Unglücklich das Land, das Whistleblower nötig hat, könnte man mit Brechts Galilei ausrufen. Besonders Staaten, die als Demokratie der Legitimation durch Wahlen bedürfen, verheimlichen gern Aktionen, die gegen den Mehrheitswillen des Souveräns verstoßen. Und Menschen, die solche Geheimnisse offenbaren, leben gefährlich: Oft werden sie verfolgt, ihrer bürgerlichen Existenz beraubt oder gar mit dem Tode bedroht. Denn sie gefährden die »nationale Sicherheit«, zumindest verletzen sie aber das »Staatswohl« oder die »Staatsräson«. Sind also womöglich die Interessen eines solchen abgehobenen Staates nicht identisch mit denen des Volkes, von dem doch alle Staatsgewalt ausgehen soll?
Vor genau 90 Jahren, im November 1931, wurde gegen die Wochenzeitschrift Weltbühne, ihren Herausgeber Carl von Ossietzky und den Journalisten Walter Kreiser Anklage erhoben. Beschuldigung: Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse. Der Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt: »Für das Wohl des Reiches« war Geheimhaltung geboten. Die junge Welt zitiert Ossietzky (25.11.2021): »Wir waren verschworen für die Grundsätze der Verfassung der Republik (…). Wir betrachteten die Demokratie nicht als Vorwand, wir meinten sie.«
Bekannt sind besondere Fälle von Whistleblowing also schon lang. Als der Techniker in der Nuklearanlage Dimona, Mordechai Vanunu, im Ausland Informationen über das geheime israelische Atomprogramm veröffentlicht hatte, wurde er vom Geheimdienst Mossad aus Rom nach Israel entführt. In einem Geheimprozess wurde er wegen Landesverrats zu 18 Jahren Haft verurteilt, von denen er elf in Isolation verbringen musste. Sogar nach seiner Freilassung galten für ihn strenge Kontaktbeschränkungen. Amnesty International betrachtete ihn als »gewaltlosen politischen Gefangenen, der lediglich sein Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit wahrgenommen hat«. Verbündete Israels vermieden dennoch jede Kritik an dieser Praxis.
In England arbeitete Katharine Gun als Übersetzerin für den britischen Geheimdienst. Kurz vor dem durch staatliche Lügen angezettelten Krieg der USA, Großbritanniens und der »Koalition der Willigen« gegen den Irak brachte die junge Frau Dokumente an die Öffentlichkeit, die Staatsverbrechen aufdeckten: Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sollten durch Geheimdienste der USA und Englands ausspioniert werden, um sie durch Erpressung zur Zustimmung zum Irakkrieg zu zwingen. Hier wollte also eine junge Angestellte einen Angriffskrieg der westlichen Verbündeten verhindern – ohne Erfolg. Aus taktischen Gründen wurde später der Prozess gegen sie eingestellt: Vermutlich wollte man das Bekanntwerden weiterer Belege für illegale Handlungen des Staates vermeiden.
In einigen Fällen bedarf es jahrelanger aufreibender Arbeit gegen eine Phalanx staatlicher und privatwirtschaftlicher Stellen und Personen, um dunkle Machenschaften und Verbrechen aufzudecken. So etwa im Fall des »Finanzdienstleisters« Wirecard, der mit Schmuddelgeschäften (Porno, Glücksspiel) begonnen hatte, um dann mit enormer krimineller Energie in den DAX aufzusteigen. Trotz massiver Verdachtsmomente gegen den Konzern engagierten sich Ole von Beust (CDU, ehemaliger Hamburger Bürgermeister), Kai Dieckmann (Ex-Bild-Chefredakteur), Klaus-Dieter Fritsche (CSU, Ex-Staatssekretär im Bundeskanzleramt, zuständig für Geheimdienste) und der notorische Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU, Ex-Verteidigungsminister) für die Firma – bis hin zu Bundeskanzlerin Merkel, die in China für Wirecard lobbyierte. Die Bundesanstalt für Finanzdienstaufsicht (BaFin) hielt die schützende Hand ebenso über die Verbrecher wie der internationale Wirtschaftsprüfungskonzern EY. Die Whistleblower, die die kriminellen Milliardengeschäfte an die Öffentlichkeit zu bringen drohten, überzog man mit Rufmord oder auch Gewalt. Der kenntnisreiche Zeuge Kilian Kleinschmidt brachte die Kumpanei damit in Zusammenhang, dass Wirecard als »Finanzierungsdarknet für Milizen und (Geheim)Dienste« fungierte.
Umfangreich wäre die Aufzählung auch nur der wichtigsten Fälle von Whistleblowing, die Staats-, aber auch Wirtschaftsverbrechen – die Grenzen sind nicht scharf zu ziehen – aufdeckten (und zunächst stets als Verschwörungstheorien abgetan wurden): LuxLeaks (Steuerverbrechen unter dem späteren EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker), Drohnenmorde der USA (aufgedeckt durch Brandon Bryant), Cambridge Analytica (Datenkonzern u.a. für systematische Wahlbeeinflussung), CumCum und CumEx (Steuerverbrechen mit Schadenssumme von ca. 150 Milliarden Euro) und natürlich der erschütternde Fall von Chelsea Manning, die Informationen über Kriegsverbrechen der USA an Wikileaks weitergab; dessen Gründer, der Journalist Julian Assange, wird seit elf Jahren mit falschen Anschuldigungen, massiven kriminellen Staatsaktionen, psychischer Folter bis hin zu Mordplänen gequält. Und Edward Snowden muss im Moskauer Exil leben – Deutschland hatte es abgelehnt, ihn aufzunehmen –, seitdem er die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken der Staaten USA (Geheimdienst NSA) und Großbritannien aufgedeckt hat.
