mal) bzw. »Krauss« (9-mal) jedoch mehr als 5-mal so oft vor. D. h.: Der Quotient der Fehlschreibungen des Namens »Krauss« steigt von 0.258 im ersten Band auf 0.356 im zweiten Band. Dieser Anstieg ist signifikant, da man annehmen kann, dass der Name seines Kollegen – den er inzwischen auch als Konkurrenten wahrnahm – ihm vertraut gewesen sein muss.
Bis zu diesem Zeitpunkt gesteht Klemperer in seinem Tagebuch immer wieder seine negativen Gefühle Krauss gegenüber. Hierfür nur einige prägnante Beispiele: Klemperer berichtet von einem Traum, in dem er eine Straßenbahn erreichen will und Hoffnung schöpft, dass es ihm noch gelingen wird, weil diese gerade eine Frau überfahren hat und daher ihre Fahrt zunächst nicht fortsetzen kann; trotzdem erreicht Klemperer die Straßenbahn nicht (7.4.1951). Es ist eindrucksvoll, mit welcher Ehrlichkeit er diesen Traum interpretiert. Er beginnt mit den Worten: »Im Aufwachen sagte ich mir sofort: Das allegorisiert mein Verhalten Krauss gegenüber.«
Am 2.12.1951 zitiert er Werfels »Roman der Oper«, der von der Rivalität zwischen Verdi und Richard Wagner handelt, wobei er sich in der Rolle Verdis sieht, der sich von Wagners Modernität überholt sieht, diesen jedoch um viele Jahre überlebt. Und schließlich (19.6.1953) bezeichnet er Krauss als »die Leiche auf meinem Rücken«. Es handelt sich hier um eine Anspielung auf Vergils »Aeneis« (Buch 8, Verse 485-488): Der Dichter veranschaulicht hier die angebliche Grausamkeit des Etruskers Mezentius, eines Gegners des Aeneas, der Lebenden einen Toten aufband, damit das Leichengift diese langsam töte.
Bezeichnend ist, dass Klemperer Krauss’ Namen vom 2.10.1954 zum letzten Mal korrekt schreibt. Die Stelle lautet: »Klassensitzung der Akademie [wo Krauss sein neues Betätigungsfeld gefunden hatte. – L. Z.]. Krauss blühend gesund anwesend. Aus dem verlesenen Protokoll erfuhr ich, wie er mich überspielt hat. Da es Parteiarbeit ist, die er leistet, u. da sie an die hist.-philosoph. Klasse [der Klemperer nicht angehörte. – L. Z.] geschlossen wird, kann ich nichts machen.«
Von hier an schreibt Klemperer Krauss’ Namen, den er außerdem nur noch selten nennt, ausschließlich falsch. Am 25.2.1955 vermerkt Klemperer mit merklicher Empörung über den früher immer kränkelnden »Kraus«: »in strahlender Gesundheit, Agilität, Heiterkeit anwesend.« Am 23.6.1957 erwähnt er Querelen zwischen verschiedenen Wissenschaftlern in der DDR. Dazu sein Kommentar: »Es gibt also Feindschaft [sic!] nicht nur zwischen Kraus u. Klemperer.«
Den Abschluss bildet – schwankend zwischen Versöhnlichkeit und Nicht-Vergessen-Können – die letzte Erwähnung des Rivalen: »Endlich noch ein Brief an Krauß, der plötzlich ›mit herzl. Gruß u. Wünschen‹ für meine Gesundheit etwas (…) für eine Neuauflage seiner ›Grundpositionen der Aufklärung‹ haben möchte! (…) Ich hielt mein Schreiben in abgezirkelt gleicher u. gleich EHRLICHer Herzlichkeit. – Minuit (Mitternacht).«
Victor Klemperer starb am 11.2.1960. Werner Krauss lebte noch bis zum 28.8.1976. Klemperer wurde 78, Krauss 76 Jahre alt.
Lothar Zieske: Eine lebenslange Rivalität. Zum Verhältnis der Romanisten Victor Klemperer und Werner Krauss, Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2022, 211 S., 17.90 €.