Überall in der Welt nehmen mutige Menschen unsagbare Opfer auf sich, um Verbrechen des Staates oder großer Konzerne aufzudecken oder zu verhindern. Dabei handelt es sich keineswegs nur um gesetzwidrige, kriminelle Machenschaften wie etwa beim Dieselskandal, sondern oft um das gewöhnliche Funktionieren der Weltwirtschaft und der militärischen Expansion. Genau diese »regelbasierte« (wer setzt die Regeln fest?) Wirtschafts-, Militär- und Handelspolitik schafft ja die Klimakatastrophe, die völkerrechtswidrigen Kriege und die erpresserischen Handelsbedingungen, die zu Lasten der ohnehin Armen gehen.
Leider bewirken Whistleblower selten grundsätzliche Veränderungen. Längst hat sich ein Teil der Bevölkerung daran gewöhnt, dass man über den Tisch gezogen, angelogen und betrogen wird. Der Kauf von Einfluss auf die Politik ist in Deutschland legal, sagt die kritische Internetplattform Abgeordnetenwatch. Berliner Flughafen, Elbphilharmonie, Stuttgart 21, Maskendeals, von Konzernen diktierte Gesetze, ausbeuterischer Wohnungsmarkt – all das ist bekannt und entlockt den meisten nur noch ein müdes Abwinken oder ein zynisches Auflachen: Das soll sozialer Rechtsstaat und Demokratie sein? Einzelne Skandale wie etwa die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sorgen kurz für empörte Berichte, um dann wieder der Amnesie anheimzufallen – besonders bei den Verantwortlichen in Politik und Konzernen. Was tun, wenn man feststellt, dass die forcierte Privatisierung der Kliniken, Autobahnen oder der Rente auf wundersame Weise immer nur »denen da oben« Vorteile bringt? Und dass staatliche Instanzen einschließlich höchster Gerichte dafür sorgen, dass die Mieten unbezahlbar werden und im Alter Armut droht? Die Machtelite verspielt jedes Vertrauen, um sich dann besorgt zu zeigen über Verrohung, Fakes und Aggressivität.
Endlich wird auch die allgegenwärtige Manipulation durch die mächtigen Digitalkonzerne – im aktuellen Fall durch Facebook – thematisiert. Auch hierbei musste eine Whistleblowerin, Frances Haugen, an die Öffentlichkeit gehen. Zwar wirken die Enthüllungen teilweise naiv und banal: »Facebook habe gezeigt, dass der eigene Gewinn wichtiger ist als die Sicherheit und das Wohl der Gesellschaft.« Für wen ist denn diese Erkenntnis noch ein Aufsehen erregender Skandal? Immerhin zeigt die Insiderin aber auch, dass Hass erzeugende, polarisierende Inhalte durch die Facebook-Algorithmen höher bewertet und damit bestärkt werden als andere. Wenn die Hinweise nicht vertieft, die Praktiken der Tech-Konzerne genauer analysiert werden, so werden sie demnächst versanden, ohne dass die gigantische finanzielle, politische und manipulative Macht auch nur angekratzt wird.
Ja, WhistleblowerInnen sind Helden, die sich in ihrem Handeln durch eine altmodische Instanz namens Gewissen leiten lassen. Sie nehmen Opfer auf sich, gefährden manchmal ihre Existenz. Die Gesellschaft ist auf sie angewiesen, denn viele menschen- und völkerrechtswidrige oder auch »nur« unmenschliche Handlungen von Institutionen wirken im gesellschaftlichen Unterbewusstsein. Leben mit der Lüge und der Ungerechtigkeit: Wer glaubt etwa, dass die NSU-Morde und die Verwicklung staatlicher Stellen wirklich aufgeklärt sind? Dass sich die Minister in Untersuchungsausschüssen der Wahrheit verpflichtet fühlen? Dass Deutschland und die EU die Menschenrechte und das Völkerrecht respektieren? Dass Gewalt der Polizei verfolgt und Nazistrukturen in der Bundeswehr und in Geheimdiensten aufgeklärt werden? Dass der Bundesnachrichtendienst die vorher heuchlerisch verdammte Spionagesoftware Pegasus zwar gekauft, aber unwirksam gemacht hat, wie offiziell behauptet wird?
Immerhin hatte die EU im Jahr 2019 Richtlinien zum Schutz von Hinweisgebern formuliert. Bis zum Dezember 2021 sollten sie in nationale Gesetze gegossen werden. Bisher kam dem kein Land nach, auch Deutschland nicht. Ja, dieses Land hat Whistleblower – und investigativen Journalismus! – nötig.